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Neue europaweite Sozialsysteme für Flüchtlinge

Summary:
Wie kann man den derzeit nach Europa strömenden Flüchtlingen helfen, ohne die bestehenden Sozialsysteme zu stark zu belasten? Dieser Beitrag schlägt hierfür europaweite eigene Sozialsysteme für Flüchtlinge vor, die von freiwilligen Beiträgen alimentiert werden. Somit wird die hohe private Hilfs- und Zahlungsbereitschaft abgeschöpft, unabhängig von nationalstaatlichen Grenzen. Europa zeigt sich gespalten. Flüchtlingsheime brennen, Grenzen werden dicht gemacht, Zäune gezogen. Der Flüchtlingszustrom erregt die Gemüter und stellt die europäischen Völker und Sozialsysteme unter einen Belastungstest. Teile der Bevölkerung fühlen sich von den Geflohenen ausgenutzt oder bedroht. Gleichzeitig engagieren sich Bürger überall in Europa so stark wie selten zuvor für Neuankömmlinge. Flüchtlinge werden an den Bahnhöfen herzlich empfangen und versorgt. Laut einer Emnid Umfrage für die "Bild am Sonntag" sind rund 26% der Deutschen bereit, einen Flüchtling bei sich zuhause einzuquartieren. Bei 40 Mio. deutschen Haushalten könnten so - wenn die Zahlen stimmen - 10 Mio. Flüchtlinge untergebracht werden. Politiker finden sich in einem Spagat wieder – helfen sie zu viel, so riskieren sie ein Erstarken rechtsradikaler Parteien, helfen sie zu wenig, wird ihnen Unmenschlichkeit vorgeworfen. Die Folge ist eine peinliche Politik des Feilschens: Der europäische Beschluss vom Sommer, 40.

Topics:
Bruno S. Frey, Armin Steuernagel considers the following as important:

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Wie kann man den derzeit nach Europa strömenden Flüchtlingen helfen, ohne die bestehenden Sozialsysteme zu stark zu belasten? Dieser Beitrag schlägt hierfür europaweite eigene Sozialsysteme für Flüchtlinge vor, die von freiwilligen Beiträgen alimentiert werden. Somit wird die hohe private Hilfs- und Zahlungsbereitschaft abgeschöpft, unabhängig von nationalstaatlichen Grenzen.

Europa zeigt sich gespalten. Flüchtlingsheime brennen, Grenzen werden dicht gemacht, Zäune gezogen. Der Flüchtlingszustrom erregt die Gemüter und stellt die europäischen Völker und Sozialsysteme unter einen Belastungstest. Teile der Bevölkerung fühlen sich von den Geflohenen ausgenutzt oder bedroht.

Gleichzeitig engagieren sich Bürger überall in Europa so stark wie selten zuvor für Neuankömmlinge. Flüchtlinge werden an den Bahnhöfen herzlich empfangen und versorgt. Laut einer Emnid Umfrage für die "Bild am Sonntag" sind rund 26% der Deutschen bereit, einen Flüchtling bei sich zuhause einzuquartieren. Bei 40 Mio. deutschen Haushalten könnten so - wenn die Zahlen stimmen - 10 Mio. Flüchtlinge untergebracht werden.

Politiker finden sich in einem Spagat wieder – helfen sie zu viel, so riskieren sie ein Erstarken rechtsradikaler Parteien, helfen sie zu wenig, wird ihnen Unmenschlichkeit vorgeworfen. Die Folge ist eine peinliche Politik des Feilschens: Der europäische Beschluss vom Sommer, 40.000 Flüchtlinge auf freiwilliger Basis auf die Staaten zu verteilen, wurde noch immer nicht umgesetzt. Gerade einmal für 32.256 Flüchtlinge konnten Aufnahmezusagen abgegeben werden, um die restlichen 7.744 wird noch geschachert. So enorm die freiwillige Hilfe auf individueller Ebene überall in Europa zu sein scheint, auf staatlicher Ebene versagt sie.

Das ist nicht weiter verwunderlich. Schließlich entscheiden Politiker, wenn sie Flüchtlingen staatlich helfen möchten, über die Ressourcen und Steuergelder aller Bürger, auch derer, die sich in Umfragen gegen Flüchtlingshilfen aussprechen. Die diametral gegenüberstehenden Präferenzen der Bürger sind schwer in sinnvollen Politiken zu vereinen und die beschriebenen Verteilungsschwierigkeiten daher nachvollziehbar.

Nötig und viel hilfreicher wären Lösungswege, welche die vorhandene individuelle freiwillige Hilfsbereitschaft ausschöpfen und Unwillige nicht zu Hilfeleistungen zwingen. Zwang führt – so zeigen uns die Ereignisse der letzten Monate - langfristig nur zu Aggression gegen die Hilfeempfangenden.

Ein neuer Ansatz, den wir hier vorschlagen, geht dieser Problematik aus dem Weg und kann nachhaltige Hilfe sicherstellen. Wir schlagen europaweite eigene Sozialsysteme für Flüchtlinge (Social Security Net for Refugees, kurz SSNR) vor, die durch freiwillige Steuern, Abgaben und voll steuerabzugsfähige Spenden der Bürger, sowie durch Einzahlungen der Geflüchteten gespeist werden. Damit ein SSNR genügend groß ist, um die notwendigen Ausgaben zu tätigen, soll eine Mindesteinnahme durch freiwillige Einzahlungen festgelegt werden. Wird diese Geldsumme nicht erreicht, werden die Beiträge den Einzahlern zurückerstattet.

Ein SSNR würde (a) für alle Kosten bei der Ankunft der Flüchtlinge aufkommen und (b) später die Leistungen erbringen, die normalerweise die verschiedenen nationalen Sozialsysteme erbringen (Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung, Bildungsausgaben usw.). Geflüchtete würden, wenn sie arbeiten, statt in die normalen nationalen Sozialsysteme, in ihr SSNR einzahlen und daraus im Bedarfsfall die Leistungen beziehen. Es könnte eine Vielzahl verschiedener solcher SSNRs geben, mit unterschiedlichen Leistungsschwerpunkten und für unterschiedliche Personengruppen (z.B. gruppiert nach Herkunftsländern, Berufen oder speziellen Präferenzen). Dadurch könnte ein Staat, ohne sein gegenwärtiges Sozialsystem direkt zu belasten, Flüchtlinge aufnehmen - so viele, wie individuelle Hilfsbereitschaft vorhanden ist und Geflüchtete sich gegenseitig stützen können. Die SSNRs könnten, da sie nationalstaatsunabhängig sind, EU-weit operieren, d.h. den Flüchtlingen EU-weite Mobilität geben. Geflüchtete würden nicht mehr zwangsversetzt in Länder, die zwar laut Quoten o.ä. mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen, in denen aber weder ihre Verwandten wohnen noch Chancen auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind. Ein SSNR ist also eine non-territoriale Jurisdiktion – ein Zusammenschluss von Menschen, die sich gegenseitig (mit der Hilfe von anderen), unabhängig von ihrem Aufenthaltsort, gewisse Sozial- oder Gesundheitsleistungen zugestehen.

Durch die Nicht-Territorialität sind SSNRs auch die beste Vorbereitung für die eventuelle Rückkehr vieler Menschen in ihre Herkunftsländer. Sollte z.B. Syrien in fünf Jahren wieder befriedet sein und viele Syrer heimkehren wollen, so könnten sie ihr in der EU aufgebautes Sozialsystem nach Syrien mitnehmen und weiternutzen. Das System wäre theoretisch für alle Syrer, egal wo auf der Welt sie leben, nutzbar. Damit würden wir schon jetzt mit wertvoller Wiederaufbauarbeit beginnen.

Eigene Sozialsysteme für Flüchtlinge würden ermöglichen, dass die Bürger, die sich dazu entschließen, helfen und zahlen, während radikalen Gruppierungen die Grundlage für ausländerfeindliche Agitationen genommen würde. Statt one-size-fits-all-Politiken würden SSNRs einerseits den unterschiedlichen Präferenzen und Zahlungsbereitschaften der Bürger gerecht, aber andererseits auch den verschiedenen Bedürfnissen der Flüchtlinge, die in unterschiedlichste SSNRs eintreten könnten.

Mit SSNRs sollen keine Sozialsysteme zweiter Klasse geschaffen werden. Es geht nicht um niedrigere Zahlungen oder schlechtere soziale Absicherung, sondern um eine Flexibilisierung der Einzahlungs- und Auszahlungsmöglichkeiten.

Die skizzierte Richtung verträgt sich nur ungut mit den zurzeit diskutierten Vorschlägen für feste Flüchtlingsquoten pro Nationalstaat. Diese können den unterschiedlichen Präferenzen in den verschiedenen Staaten nicht gerecht werden. In allen Ländern – auch in Ungarn – gibt es zahlungs- und hilfsbereite Bürger. Statt Länder als Ganzes zur Mithilfe zu zwingen, sollte die vorhandene Hilfsbereitschaft mittels flexiblen dezentralen Systemen genutzt und effizient verteilt werden. Durch SSNRs können so einfacher und gewaltloser deutlich mehr Mittel zur Verfügung stehen. Auch alle politischen Streitereien bzgl. den Dublin-Abkommen wären passé. Flüchtlinge würden einem SSNR beitreten können, wenn dieser genügend Mittel hat, die von Bürgern jeder beliebigen Nationalität kommen können. Es wäre nicht nötig, die Mobilität der Flüchtlinge einzuschränken und damit die Personenfreizügigkeit einzuschränken. Europa kann mit diesen neuen Sozialsystemen, durch die Solidarität der einzelnen Bürger statt der nationalen Eliten, zeigen, welche Werte es wirklich leben möchte. Die Einheit Europas liegt nicht in Brüssel, sondern bei den freiwilligen Beiträgen jedes Einzelnen.

©KOF ETH Zürich, 6. Okt. 2015

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