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Instrumentalisierung der Wirtschaftswissenschaft: Der finanzielle Nutzen der Bilateralen für die Schweiz

Summary:
Was haben die Bilateralen Verträge mit der EU der Schweizer Wirtschaft gebracht? Diese Frage hat seit Annahme der Masseneinwanderungsinitiative an Dringlichkeit gewonnen, da ihr Weiterbestehen gefährdet ist. Dieser Beitrag kritisiert die dazu veröffentlichten Studien und wirft ihnen teilweise Irreführung vor. Wie viel weniger Geld hätten die Schweizerinnen und Schweizer in der Tasche, wenn es die bilateralen Verträge (Bilaterale 1) mit der EU nicht (mehr) gäbe? Nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) durch das Schweizer Stimmvolk im Februar 2014 ist zu dieser Frage eine Expertisenschlacht entbrannt. Vier Studien wurden im letzten halben Jahr veröffentlicht (BAK Basel 2015, Ecoplan 2015, Economiesuisse 2016, Schwab 2016). Die berechneten finanziellen Auswirkungen pro Kopf der Bevölkerung bewegen sich zwischen 500 Franken (Mittelwert Studie Schwab) und 4400 Franken (Studie Economiesuisse). Die Ergebnisse unterscheiden sich also massiv, was auch den Journalisten der Tagesschau des Schweizer Fernsehens[ a ] aufgefallen ist und diese zu einem Beitrag veranlasst hat. Das Fernsehpublikum dürfte sich über den grossen Unterschied wundern und Zuverlässigkeit und Nutzen der Berechnungen in Frage stellen.

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Christian Fichter, Felix Schläpfer considers the following as important:

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Was haben die Bilateralen Verträge mit der EU der Schweizer Wirtschaft gebracht? Diese Frage hat seit Annahme der Masseneinwanderungsinitiative an Dringlichkeit gewonnen, da ihr Weiterbestehen gefährdet ist. Dieser Beitrag kritisiert die dazu veröffentlichten Studien und wirft ihnen teilweise Irreführung vor.

Wie viel weniger Geld hätten die Schweizerinnen und Schweizer in der Tasche, wenn es die bilateralen Verträge (Bilaterale 1) mit der EU nicht (mehr) gäbe? Nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) durch das Schweizer Stimmvolk im Februar 2014 ist zu dieser Frage eine Expertisenschlacht entbrannt. Vier Studien wurden im letzten halben Jahr veröffentlicht (BAK Basel 2015, Ecoplan 2015, Economiesuisse 2016, Schwab 2016). Die berechneten finanziellen Auswirkungen pro Kopf der Bevölkerung bewegen sich zwischen 500 Franken (Mittelwert Studie Schwab) und 4400 Franken (Studie Economiesuisse). Die Ergebnisse unterscheiden sich also massiv, was auch den Journalisten der Tagesschau des Schweizer Fernsehens[ a ] aufgefallen ist und diese zu einem Beitrag veranlasst hat. Das Fernsehpublikum dürfte sich über den grossen Unterschied wundern und Zuverlässigkeit und Nutzen der Berechnungen in Frage stellen.

Das Hauptproblem, das wir dabei sehen: Auftraggeber – sogar öffentliche – instrumentalisieren die Wirtschaftswissenschaft allzu schamlos für ihre politischen Ziele und schaden damit nicht nur ihrer eigenen Glaubwürdigkeit, sondern auch derjenigen der Wissenschaft. Am Beispiel der Studie von Ecoplan (2015), die vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Auftrag gegeben wurde, soll exemplarisch aufgezeigt werden, wie weit sich Auftraggeber und Autoren mitunter aus dem Fenster lehnen, wenn es (mutmasslich) darum geht, mit volkswirtschaftlichen Modellrechnungen eine politische Botschaft zu transportieren. Zwei Punkte sind dabei anzusprechen: Erstens werden die Resultate selektiv und geradezu manipulativ dargestellt, und zweitens sind die Schlussfolgerungen deutlich überzogen. Eine kompetente politische Orientierung und Meinungsbildung wird durch derartige Studien nicht unterstützt sondern vielmehr erschwert.

Manipulative Präsentation

Für eilige Leserinnen und Journalisten werden die wichtigsten Ergebnisse der Studie unter "Das Wichtigste in Kürze" zusammengefasst (Ecoplan 2015: II). Die Darstellung macht sich psychologische Tricks zunutze, die als Manipulation bezeichnet werden können. So werden die Auswirkungen auf das Bruttoinlandprodukt (BIP) bis 2035 nicht als vermindertes Wachstum, sondern schlicht als "Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität um 4,9 BIP%" beschrieben. Die Auswirkungen pro Kopf, die mit 1,5% weniger eindrücklich sind, werden nicht in Prozenten angegeben, sondern absolut – als "Einkommensverluste in der Schweiz im Umfang von rund 1900 CHF/Kopf im Jahr 2035".

Wer nun aber die 1900 Franken – wie wohl die meisten Konsumenten von Kurznachrichten – als ungefähre Einbusse des durchschnittlichen Lohneinkommens versteht, liegt weit daneben. Der Effekt auf das Lohneinkommen beträgt gemäss der Studie nämlich nur etwa -0,7% (Ecoplan 2015: 73). Bezogen auf ein Durchschnitteinkommen im Jahr 2035 sind das nicht 1900 Franken, sondern etwa vier Mal weniger. Der Hauptgrund für die Differenz sind die Kapitaleinkommen. Diese sind gemäss der Studie mit -4,4% betroffen (Ecoplan 2015: 73), profitieren also sechs Mal stärker von den Bilateralen als die Lohneinkommen. Dieses für die Meinungsbildung relevante – sogar brisante – Resultat wird in der Kurzzusammenfassung nicht erwähnt.

Eine um Sachlichkeit bemühte Präsentation der Resultate würde anders aussehen. Ist dies den hochqualifizierten Autoren der Studie entgangen? Wohl kaum – ansonsten müsste man ihren Expertenstatus in Frage stellen. Wurden die Ergebnisse also bewusst manipulativ dargestellt?

Unzulässige Schlussfolgerungen

Aus wissenschaftlicher Sicht noch problematischer sind überzogene Schlussfolgerungen – also solche, die von den zugrundeliegenden Analysen nicht gestützt werden. Im vorliegenden Fall besteht das Problem darin, dass eine Szenario-Rechnung als Prognose verkauft wird. Der Auftraggeber gab das Szenario vor: Über die betrachtete Zeitperiode bis 2035 werden keinerlei Ersatzabkommen entwickelt (Seco 2015: 16). Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios ist nicht bekannt, ebenso wenig wie die Wahrscheinlichkeiten anderer denkbarer Szenarien. Die Modellergebnisse wären dementsprechend auszuweisen – nämlich als Ergebnisse für das betrachtete Szenario. Die Schlussfolgerung der Studie geht aber weit darüber hinaus: "Der Wegfall der Bilateralen I führt zu einer erheblichen Schwächung der Schweizer Wirtschaft und zu spürbaren Einkommenseinbussen bei der heimischen Bevölkerung." (Ecoplan 2015: II).

Diese Schlussfolgerung ist noch aus einem zweiten Grund überzogen. Die Unsicherheiten in den Wirkungszusammenhängen, die dem verwendeten Modell zugrunde gelegt wurden, sind im vorliegenden Fall beträchtlich. Das zeigen die Unterschiede zwischen den Ecoplan-Resultaten und den Resultaten der Studie von BAK Basel, die dasselbe Szenario "Wegfall der Bilateralen" untersuchte. In der Basler Studie kommt das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf im Jahr 2035 um 3,9% tiefer zu liegen als mit den Bilateralen. In der Ecoplan-Studie sind es nur 1,5%.

Angesichts dieser Unsicherheiten mutet der letzte Satz der Kurzzusammenfassung fast humoristisch an: "Es besteht ein Risiko, dass die Einbussen noch höher sind, als in dieser Studie ausgewiesen". Dass auch die umgekehrte Möglichkeit besteht – dass die Einbussen (noch) geringer sind – wird auf eigentümliche Art und Weise ausgeblendet.

Kein Beitrag zu kompetenter Meinungsbildung

Die Berichterstattung im "Blick" als einer der wichtigsten Adressen für politische Kommunikation in der Schweiz illustriert, wie die Botschaft der Studie dem Publikum serviert wurde: "Einbruch beim Bruttoinlandsprodukt" heisst es im Lead, was angesichts der erwähnten irreführenden Formulierung "Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität" wenig erstaunt. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Annahmen fehlt. Betont wird hingegen, dass die Auswirkungen "laut den Forschern frappant[ b ]" sind. Wie sollen sich Laien eine kompetente Meinung bilden, wenn öffentlich finanzierte Studien Szenarienrechnungen als Prognosen verkaufen und die Resultate darüber hinaus selektiv und manipulativ darstellen?

Parteiische Einzelstudien können unter glücklichen Umständen dennoch zu einer kompetenten Meinungsbildung beitragen: nämlich wenn ein ausgewogener Wettstreit von Experten aus unterschiedlichen politischen Lagern entsteht. Dann sorgt (im Idealfall) der Wettbewerb der Argumente dafür, dass die Schwachstellen der Studien gegenseitig offengelegt werden, was die Einordnung der Resultate erleichtert (Milgrom & Roberts 1986, Lupia & Matsusaka 2004). Aber ein solcher Wettstreit ist im vorliegenden Fall bisher kaum erkennbar. Drei der vier vorliegenden Studien stammen von Auftraggebern, welche in der Wahrnehmung grosser Teile der Bevölkerung die Nachteile der bilateralen Verträge bisher heruntergespielt haben. Die Analyse von Schwab (2016) bietet hier einen wertvollen Kontrapunkt, erhielt aber als private Studie in den Medien weit weniger Aufmerksamkeit als die öffentlich finanzierten Studien.

Öffentliche Auftraggeber dürfen sich nicht auf die genannten glücklichen Umstände verlassen. Sie sollten vielmehr darum bemüht sein, dass sich ihre Auftragsstudien durch eine korrekte und ausgewogene Darstellung auszeichnen. Sonst sind die Studien am Ende nicht mehr wert als solche von irgendwelchen Interessengruppen. Damit beschädigen sie das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentlichen Institutionen und in die Wissenschaft.

Abrahamsen, Y., Sarferaz, S. & Simmons-Süer, B., 2015. Die ökonomischen Auswirkungen des Personenfreizügigkeitsabkommens auf die schweizerische Wirtschaftsentwicklung. Eine Simulation mit dem makroökonometrischen Modell der KOF. In: K. Abberger, Y. Abrahamsen, T. Bolli et al. (Hrsg.): Der bilaterale Weg – eine ökonomische Bestandsaufnahme[ c ], S. 152–164. KOF Studien, 58, Zürich.

BAK Basel, 2015. Die mittel- und langfristigen Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I auf die Schweizerische Volkswirtschaft[ d ]. Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO. (Zugriff am 9.5.2016).

Economiesuisse, 2016. Das Wachstum der Schweiz ist besser als sein Ruf[ e ]. Economiesuisse, Zürich.  (Zugriff am 9.5.2016).

Ecoplan, 2015. Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I. Analyse mit einem Mehrländergleichgewichtsmodell. Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft. http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/42119.pdf[ f ] (Zugriff am 9.5.2016).

Graff, M. & Sturm, J.-E., 2015. Längerfristige Wachstumseffekte des Personenfreizügigkeitsabkommens. In: K. Abberger, Y. Abrahamsen, T. Bolli et al. (Hrsg.): Der bilaterale Weg – eine ökonomische Bestandsaufnahme[ c ], S. 12–27. KOF Studien, 58, Zürich.

Lupia, A. & Matsusaka, J.G. 2004. Direct Democracy: new approaches to old questions. Annual Review of Political Science 7, 463-82.

Milgrom, P. & Roberts, J., 1986. Relying on the information of interested parties. Rand Journal of Economics 17, 18-32.

Schwab, F., 2016. Was hat der Bürger von den Bilateralen?[ g ] Beilage in Schweizer Monat Nr. 1034. (Zugriff am 9.5.2016).

Seco, 2015. Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I[ h ]. Staatssekretariat für Wirtschaft, Bern. (Zugriff am 9.5.2016).

©KOF ETH Zürich, 13. Mai. 2016

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