Photo: 7C0 from Flickr (CC BY 2.0) Politiker wissen, wem sie ihre Jobs verdanken. Und sie wissen, wer sie wieder ins Amt bringen wird. Das Nachsehen haben diejenigen, die (noch) keine (relevante) Wählerstimme zu vergeben haben. Dabei brauchen die oft wirklich Hilfe – anders als diejenigen, die am lautesten schreien. Rentnerdominanz 34 Prozent holten die Sozialdemokraten bei der letzten Bundestagswahl. Zumindest in der Wählergruppe der über 60jährigen. Damit hatten sie womöglich erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Union in dieser Gruppe überholt. Vorbei die Zeiten der „Willy-Wahl“ vor 50 Jahren, als die Jugend des Landes sich begeistert um Kanzler Brandt scharte. Bei den unter 45jährigen konnte die Partei im Schnitt nur 17 Prozent holen. Nein, die grauen Schläfen wechselten
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Politiker wissen, wem sie ihre Jobs verdanken. Und sie wissen, wer sie wieder ins Amt bringen wird. Das Nachsehen haben diejenigen, die (noch) keine (relevante) Wählerstimme zu vergeben haben. Dabei brauchen die oft wirklich Hilfe – anders als diejenigen, die am lautesten schreien.
Rentnerdominanz
34 Prozent holten die Sozialdemokraten bei der letzten Bundestagswahl. Zumindest in der Wählergruppe der über 60jährigen. Damit hatten sie womöglich erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Union in dieser Gruppe überholt. Vorbei die Zeiten der „Willy-Wahl“ vor 50 Jahren, als die Jugend des Landes sich begeistert um Kanzler Brandt scharte. Bei den unter 45jährigen konnte die Partei im Schnitt nur 17 Prozent holen. Nein, die grauen Schläfen wechselten scharenweise die Seiten und sorgten dafür, dass die Partei von Kanzler Scholz die Nase leicht vorne hatte. „Kanzler für stabile Renten“ war auf einem der Plakate zu lesen, das kurz vor dem Wahltermin plötzlich an jedem sechsten Laternenpfahl der Republik prangte. Wie schon in den Pandemie-Jahren entschied man sich in der Wahlkampfzentrale offenbar auch im Sommer 2021, dass wieder der entscheidende Maßstab für alle Entscheidungen der älteste Teil der Bevölkerung sein solle. Es hat sich ausgezahlt.
Derzeit kursieren Zahlen, mit welchen Erhöhungen Rentner im gerade begonnen Jahr rechnen dürfen. Mit einer Rente von 2.000 Euro kann man auf ein Plus von 70 bis 92 Euro spekulieren. Wer nur 500 Euro erhält, darf auf 17,50 bis 21,00 mehr hoffen. Na, immerhin ist damit der Rundfunkbeitrag gedeckt … Diese nackten Zahlen sagen natürlich noch nicht besonders viel aus. Hinter den 2.000 Euro steckt womöglich eine Chemikerin, die Spielschulden ihres Mannes ausgleichen muss. Und die 500 Euro gehen durchaus auch an Menschen, die mit einem netten Nebenjob ganz zufrieden waren, weil sie durch Erbe oder Ehepartner an sich schon bestens versorgt waren. Klar ist jedenfalls: Es gibt in unserem Land viele ältere Menschen, die unter erheblichem finanziellem Druck stehen. 650.000 Rentner bekommen die Grundsicherung; fast jeder sechste im Rentenalter hat weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung zur Verfügung und ist damit armutsgefährdet.
Unterschätzte Dimensionen
Nicht nur aus moralischen Erwägungen heraus will man eine solche Situation verhindern. Auch aus pragmatischen Gründen will man vielleicht vermeiden, dass sich die Bilder von Seniorinnen bei der Essensausgabe der Tafel in die Gehirne ihrer Enkel oder die Drama-Dokus von RTL 2 einbrennen. Doch bei der Dramatik solcher Situationen gerät aus dem Blick, dass über 80 Prozent der Rentenempfänger nicht armutsgefährdet sind. Man vergisst, dass das Rentnerdasein nicht notwendigerweise prekär ist, sondern dass viele Menschen mit ihrer wohlverdienten Rente ein recht ordentliches Auskommen haben, ja, vielleicht auch noch weitere Einnahmequellen anzapfen können. Die Rentenerhöhungen gehen aber pauschal an alle raus. Das hat natürlich rechtliche Gründe, weil diese Ansprüche auf Verpflichtungen basieren, die der Staat mit unserem fragwürdigen Rentensystem eingegangen ist. Aber an diesem System würde auch fast kein Politiker etwas ändern wollen. Schließlich gibt es einem die großartige Möglichkeit, die Wählerschaft zu pflegen.
Die staatliche Mitfinanzierung der Rentenerhöhungen ist alles andere als Peanuts. 2021 hat der Bund 78,9 Milliarden Euro auf die Rentenbeiträge draufgelegt (zum Vergleich: 2011 waren es 58,9 Mrd. und 1996 32,3 Mrd.). Das ist fast vier Mal so viel wie der Etat des Bundesforschungsministeriums. Oder um die Dimension noch anschaulicher zu machen: Der Bund legt pro Jahr bald 80 Milliarden auf die schon bestehenden Renten drauf. Zugleich werden in Deutschland pro Jahr von öffentlichen Stellen, vor allem aber von Familien und Eltern 57 Milliarden Euro aufgebracht, um Kitas und Kindergärten zu finanzieren. An dieser Stelle lohnt es sich – wieder um der Dimension Willen – festzuhalten, dass die Grundrente, die ja den wirklich besonders Bedürftigen zugutekommt, jährlich mit 1,3 bis 1,5 Milliarden Euro zu Buche schlägt.
Amerikanische Verhältnisse bald in Deutschland?
Wir befinden uns offensichtlich in einem eklatanten Ungleichgewicht. Während die Rentenerhöhungen generell als dringend benötigte Errungenschaften für eine pauschal sozialschwache Gruppe vermarktet werden, gibt es andere Gruppen, die sich nur mit den Brosamen von Sonntagsreden zufriedengeben müssen, weil sie keine (Wahl-)Stimme haben, die von Relevanz wäre. Keine hörbare Stimme haben die Kinder, deren Eltern mit ihren eigenen Problemen so beschäftigt sind, dass ihnen Zeit und Kraft für die ihnen Anvertrauten fehlt. Keine hörbare Stimme haben die frisch eingetroffenen Flüchtlinge aus Charkiw, Khartum und Kabul (die an der richtigen Stelle womöglich unserem maroden Rentensystem etwas auf die Sprünge helfen können). Keine hörbare Stimme haben die jungen Familien, die aufgrund des Riesenmurks aus Verhinderungsmentalität, Überregulierung und Hyperinterventionismus auf dem Mietmarkt an keine vernünftigen Wohnungen mehr kommen.
Wir klopfen uns gerne auf die Schultern mit unserem Wohlfahrtsstaat und feiern dessen Erfolge im Kampf gegen Armut. „Wir haben keine amerikanischen Verhältnisse!“ Wir sind allerdings auf dem Weg in amerikanische Verhältnisse: Im Jahr 2015 wurden in den USA pro Kopf 9.734 Dollar für soziale Zwecke ausgegeben, in Deutschland 10.598. Das Problem in den USA – und in die Richtung geht es bei uns auch – ist die gigantische Ineffizienz des Systems. Die Wurzel des Übels liegt darin, dass man keine kluge Sozialpolitik betreibt, die den wirklich Armen einen Weg aus der Not ebnet. Vielmehr ist Sozialpolitik eines der liebsten Instrumente zur Sicherung von Wählerstimmen in demographischen Gruppen, die auch ohne die gönnerhafte Hand von Vater Staat ganz gut um die Runden und durchs Leben kommen würden. Wer sich für die tatsächlich Armen interessiert, muss große Mühe aufwenden, um im lauten Gezeter der angeblich Benachteiligten die stummen Rufe derer zu vernehmen, die mit unserer Hilfe ihr Leben wirklich zum Besseren wenden könnten.