Während immer mehr Probleme eine stärkere internationale Zusammenarbeit erfordern, nimmt das Vertrauen in die europäische Politik ab. Die Lösung dieses Dilemmas liegt in einem Europa, dessen Politik nationale Spielräume nicht einengt, sondern bewusst nutzt und sogar ausweitet. Dieser Beitrag zeigt, wie das beispielhaft in der Steuerpolitik funktionieren könnte und analysiert als bisheriges Best Practice Beispiel die europäische Regionalpolitik. Das Problem Viele wirtschafts- und gesellschaftspolitische Probleme sind nur durch internationale oder globale Koordination lösbar. Die Klimaerwärmung, politische Konflikte und die Dynamik der Weltwirtschaft sind nur einige Beispiele dafür, dass der Bedarf nach abgestimmter Politik steigt (Vgl. Rodrik 2016). Gleichzeitig steigt jedoch das Misstrauen gegenüber der als zentralistisch wahrgenommenen europäischen Politik und gegenüber der Globalisierung. Positive Trends, wie der weltweite Rückgang absoluter Armut und der Säuglingssterblichkeit oder die steigende Lebenserwartung, werden nicht als Erfolge koordinierter Politik gesehen, ebenso wenig wie das Ausbleiben militärischer Konflikte in einem ehemals stark zerstrittenen Kontinent oder die Reisefreiheit und die gemeinsame Währung.
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Karl Aiginger, Rainer Brunnauer considers the following as important:
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Während immer mehr Probleme eine stärkere internationale Zusammenarbeit erfordern, nimmt das Vertrauen in die europäische Politik ab. Die Lösung dieses Dilemmas liegt in einem Europa, dessen Politik nationale Spielräume nicht einengt, sondern bewusst nutzt und sogar ausweitet. Dieser Beitrag zeigt, wie das beispielhaft in der Steuerpolitik funktionieren könnte und analysiert als bisheriges Best Practice Beispiel die europäische Regionalpolitik.
Das Problem
Viele wirtschafts- und gesellschaftspolitische Probleme sind nur durch internationale oder globale Koordination lösbar. Die Klimaerwärmung, politische Konflikte und die Dynamik der Weltwirtschaft sind nur einige Beispiele dafür, dass der Bedarf nach abgestimmter Politik steigt (Vgl. Rodrik 2016).
Gleichzeitig steigt jedoch das Misstrauen gegenüber der als zentralistisch wahrgenommenen europäischen Politik und gegenüber der Globalisierung. Positive Trends, wie der weltweite Rückgang absoluter Armut und der Säuglingssterblichkeit oder die steigende Lebenserwartung, werden nicht als Erfolge koordinierter Politik gesehen, ebenso wenig wie das Ausbleiben militärischer Konflikte in einem ehemals stark zerstrittenen Kontinent oder die Reisefreiheit und die gemeinsame Währung. Europäische Regulierungen, die in nationale oder die Interessen Einzelner eingreifen sowie etwaige negative Aspekte, werden hingegen sehr wohl als Folge internationaler Politik wahrgenommen und ihre negativen Aspekte übertrieben.
Die Europäische Union steht vor dem Dilemma, dass die weltpolitischen und -wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine stärkere Koordination nötig machen, diese aber an Unterstützung verlieren. Großbritannien hat sich bereits zum Ausstieg aus der EU entschlossen. In zahlreichen anderen Ländern sind EU-kritische Parteien im Aufwind und protektionistische Maßnahmen feiern ein zweifelhaftes Comeback.
Der Lösungsvorschlag und seine drei Komponenten
Zur Lösung dieses Dilemmas sollte die europäische Politik verstärkt nach folgenden drei Prinzipien gestaltet werden: Konzentration auf Sachfragen, in denen die Vorteile des gemeinsamen Handels nachweisbar sind (wo economies of scale, spillovers und öffentliche Güter vorliegen); Schwerpunkte auf Bereiche setzen, in denen die Verbesserung von Lebensbedingungen erkennbar ist; und die Maßnahmen so konzipieren, dass sie den nationalen und regionalen Spielraum nutzen oder sogar ausbauen.
Stärkere gemeinschaftliche Maßnahmen in geeigneten Bereichen
Die europäische Politik sollte sich auf Sachgebiete konzentrieren, die gemeinsam besser gelöst werden können. Dies ist der Fall, wenn bei einer Maßnahme Größenvorteile genutzt werden können, öffentliche Güter (bei denen nicht zahlende Nutzer nicht ausgeschlossen werden können) geschaffen werden und wenn Spillovers vorliegen, also Anstrengungen in einem Land (oder deren Ausbleiben) auch Wirkungen in Nachbarstaaten haben. In diesen Fällen steigt der Wohlfahrtsgewinn, je stärker koordiniert die Staaten vorgehen.
Sichtbare Lösung lebensnaher wirtschaftspolitischer Probleme
Eine erfolgreiche europäische Politik muss sichtbar zur Lösung wirtschaftspolitischer Probleme beitragen, die unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensumstände der Bevölkerung haben. Jede der Maßnahmen soll an konkreten Problemen ansetzen und direkt auf die Verbesserung der Lebensbedingungen ausgerichtet sein. Beispiele für solche Bereiche sind etwa Beschäftigung, Reduktion der Ungleichheit und die Eingrenzung des Klimawandels.
Lösungen zentral koordinieren und kontrollieren aber dezentral umsetzen
Die Problemlösungen dürfen den nationalen Spielraum nicht einengen, sondern müssen diesen erweitern. Es muss die regionale Umsetzung ermöglicht und gefördert werden. Zentralistische Institutionen können einen guten Überblick über die Herausforderungen und ihre Zusammenhänge haben. Sie wissen aber oft zu wenig über Eigenheiten, Präferenzen und Potentiale in einzelnen Regionen und Ländern. Die nationalen Präferenzen führen zu unterschiedlichen Lösungswegen, von denen sich die geeignetsten durchsetzen.
Zwar gibt es teilweise Harmonisierungs- und grundsätzliche Koordinationsversuche, sowohl in Ansätzen der Steuerpolitik als auch bei der grundsätzlichen Koordination der Fiskalpolitik, diese erweisen sich in der aktuellen Form allerdings oft als wenig erfolgreich (Vgl. Buti, Pichlmann 2017).
Die Umsetzung
Wie die vorgeschlagenen Lösungsprinzipien angewandt werden können, warum sie nötig sind und welche Änderungen sie voraussetzen würden, lässt sich gut am Beispiel der Steuerpolitik zeigen.
Aktuell liegt in der EU das Steuersystem aufgrund seiner zentralen Rolle für die Politik eines Landes im alleinigen Zuständigkeitsbereich der Nationalstaaten. Diese bestimmen über die Art, Höhe und Struktur von Abgaben. Doch bedeutet eine ausschließlich nationale Verantwortung nicht zwangsläufig mehr Spielraum. Die Staaten stehen unkoordiniert vor dem Problem, das Steuersystem nicht nach rein wirtschaftlichen und gesellschaftspolitisch sinnvollen Kriterien ausgestalten zu können, sondern von der Verlagerungsgefahr in Nachbarländer und Steueroasen beeinflusst zu sein.
Heute wird der Faktor Arbeit am höchsten besteuert (Aiginger 2016, Schratzenstaller 2015), obwohl dies die Arbeitslosigkeit erhöht. Große Vermögen und Erbschaften sind hingegen steuerbefreit, weil sie in Steueroasen verlegt werden können. Aktuell besteuern Mitgliedsländer Tätigkeiten, die Folgekosten bei Gesundheit und Umwelt erzeugen, sehr gering, da sie ihr Abgabensystem an der Verlagerungsgefahr und nicht an gesellschaftlichen Prioritäten orientieren.
Daher sollten Europäische Regelungen einen Rahmen setzen, in dem jedes Mitgliedsland sein Steuersystem sta?rker nach den ökonomischen, sozialen und ökologischen Zielen ausrichten kann. Dafür wären europaweite Mindesttarife oder Bandbreiten für Umsatz-, Emissions- und Kapitalertragssteuern sinnvoll. Bei bestimmten Steuerarten sollte darüber hinaus in allen Ländern die gleiche Bemessungsgrundlage gelten. Weiters sollten in der gesamten EU Steuervergünstigungen für einzelne Unternehmen verboten oder zumindest transparent gemacht werden. Ein "country by country reporting" von Aktivitäten würde helfen, die Verlagerung der Abgabenpflicht in Steueroasen zu vermeiden.
So würde es den Mitgliedsstaaten durch europäische Vorgaben ermöglicht, ihr Steuer- und Abgabensystem nach nationalen Präferenzen und Anforderungen zu gestalten und nicht nach der Gefahr von Steuerschlupflöcher und unfairem Wettbewerb. Europäische Rahmenrichtlinien erhöhen den Spielraum, Steuern nach nationalen Präferenzen zu setzen.
Europäische Regionalpolitik als Vorbild
Ein Beispiel, wie die Konzentration auf Bereiche mit sichtbaren Vorteilen, die Verbindung europäischer Politik mit den konkreten Lebensbedingungen und bewusste Förderung von dezentralem Spielraum und bottom up Initiativen bereits erfolgreich angewandt werden, ist die Regionalpolitik - das größte wirtschaftsfördernde Instrument auf europäischer Ebene.
Sie hat das Ziel wirtschaftliche und soziale Divergenzen unter den europäischen Regionen zu verringern und stützt zu diesem Zweck Investitionen. Durch die europäische Regional- oder auch Kohäsionspolitik stehen Mittel zur Verfügung, die auf nationaler Ebene nie für regionalpolitische Ziele ausgegeben würden. Die Vergabe der Mittel ist aber an die dezentrale Erstellung von Konzepten gebunden, die dann entscheidet ob es Schwerpunkte etwa in der Industrie im Fremdenverkehr oder bei Gesundheit gibt. Durch die Regionalpolitik wurde die Förderung besonders von entlegenen Regionen mit niedrigen Einkommen professionalisiert.
Die Förderungen erfolgen nach klaren Kriterien und sind regional stärker differenziert als dies bei rein nationalen Entscheidungen der Fall wäre. Es gelingt eine gezielte Förderung von Regionen die geringe Einkommen und niedrige Beschäftigung aufweisen. Rein nationale Politik hätte in der Förderung von Regionen aus zwei Gründen weniger Möglichkeiten: Regionen mit dem größten Förderbedarf finden sich oft in Staaten, die selbst über relativ geringe Mittel verfügen. Zweitens haben realpolitisch starke Regionen immer einen großen Einfluss auf die nationale Regierung und können eine stärkere Differenzierung der Mittel verhindern. In Österreich z.B. erhält das Burgenland als europäische Ziel-1-Region wesentlich höhere Förderungen als es in der nationalen Regionalpolitik vorher der Fall war.
Fazit
Gelingt es der europäische Politik, den Widerspruch zwischen stärker Integration der Maßnahmen und dem Bedürfnis nach mehr nationaler Verantwortung aufzulösen, wird auch die Zustimmung zum Europaprojekt gestärkt und die populistischen Strömungen die die Re-Nationalisierung oder die unrealistischen Träume von Isolation und "früherer Größe" verlangen, gebremst Die folgenden Kriterien sollten bei der Gestaltung europäischer Politik eine gesteigerte Rolle spielen:
- Zentrale Koordinierung und Kontrolle – Dezentrale Umsetzung
- Geeignete Handlungsfelder orten und in diesen aktiv werden
- Gemeinsames Vorgehen gegen Umlenkungs- und Vermeidungseffekte
- Externe Kosten internalisieren
- Gemeinsam öffentliche Güter schaffen und Fiskalpolitik abstimmen
- Gemeinsam Größenvorteile am Weltmarkt nutzen
Für die Umsetzung dieser Strategie ist es auch hilfreich, wenn die EU eine langfristige Vision entwickelt, in der das Erfolgsmaß des Bruttoinlandsprodukts durch Beyond-GDP-Ziele ersetzt wird. Diese Ziele sollten in den Kategorien ökonomische Dynamik, sozialer Zusammenhalt und ökologische Exzellenz definiert sein (vgl. Aiginger, 2016; Hemerijck, 2014; Van den Bergh, Antal, 2014).
Ein neues europäisches "Narrativ", das sich stärker an individuellen und regionalen Bedürfnissen, dem Wertewandel in einer wohlhabenden heterogenen Gesellschaft orientiert, kann die Gemeinsamkeiten stärken, nachdem das "Friedensprojekt Europa" als abgeschlossen gilt (obwohl es für die Nachbarländer und die Begrenzung des Flüchtlingsstromes wichtiger denn je wäre). Ein neues Narrativ für Europa könnte die "verantwortungsbewusste Globalisierung" sein, mit einer stärkeren Prägung durch europäische soziale und ökologische Werte.
Die Vision eines dynamischen Europa sollte eine Idee geben, wie die EU helfen kann, die Arbeitslosigkeit zu senken, Schulden und Ungleichheiten abzubauen, sowie in neuen Technologien, bei der Energieeffizienz und alternativer Energie Weltmarktführer zu werden.
Die steigende Migration verlangt eine stärkere Kooperation mit den Anrainerstaaten der EU. Europäische Investitionen und kultureller Austausch können die politische Stabilität erhöhen und einen Wachstumsmarkt schaffen, der unter anderem die Notwendigkeit zur Migration verringert. Das ERP- und Fulbright-Programm der USA nach dem 2. Weltkrieg haben beispielsweise den europäischen Handlungsspielraum erweitert, Lernprozesse beschleunigt, für die USA einen Partner gewonnen und einen Markt geöffnet. So könnten die aktuellen Probleme zu Triebkräften für ein starkes Europa werden.
Aiginger, K., New Dynamics for Europe: Reaping the Benefits of Socio-ecological Transition[ a ], WWWforEurope Executive Summary, Vienna, Brussels, 2016.
Aiginger K., Mehr nationale Souveränität durch eine neue Europapolitik, Policy Crossover Center Vienna Brussels, Working paper 1/2017
M. Buti & K. Pichelmann: European Integration & Populism - Addressing Dahrendorf's Quandary, LUISS School of European Political Economy Policy Brief, 30.01.2017.
Hemerijck, A., Social Investment and the European Monetary Union[ b ], WWWforEurope, Lecture Series, 2014.
Van den Bergh, J., Antal, M., Evaluating Alternatives to GDP as Measures of Social Welfare/Progress[ c ], WWWforEurope Working Papers, No. 56, March 2014.
Rodrik, D., There is no need to fret about deglobalisation, Financial Times October 4, 2016.
Schratzenstaller Margit: Multilaterale Ansätze zur Lösung multilateraler Problem. Gemeinsame Steuerpolitik ermöglicht nationale Handlungsspielräume, ÖGFE Policy Brief, März 2015.
©KOF ETH Zürich, 25. Feb. 2017