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Man kann nicht alles haben

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Photo: Wikimedia Commons (CC 0) Häufig sind scheinbare Zwänge nur die Folge individueller Prioritätensetzung. Das zeigen die Debatten über „bezahlbare“ Wohnungen und stagnierende Löhne – und die Geschichte des Bostoner Barbiers Leo, der seinen amerikanischen Traum lebt. Leo, der Bostoner Barbier Seit Kurzem wohne ich in Boston. Wie in jeder neuen Stadt, in die ich ziehe, ging ich direkt und voller Hoffnung auf ein langfristiges Vertrauensverhältnis auf die Suche nach einem neuen Barbier. Schließlich haben Barbiere für mich einen ähnlichen Stellenwert wie für manch andere der seit der Kindheit bekannte Zahnarzt. Dabei lernte ich Leo kennen. Leo ist nicht nur ein ganz wunderbarer Barbier, er erzählte mir auch eine erstaunliche Lebensgeschichte. Im Herbst 2019 kam er aus Brasilien in die USA.

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Häufig sind scheinbare Zwänge nur die Folge individueller Prioritätensetzung. Das zeigen die Debatten über „bezahlbare“ Wohnungen und stagnierende Löhne – und die Geschichte des Bostoner Barbiers Leo, der seinen amerikanischen Traum lebt.

Leo, der Bostoner Barbier

Seit Kurzem wohne ich in Boston. Wie in jeder neuen Stadt, in die ich ziehe, ging ich direkt und voller Hoffnung auf ein langfristiges Vertrauensverhältnis auf die Suche nach einem neuen Barbier. Schließlich haben Barbiere für mich einen ähnlichen Stellenwert wie für manch andere der seit der Kindheit bekannte Zahnarzt. Dabei lernte ich Leo kennen. Leo ist nicht nur ein ganz wunderbarer Barbier, er erzählte mir auch eine erstaunliche Lebensgeschichte. Im Herbst 2019 kam er aus Brasilien in die USA. Ohne ein Wort Englisch zu sprechen und mit seinen zwei Kindern und seiner Frau im Schlepptau. Leo erwischte einen grauenhaften Start im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, denn kurz nach seiner Ankunft begann die Covid-Pandemie. Nichts mit Barbier. Er verdingte sich als Landschaftsgärtner und Bauarbeiter, lernte abends in Online-Kursen Englisch. Schließlich fand er einen Job als Barbier bei mir um die Ecke. Geschlagene zwei Auto-Stunden von seinem Wohnort entfernt und mit 12-Stunden-Schichten. Doch während des Erzählens grinste Leo wie ein Honigkuchenpferd. Er ist glücklich, dass er jeden Tag seiner Leidenschaft nachgehen kann, im Grünen wohnt, und seinen Kindern auch noch eine Zukunft in den USA ermöglicht. Eine Lehrstunde in Sachen Prioritätensetzung.

Prioritätensetzung – Eine vergessene Kunst des Menschen

Güter sind begrenzt, Bedürfnisse sind unendlich. Das ist vielleicht der grundlegendste Satz der Ökonomik. Und er gilt unabhängig vom Vermögen. Zwar erweitern sich die ökonomischen Möglichkeiten mit steigendem Einkommen sukzessive. Aber selbst ein Elon Musk kann nicht alles haben. Mit wachsender Güterausstattung verschieben sich nur die Ziele und Möglichkeiten. Während Otto Normalbürger vielleicht von einer Wohnung auf Mallorca träumt, träumt Musk von einer Kolonie auf dem Mars.

Dass Güter im Gegensatz zu Bedürfnissen begrenzt sind, ist der Ursprung allen ökonomischen Handelns. Es ist der Grund, warum Adam Smith der menschlichen Natur „the propensity to truck, barter, and exchange“ (die Neigung zum Handeln, Verhandeln und Tauschen) zuschreibt. Denn wir versuchen stets, unsere ökonomische Ausgangsposition zu verbessern. Und am besten geht das nun mal in Kooperation mit anderen. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass jeder Mensch auf der Welt das Leben von Elon Musk führen möchte. Denn während Güterknappheit universell ist, sind Präferenzen individuell. Es gibt keine zwei Menschen auf der Welt mit den exakt gleichen Präferenzen.

Die Quintessenz ist, dass Menschen, ob sie es wollen oder nicht, permanent ökonomisch handeln. Auf Grundlage der uns zur Verfügung stehenden Güter und unserer Präferenzen treffen wir eine Myriade von Entscheidungen. Dabei setzen wir Prioritäten. Die wohl bekannteste Form der Prioritätensetzung ist das Sparen. Wir verzichten auf gegenwärtigen Konsum von Gut X, um uns in der Zukunft Gut Y leisten zu können. So profan das klingt, es ist eine faszinierende menschliche Eigenschaft. Versuchen Sie diesen Gratifikationsverzug mal ihrem Hund oder ihrem zweijährigen Kind beizubringen. Ebenso viel Verständnis für das Thema Prioritätensetzung wie bei diesen Lebewesen findet sich leider derzeit in den deutschen Debatten um Mietpreise oder Reallohnstagnation.

„Bezahlbare“ Wohnungen: Lage kostet!

„Suche: 3 Zimmer Altbauwohnung, top saniert, im Zentrum von Berlin, ruhig, in der Nähe guter Schulen und mit guten Einkaufsmöglichkeiten, nicht mehr als 1.000 Euro warm“. Selbst Nicht-Berliner werden wissen, wie utopisch dieses Wohnungsgesuch ist. Denn die Nachfrage nach Wohnungen dieser Art (sollte es sie überhaupt geben) ist derart groß, dass die Gütermenge, die die wohnungssuchende Person bereit ist, dafür einzutauschen (1.000 Euro pro Monat), viel zu gering ist. Sicher, viele Berliner Familien, die verzweifelt nach Wohnungen suchen, haben weitaus weniger weltfremde Vorstellungen.

Was allerdings oft bei der gesamten Diskussion um „bezahlbare“ Wohnungen in Vergessenheit gerät: Standort ist einer der zentralen Faktoren für die Bestimmung der Miete. Schließlich wäre im Zentrum von Frankfurt (Oder) eine solche Wohnung zu einem solchen Preis vermutlich zu bekommen. Wer in Friedrichshain, Mitte oder Schöneberg leben will, der setzt eine (große) Priorität auf den Standort seiner Wohnung und muss dafür vielleicht auf andere Dinge verzichten. Dass viele andere Menschen das derzeit auch machen und es deshalb immer teurer wird, ist für den Einzelnen bitter. Gerade, wenn er sich aufgrund der hohen Nachfrage das zentrale Wohnen überhaupt nicht mehr leisten kann. Deshalb aber zu fordern, dass durch politische Eingriffe die Preise für Wohnungen in exklusiven Lagen gesenkt werden, wäre genauso wie zu fordern, Jugendstilvillen in Berliner Vororten „bezahlbar“ zu machen.

Wohnen ist wie jede andere ökonomische Entscheidung eine Frage der individuellen Möglichkeiten und der Prioritätensetzung. Und Lage kostet nun mal. Ebenso wie Größe, Balkone oder ebenerdige Duschen. Andersherum gilt: Der Prenzlauer Berg in Berlin oder Eppendorf in Hamburg hätten niemals eine so beispiellose Aufwertung erfahren, hätte Prioritätensetzung (günstige, gut gelegene, aber dafür heruntergekommene Wohnungen) nicht irgendwann viele neue Bewohner in die Quartiere gespült. Tatsächlich egalisiert der Wohnungsmarkt mit seinem Priorisierungsdruck und wertet immer wieder neue Viertel auf, anstatt bestehende Unterschiede zu manifestieren.

Reallohnstagnation: Deutschland ist das Land des Freizeitreichtums

Zweites Beispiel: Reallohnstagnation. 1994 war das reale Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland in etwa so hoch wie in den USA. Seitdem ist es in Deutschland kaum gewachsen, in den USA hingegen gewaltig. Mittlerweile liegt das kaufkraftbereinigte Einkommen des durchschnittlichen US-Amerikaners rund 20 Prozent über dem eines Deutschen. Das nominale (also nicht bereinigte) Einkommen ist sogar ganze 20.000 US-Dollar pro Jahr höher. Wie ungerecht! Das riecht nach Ausbeutung.

Gleichzeitig werden in kaum einem anderen Land so wenige Stunden pro Jahr gearbeitet, wie in Deutschland. 35-Stunden-Woche und durchschnittlich 32 Urlaubstage im Jahr lassen grüßen. Zum Vergleich: Der durchschnittliche US-Amerikaner nimmt pro Jahr 10 Tage bezahlten Urlaub und arbeitet aufs Jahr gerechnet ganze 400 Stunden (1765 vs. 1354) mehr! Seit 1994 arbeiten Amerikaner im Schnitt 50 Stunden pro Jahr weniger, Deutsche dafür fast 200.

Natürlich sind die Gründe für die Reallohnstagnation nicht eindimensional. Explodierende Lohnnebenkosten und Überregulierung des Arbeitsmarktes spielen mit Sicherheit auch eine Rolle. Dennoch schafft es kaum ein anderes Land, das nicht über extensive Rohstoffvorkommen verfügt, mit so wenig Arbeitszeit so viel Einkommen zu erwirtschaften. Der Reallohn mag seit geraumer Zeit stagnieren, aber auch das ist eine Frage der Prioritätensetzung. Der durchschnittliche Deutsche priorisiert mehr Freizeit über mehr Geld.

Von Leo lernen heißt glücklich sein

Ja, man kann nicht alles haben. Und das ist manchmal frustrierend. Aber häufig sind es keine bösen Mächte oder perversen Märkte, die einen in einen bestimmten Zustand zwingen. Man ist es selbst. Leo der Barbier fährt jeden Tag 4 Stunden Auto, weil die Mieten in Boston im Vergleich astronomisch sind und er gerne im Grünen wohnt. Dann arbeitet er 12 Stunden, um seinen Kindern eine Zukunft zu ermöglichen und weil er seinen Job liebt. Er weiß, warum er das macht, und ist damit glücklich. Er hätte auch in Brasilien bleiben können und müsste sich dann wenigstens nicht mit dem eiskalten Bostoner Winter herumschlagen. Er hat eine Entscheidung getroffen und übernimmt Verantwortung dafür. Wer angesichts ökonomischer Zwänge immer gleich nach Vater Staat ruft, gibt die Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und die daraus entstehenden Konsequenzen Schritt für Schritt ab. Das macht nicht nur ohnmächtig, es macht auch unheimlich traurig.

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