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Der Ursprung des Neoliberalismus

Summary:
Der Neoliberalismus hat ein Imageproblem. Doch was ist überhaupt mit dem Begriff gemeint? Die Bezeichnung "Neoliberalismus" beinhaltet von Anfang an verschiedene Sichtweisen, die sich später ausdifferenzierten. Dieser Beitrag zeichnet seine Entwicklungsgeschichte nach. Wenn in wirtschaftspolitischen Debatten der Begriff "Neoliberalismus" gebraucht wird, geschieht das meistens nicht in freundlicher Absicht. Die Sprachverwendung legt jenseits der ablehnenden Tendenz jedoch nicht klar offen, was eigentlich gemeint ist. So fallen auch Konzeptionen wie die Soziale Marktwirtschaft unter eine abwertende Praxis, obwohl sie möglicherweise das Gegenteil von dem intendieren, was durch ihre Stigmatisierung als Neoliberalismus nahegelegt wird. Das geschieht zum einen infolge von Bedeutungsverschiebungen, zum anderen jedoch auch in Unkenntnis der Geschichte des Neoliberalismus. Die Wortschöpfung "Neoliberalismus" gilt als Produkt des Walter-Lippmann-Kolloquiums vom August 1938 in Paris, nachdem einer seiner Teilnehmer, Bernard Lavergne, bereits 1932 von "neo-liberalen Prinzipien" gesprochen hatte. Das Kolloquium wurde auf Initiative des französischen Liberalen Louis Rougier organisiert, der so beeindruckt von Walter Lippmanns Buch "The Good Society" war, dass er den Aufruf "Zurück zum Liberalismus" startete.

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Der Neoliberalismus hat ein Imageproblem. Doch was ist überhaupt mit dem Begriff gemeint? Die Bezeichnung "Neoliberalismus" beinhaltet von Anfang an verschiedene Sichtweisen, die sich später ausdifferenzierten. Dieser Beitrag zeichnet seine Entwicklungsgeschichte nach.

Wenn in wirtschaftspolitischen Debatten der Begriff "Neoliberalismus" gebraucht wird, geschieht das meistens nicht in freundlicher Absicht. Die Sprachverwendung legt jenseits der ablehnenden Tendenz jedoch nicht klar offen, was eigentlich gemeint ist. So fallen auch Konzeptionen wie die Soziale Marktwirtschaft unter eine abwertende Praxis, obwohl sie möglicherweise das Gegenteil von dem intendieren, was durch ihre Stigmatisierung als Neoliberalismus nahegelegt wird. Das geschieht zum einen infolge von Bedeutungsverschiebungen, zum anderen jedoch auch in Unkenntnis der Geschichte des Neoliberalismus.

Die Wortschöpfung "Neoliberalismus" gilt als Produkt des Walter-Lippmann-Kolloquiums vom August 1938 in Paris, nachdem einer seiner Teilnehmer, Bernard Lavergne, bereits 1932 von "neo-liberalen Prinzipien" gesprochen hatte. Das Kolloquium wurde auf Initiative des französischen Liberalen Louis Rougier organisiert, der so beeindruckt von Walter Lippmanns Buch "The Good Society" war, dass er den Aufruf "Zurück zum Liberalismus" startete.

Die Sorge um die schwindende Attraktivität des Liberalismus führte 26 Teilnehmer aus mehreren Ländern für fünf Tage zusammen. Doch über die Motivation zur Erneuerung des Liberalismus hinaus gab es unter ihnen kaum inhaltliche Einigkeit. Jenseits des an der Oberfläche sichtbar werdenden Streits um Worte lagen die Konflikte tiefer, so dass man bereits zum Zeitpunkt der Verkündung seiner Programmatik kaum von einem einheitlichen Neoliberalismus sprechen konnte.

Neu- vs. Altliberalismus

Der eine Pol wollte tatsächlich einen dem Geist und dem Programm nach neuen Liberalismus. Neben Rougier und Lippmann sind hier auch die Deutschen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow einzuordnen. Den gegensätzlichen Pol bildeten diejenigen, die orthodox in dem Sinne blieben, als sie gar keinen Grund für eine grundsätzliche Änderung des liberalen Projekts sahen, sondern dieses lediglich wiederbeleben wollten, nachdem es seine Attraktivität spätestens im Kontext der Weltwirtschaftskrise eingebüßt hatte. Zu ihnen sind die Österreicher Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek zu zählen. Zwar konzedierten auch sie Fehlstellen und Unzulänglichkeiten des historischen Liberalismus, verorteten sie aber eher in der nicht hinreichend stringenten Umsetzung und weniger im Konzept selbst.

Besonders hinsichtlich der von Rougier aufgeworfenen Frage, ob der Liberalismus fähig sei, soziale Aufgaben zu lösen, prallten die Positionen aufeinander. Die schließlich einstimmige Annahme eines Manifestes (die von Lippmann vorgestellte "Agenda du libéralisme") signalisiert eher ein symbolisches Einvernehmen. Denn es blieb durchaus strittig, wie weit angedachte Korrekturen des liberalen Programms gehen dürften. Der Bezug auf Adam Smith oder John Stuart Mill erlaubt eben ein anderes Ausmaß als der auf Frédéric Bastiat. Eine unzureichende Zurückweisung des Laissez-faire ließ daher für einige den Leidensdruck eines "Laissez-souffrir-Liberalismus" befürchten, wie die veröffentlichte Berichtsakte über das Walter-Lippmann-Kolloquium festhält (vgl. Denord 2001, 24). Die Zurückweisung des Laissez-faire-Prinzips, die in plakativer Form den Kern des neoliberalen Projekts darstellt, und zwar quer über alle Fraktionen, erfolgte also bereits hier nicht nur graduell unterschiedlich.

Mises hat wenig später in seiner "Nationalökonomie" (1940) die Haltung zum "alten" Liberalismus dargestellt und zugleich eine Strategie zur Durchsetzung der eigenen, sich im Vergleich zu anderen neoliberalen Positionen nur wenig vom Laissez-faire abhebenden Perspektive entwickelt. Selbstverständlich war Mises sich im Klaren darüber, dass zur Ideologie gebündelte Ideen zu einem gesellschaftlichen Machtinstrument werden können. Unterschiedliche Ideologien hätten das Gemeinsame, dass sie rationaler Erörterung zugänglich seien, soweit sie "die Gesellschaft als das große Mittel alles menschlichen Handelns bejahen" (Mises 1940, 150). Umso mehr komme es allerdings darauf an, die Unterschiede zu klären. Nicht das letzte Ziel der Gesellschaftsbejahung, sondern die Mittelwahl zu seiner Absicherung unterscheide die Ideologien voneinander. Diese zu erörtern sei Aufgabe der Vernunft und es gehe nicht um fruchtlose Glaubenskriege und Fanatismus der Geisteshaltung, sondern um Überlegungen "technischer Natur" (ebd., 155).

Für den Liberalen Mises war es indes keine Frage, welche Ideologie die besseren Mittel zur Ordnungsgestaltung parat hält. Mit einem 1920 erschienenen Artikel und besonders mit seinem zwei Jahre später veröffentlichten Werk "Die Gemeinwirtschaft" hatte er die sogenannte Sozialismusdebatte entfacht, die er im Vorwort zur 2., umgearbeiteten Auflage von 1932 dann kühn, aber unberechtigt für erledigt erklärte. Mises hatte die Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung im Sozialismus behauptet. Sein hauptsächlicher Kontrahent in dieser Debatte war Oskar Lange. Langes Modell des Konkurrenzsozialismus wurde 1960 durch Kenneth Arrow und Leonid Hurwicz mathematisiert und stellt eine aus neoklassischer Sicht einwandfreie theoretische Lösung des Preisberechnungsproblems in einer sozialistischen Volkswirtschaft dar. Die Behauptung von Mises erwies sich im Nachhinein also als falsch. Die Debatte wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit Dominanz durch die New Austrians wieder aufgenommen und ist durch eine Sammlung der wichtigsten Ergebnisse dokumentiert.

Mises stellte allerdings auch ein Versagen der älteren liberalen Weltanschauung fest, das durch den Neoliberalismus kompensiert werden müsse. Was hat der "Altliberalismus" falsch gemacht? Warum konnte er sich im Widerstreit der Weltanschauungen so wenig behaupten, dass er in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts kaum noch als eine bedenkenswerte Alternative galt? Mises diskutiert diese Frage im Kontext der Behauptung einer allzu großen Duldsamkeit gegenüber den konkurrierenden und für irrtümlich befundenen Anschauungen. Zwar könne man den Liberalismus nicht eines unbedarften Relativismus bezichtigen, aber seine Abneigung gegenüber unfriedlichen Auseinandersetzungen und sein allzu großes Vertrauen in die menschliche Ratio hätten seine eigene Wirkmächtigkeit unterlaufen.

Mises ging es mit solchen Einschätzungen im Grunde nicht um die Erneuerung des liberalen Programms, sondern um eine bessere Wirkmächtigkeit des alten.

Ähnlich wie Mises hat auch Hayek den Aspekt der Macht von Ideen herausgestrichen, wenn er auf die verbesserte Propaganda des Liberalismus, nicht zwangsläufig auf seine Korrektur, drängte. In seinem Aufsatz "Die Intellektuellen und der Sozialismus" unterteilt er die Intellektuellen in zwei Gruppen: Die originalen Denker, die Ideen produzieren und die Gruppe der Vermittler, die für die Propaganda der Ideen zuständig sind. An die Adresse der ersteren geht folgender Appell zur Wiederbelebung des Liberalismus: "Was uns heute mangelt, ist […] ein liberaler Radikalismus [kursiv im Orig,], der weder die Empfindlichkeiten der bestehenden Interessengruppen schont, noch glaubt, so ‚praktisch‘ sein zu müssen, daß er sich auf Dinge beschränkt, die heute politisch möglich erscheinen. […] Wenn wir aber jenen Glauben an die Allmacht von Ideen wiedergewinnen können, der das vornehmste Merkmal des Liberalismus in seiner großen Periode war, muß der Kampf noch nicht verloren sein." (Hayek 1949, 285f.)

Paläoliberalismus?

Alexander Rüstow prägte auf dem Kolloquium für die Vertreter der Mises-Hayek-Fraktion die pejorative Bezeichnung "Paläoliberale", da sich ihre altliberalen Anschauungen als nicht sonderlich kompatibel mit jenen erwiesen, für die er den Begriff Neoliberalismus vorschlug. Die Differenzen zwischen den deutschen Liberalen und den Österreichern hatten sich übrigens bereits Ende der 20er Jahre zu unversöhnlichen Standpunkten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zugespitzt, wie die Auseinandersetzungen in der Gruppe der "deutschen Ricardianer" zeigen. Rüstow und Eucken verständigten sich in dem im Nachlass von Rüstow erhaltenen Briefwechsel vom März 1929 darauf, die Österreicher künftig nicht weiter in die Arbeit dieser Gruppe einzubeziehen, nachdem sie sie zuvor ohnehin nur "in zweiter Linie" und nach abgestufter Geeignetheit eingeschätzt hatten (vgl. Janssen 2009, 110ff.).

Rüstow hat in einem Brief an Wilhelm Röpke aus dem Jahre 1942 die "kompromissliche Schlussresolution" des Walter-Lippmann-Kolloquiums mit ihrem "nur mühsam aufrechterhaltenen Schein der Einheit" (zitiert nach Plickert 2008, 105) zum Anlass eines kräftigen Negativurteils über die österreichischen Repräsentanten des Treffens genommen. "Diesen ewig Gestrigen frißt kein Hund mehr aus der Hand und das mit Recht." Hayeks "Meister Mises gehörte in Spiritus gesetzt ins Museum als eines der letzten überlebenden Exemplare jener sonst ausgestorbenen Gattung von Liberalen, die die gegenwärtige Katastrophe heraufbeschworen haben." (Zitiert nach Janssen 2009, 110, Fn. 66).

Die Bezeichnung "Neoliberalismus" beinhaltet also von Anfang an verschiedene Sichtweisen, die sich nachfolgend ausdifferenzierten. Dies vollzog sich auf konfrontative Weise, denn die verschiedenen Positionen des Walter-Lippmann-Kolloquiums gelangten nicht zur Aussöhnung, sondern verschärften sich. Als im Jahre 1947 auf Initiative von Hayek die Mont Pèlerin Society gegründet wurde, stand die programmatische Diskussion des neoliberalen Projekts immer noch auf der Tagesordnung. Aber infolge der Verstärkung der marktradikalen Gruppe, vor allem durch die Amerikaner Milton Friedman, Frank Knight und George Stigler, war die Gruppe um Röpke und Rüstow von Beginn an die schwächere, selbst wenn sie mit Alfred Müller-Armack, der zu jener Zeit sein Konzept der Sozialen Marktwirtschaft bereits publiziert hatte, einen Verbündeten bekam. Auch der Versuch von Karl Raimund Popper, eine gewisse Breite der Gesellschaft und damit einen der Sachlage angemessenen Pluralismus der Meinungen zu gewährleisten, wurde von Hayek kurzerhand unterbunden. Zwar sah es zunächst so aus, als steuere das neue liberale Projekt in Richtung Ordoliberalismus, so etwa, wenn Hayek mit deutlicher Anspielung auf Walter Eucken betonte, dass es der fatale taktische Fehler der Liberalen des 19. Jahrhunderts gewesen sei, den Staat zu ignorieren. Andererseits konnte sich Röpke, mit der Position, dass Marktwirtschaft und Wettbewerb kein Selbstzweck seien und vornehmlich die gesellschaftlichen Aufgaben jenseits von Angebot und Nachfrage in das Blickfeld rücken müssten, nicht durchsetzen.

In den 50er und 60er Jahren kam es zu offenen Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der unterschiedlichen Neoliberalismen, die schließlich zum Austritt von Röpke und Rüstow aus der Gesellschaft führten. Die soziologisch argumentierende Variante des Neoliberalismus geriet ins Abseits. Alfred Müller-Armack resümierte in der Rückschau auf die Anfänge des Neoliberalismus: "Versuche, vor allem die Sozial-, Vital- und Gesellschaftspolitik, wie sie Röpke, Rüstow und ich anstrebten, ins Spiel zu bringen, fanden wenig Widerhall, wenn nicht gar offenen Widerspruch." (Müller-Armack 1971, 45)

Mit diesem Resultat ist nicht nur der gröbere Unterschied zwischen Marktradikalismus und Sozialer Marktwirtschaft angesprochen, sondern auch der feinere zwischen Ordoliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft. Bei allem Bedeutungswandel, den der Begriff "Neoliberalismus" bis zur Gegenwart zusätzlich erfahren hat, lassen sich die Nuancierungen, die ihm schon immer eigen waren, nicht ignorieren.

Denord, François (2001): Aux origines du néo-libéralisme en France. Louis Rougier et le Colloque Walter Lippmann de 1938, in: Le Mouvement Social, 195, S. 9-34.

Hayek, Friedrich August (1949): Die Intellektuellen und der Sozialismus, in: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Bd. 29 (1949-1950), Heft 5, S. 273-286.

Janssen, Hauke (2009): Zwischen Historismus und Neoklassik: Alexander Rüstow und die Krise der deutschen Volkswirtschaftslehre, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 60, Stuttgart, S. 101-118.

Mises, Ludwig von (1940): Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Genf.

Müller-Armack, Alfred (1971): Auf dem Weg nach Europa. Erinnerungen und Ausblicke, Bern und Stuttgart, 1976, S. 19-170.

Plickert, Philip (2008): Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der "Mont Pèlerin Society", Stuttgart.

Quaas, Friedrun (2015): Die schleichende Dekonstruktion der Sozialen Marktwirtschaft zum neoliberalen Projekt, in: Markt! Welcher Markt?[ a ] Der interdisziplinäre Diskurs um Märkte und Marktwirtschaft, hrsg. von Walter Ötsch, Katrin Hirte, Stephan Pühringer, Lars Bräutigam, Marburg, S. 157-179.

©KOF ETH Zürich, 12. Mai. 2016

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