Der Ukrainekrieg wird oft als Zeitenwende bezeichnet, also als Ereignis, mit dem eine Ära endet und eine neue beginnt. Deutschland gilt dabei als eines der Länder, die sich umstellen müssen. Die Juristin und Politikwissenschaftlerin Constanze Stelzenmüller hat das Wirtschaftsmodell Deutschland so charakterisiert: Das Land habe sein Wirtschaftswachstum nach China ausgelagert, seine Energieversorgung nach Russland und seine Sicherheitspolitik in die USA. Das ist zugespitzt, aber nicht von der Hand zu weisen. Was ist zu tun? Der Wohlstand in Deutschland hängt in der Tat stärker als in anderen Ländern vom Außenhandel ab. Die Exporte entsprechen rund 40 % des Bruttoinlandsprodukts. Das ist für ein Land dieser Größe ungewöhnlich viel. Der Anteil des Handels mit China beträgt 10 % des
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Der Ukrainekrieg wird oft als Zeitenwende bezeichnet, also als Ereignis, mit dem eine Ära endet und eine neue beginnt. Deutschland gilt dabei als eines der Länder, die sich umstellen müssen. Die Juristin und Politikwissenschaftlerin Constanze Stelzenmüller hat das Wirtschaftsmodell Deutschland so charakterisiert: Das Land habe sein Wirtschaftswachstum nach China ausgelagert, seine Energieversorgung nach Russland und seine Sicherheitspolitik in die USA. Das ist zugespitzt, aber nicht von der Hand zu weisen. Was ist zu tun?
Der Wohlstand in Deutschland hängt in der Tat stärker als in anderen Ländern vom Außenhandel ab. Die Exporte entsprechen rund 40 % des Bruttoinlandsprodukts. Das ist für ein Land dieser Größe ungewöhnlich viel. Der Anteil des Handels mit China beträgt 10 % des gesamten deutschen Außenhandels. Das scheint überschaubar. Allerdings ist China damit der wichtigste Handelspartner Deutschlands und zumindest bislang ein schnell wachsender Markt. China ist das beste Beispiel dafür, dass der Trend zu wachsenden geopolitischen Einflüssen auf den internationalen Handel für Deutschland erhebliche wirtschaftliche Risiken beinhaltet. Bislang beruhte die Außenhandelspolitik Deutschlands und der EU insgesamt auf der Vorstellung, dass es uns besser geht, wenn der Wohlstand in China steigt, weil dann auch die Potenziale für Kapitalströme und Handel zunehmen. Das spricht für weitere Marktöffnung, selbst wenn man nicht erwartet, dass Handel auch politischen Wandel zu mehr Demokratie und Achtung von Menschenrechten nach sich zieht. In den letzten Jahren wuchsen die Sorgen, dass die Abhängigkeit von China Deutschland erpressbar machen könnte. Allerdings ist China gleichermaßen vom Handel mit Europa abhängig. Beidseitige Abhängigkeiten sind weniger problematisch als einseitige.
Aus zwei Gründen könnte es in Zukunft dennoch zu einer spürbaren Beeinträchtigung der Wirtschaftsbeziehungen kommen. Zum einen unterstreicht der Ukrainekrieg die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA. Die USA sehen China als geopolitischen Konkurrenten und sind der Auffassung, dass es ihnen eher schlechter geht, wenn der Wohlstand in China steigt. Denn damit nimmt auch das militärische und politische Gewicht Chinas zu. Deshalb werden die USA Europa verstärkt unter Druck setzen, den wirtschaftlichen Austausch mit China zu begrenzen. Falls China sich sogar entscheiden sollte, Russland im Ukrainekrieg offen zu unterstützen, wären Sanktionen gegen China unausweichlich. Zum anderen wird China selbst aus dem Ukrainekrieg und den harten Sanktionen des Westens gegen Russland die Lehre ziehen, dass es riskant ist, wirtschaftlich vom Westen abhängig zu sein. Deshalb könnte China seine Außenwirtschaftspolitik darauf ausrichten, eigene Abhängigkeiten vom Handel mit Europa und den USA und seine Anfälligkeit für Wirtschaftssanktionen abzubauen. All dies bedeutet, dass der Außenhandel als Motor des Wirtschaftswachstums in Deutschland ins Stottern geraten könnte.
Dass die energiepolitische Zusammenarbeit mit Russland in der bisherigen Form nicht weitergehen kann, liegt auf der Hand. Der verbreitete Vorwurf, die deutsche Politik der letzten Jahre sei grundlegend falsch gewesen, ist allerdings überzogen. Die wirtschaftlichen Vorteile der Gasimporte sind offensichtlich. Über den wirtschaftlichen Austausch mit Russland auch politischen Wandel zu erreichen, war als Strategie nicht von Anfang an unsinnig, auch wenn diese Strategie letztlich gescheitert ist und man dies spätestens seit der russischen Besetzung der Krim hätte erkennen müssen. Mehr auf die europäischen Partnerländer zu hören und deren Interessen und Argumente stärker zu beachten, hätte geholfen. Die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA ist auf absehbare Zeit nicht aus der Welt zu schaffen. Aber das Ausmaß, in dem Deutschland seine eigenen Rüstungsanstrengungen reduziert hat, ist nicht mehr tragbar, nicht zuletzt angesichts des Risikos, dass der Nachfolger von US-Präsident Biden weniger an der NATO interessiert und weniger bereit sein könnte, Europas Freiheit zu verteidigen.
Was folgt aus alldem für die Ausrichtung der deutschen und europäischen Politik? Deutschland sollte sich auf europäischer Ebene stärker dafür einsetzen, die Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Ländern zu vertiefen. Freihandels- und Investitionsabkommen mit den USA, lateinamerikanischen Staaten und anderen Regionen der Welt sollten dringend ausgebaut werden. Gleichzeitig ist es notwendig, wirtschaftliche Abhängigkeiten mit größerem Tiefgang zu analysieren und bei größeren und einseitigen Abhängigkeiten Maßnahmen zu ergreifen. Dabei ist es nicht ausreichend, einzelne Sektoren und Produkte wie etwa Halbleiter zu betrachten. Erforderlich ist eine umfassende Analyse von Abhängigkeiten und Risiken, die aus internationalen Wirtschaftsbeziehungen resultieren. In der Regel wird die Lösung nicht darin bestehen, die Produktion wichtiger Güter nach Deutschland oder Europa zu verlagern, sondern Lieferquellen zu diversifizieren. Das gilt in besonderer Weise für die Energieversorgung. Dabei ist die derzeit verbreitete Forderung, auch nach dem Ukrainekrieg nie wieder Gas aus Russland zu importieren, kurzsichtig. Dafür ist nicht maßgeblich, ob man durch Handel politischen Wandel erreichen kann. Die Forderung, die Importe aus Russland dauerhaft einzustellen, übersieht, dass diese Importe nicht nur offenkundige ökonomische Vorteile haben, sondern auch eine Abhängigkeit Russlands von Europa schaffen. Die umgekehrte Abhängigkeit der EU von Russland kann und sollte die EU abbauen, in dem Parallelstrukturen für Gasimporte geschaffen werden, beispielsweise durch den Bau von Flüssiggasterminals und flexible Lieferverträge mit anderen Gasproduzenten wie den USA oder Katar. Diese Strategie umzusetzen ist teuer, aber immer noch billiger und geostrategisch besser als ein kompletter Abbruch des Handels mit Russland. Würde Russland eine daraus resultierende einseitige Abhängigkeit von der EU akzeptieren? Vermutlich ja, denn die Alternative würde darin bestehen, dass Russland sich mit seinen Gasexporten vollständig von Abnehmern wie Indien und China abhängig macht. Das wäre für Russland noch riskanter als eine Fortsetzung des Handels mit der EU.
Darüber hinaus braucht Deutschland eine grundlegende Neubewertung seiner energiepolitischen Perspektiven einschließlich der Entscheidung, aus der Kernkraft auszusteigen. Es reicht allerdings nicht aus, auf nationaler Ebene zu agieren. Unkoordinierte Energiepolitik einzelner EU-Staaten kann die Interessen anderer Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Leitungen für die Gas- und Wasserstoffversorgung laufen quer durch Europa. Ihr erhebliches Gewicht in den globalen Energiemärkten können die Europäer:innen nur dann optimal nutzen, wenn sie gemeinsam handeln. Sowohl aus ökonomischen als auch aus geopolitischen Gründen ist es notwendig, auf EU-Ebene eine gemeinsame Energiepolitik zu entwickeln.
Handeln auf EU-Ebene ist auch im Bereich der Sicherheitspolitik dringend erforderlich. Hier geht es zum einen darum, dass Europa und insbesondere Deutschland einen größeren Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung im Rahmen der NATO leisten muss. Zum anderen ist es wichtig, die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA abzubauen. Dies mit nationalen Alleingängen in der Rüstungspolitik zu erreichen, wäre teuer und ineffizient. Der künftige Erfolg des deutschen Wirtschaftsmodells erfordert also nicht nur Umdenken in der deutschen Wirtschaftspolitik, sondern vor allem in der Energie- und Verteidigungspolitik ein Mehr an Europa.
Dieser Beitrag ist zuerst in der April-Ausgabe des Wirtschaftsdienstes[ a ] erschienen.
©KOF ETH Zürich, 19. Apr. 2022