Das Umsatzvolumen auf den Finanzmärkten beträgt ein Vielfaches des Bruttoinlandsprodukts. Kann unter diesen Umständen die monetaristische Theorie noch Geltung haben? Ja, wenn man sie entsprechend anpasst. Die monetaristische Theorie wird zunehmend als nicht mehr zeitgemäß oder sogar widerlegt kritisiert. Zum einen haben sich die Güterpreise trotz massiver Geldmengenausweitung in den letzten Jahren nur relativ wenig erhöht. Zum anderen wird darauf verwiesen, dass die meisten Zahlungsvorgänge heute ohnehin in den Finanzmärkten stattfinden. Braunberger (2021) bezeichnet die Größenordnungen als „atemberaubend“ und schreibt unter Berufung auf eine IWF-Studie (Stella u.a. 2021) „Die Summe der im Jahre 2007 von amerikanischen Geschäftsbanken über ihre Konten bei der Zentralbank
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Das Umsatzvolumen auf den Finanzmärkten beträgt ein Vielfaches des Bruttoinlandsprodukts. Kann unter diesen Umständen die monetaristische Theorie noch Geltung haben? Ja, wenn man sie entsprechend anpasst.
Die monetaristische Theorie wird zunehmend als nicht mehr zeitgemäß oder sogar widerlegt kritisiert. Zum einen haben sich die Güterpreise trotz massiver Geldmengenausweitung in den letzten Jahren nur relativ wenig erhöht. Zum anderen wird darauf verwiesen, dass die meisten Zahlungsvorgänge heute ohnehin in den Finanzmärkten stattfinden. Braunberger (2021) bezeichnet die Größenordnungen als „atemberaubend“ und schreibt unter Berufung auf eine IWF-Studie (Stella u.a. 2021) „Die Summe der im Jahre 2007 von amerikanischen Geschäftsbanken über ihre Konten bei der Zentralbank abgewickelten Zahlungen entsprach dem 77.874-fachen der Summe der Guthaben der Geschäftsbanken bei der Zentralbank (die zusammen mit dem Bargeldumlauf den allergrößten Teil der Zentralbankgeldmenge ausmachen)!!!“ Die Abwicklung von Gütergeschäften mache „vielleicht noch ein Prozent der gesamten Zahlungen aus.“ Zudem kursiere das Geld in den Finanzmärkten mit einer ungleich höheren Umlaufsgeschwindigkeit als in den Gütermärkten.
Miteinbeziehung der Finanzmärkte in die monetaristische Quantitätsgleichung
Kann man also in der Makroökonomik und bei Inflationsprognosen getrost auf die Geldmenge als Variable verzichten, wie es vor allem in neukeynesianischen Modellen häufig geschieht? Das wäre nicht nur fahrlässig, sondern auch methodisch fragwürdig. Denn wenn die Finanzmärkte heute eine so große Rolle spielen, liegt es im Gegenteil näher, sie in die Quantitätstheorie zu integrieren. Ohnehin bezog sich die Quantitätsgleichung ursprünglich ja nicht nur auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP), sondern auf das gesamte Handelsvolumen, worauf auch Braunberger hinweist. Neben den Finanzprodukten gehören z.B. auch die Vorleistungen dazu, die im BIP bekanntlich herausgerechnet werden. Da letztere einen relativ stabilen Anteil am BIP haben, führt ihre Vernachlässigung in der Quantitätsgleichung allerdings zu keinem besonderen Problem, man erhält lediglich eine etwas geringere Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes. Anders ist es aber bei den Finanzmärkten. Da deren Volumen im Vergleich zum BIP stark zugenommen hat, müsste man sie zumindest für längerfristige Analysen explizit in die Quantitätsgleichung mit aufnehmen.
Erstaunlicherweise führt dies nicht nur zu einer Bestätigung wesentlicher Aussagen des Monetarismus, sondern kann auch sein scheinbares „Versagen“ in den letzten Jahrzehnten erklären. Wenn wir wie üblich das reale Produkt (einschließlich der Vorleistungen) mit Y, das Preisniveau mit p, die Geldmenge mit M und die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes auf den Gütermärkten mit v bezeichnen, lautet die Quantitätsgleichung in ihrer üblichen Form:
bzw.
Eine um die Finanzmärkte erweiterte Quantitätsgleichung sieht in ihrer einfachsten Form dagegen wie folgt aus:
Hier haben wir die Anzahl der Finanzmarktaktiva mit X bezeichnet, ihren Preis bzw. durchschnittlichen Kurswert mit q und die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes auf den Finanzmärkten mit u. Wir betrachten nun der Einfachheit halber die reale Produktion Y und die Zahl der Finanzmarktaktiva X als gegeben und halten auch die beiden Umlaufsgeschwindigkeiten erst einmal konstant, allerdings mit u >> v Dann kann man aus dieser einfachen Gleichung bereits eine Reihe von sehr wichtigen Schlüssen ziehen. Auf die recht simplen mathematischen Beweise verzichten wir hier und verwenden stattdessen zur Veranschaulichung einfache Zahlenbeispiele.
Geringer Geldbedarf trotz hoher Transaktionen auf den Finanzmärkten
Zunächst erkennt man unschwer, dass die erweiterte Quantitätsgleichung wieder zur einfachen Form zurückführt, wenn wir entweder die Anzahl X oder den Kurs q der Wertpapiere gleich Null setzen. Es ergibt sich dann bei konstanter Umlaufsgeschwindigkeit v trivialer Weise die von den Monetaristen behauptete Proportionalität von Geldmenge und Preisniveau.
Interessanter ist natürlich der Fall tatsächlich existierender Finanzaktiva. Da diese viel häufiger umgeschlagen werden als die Güter, ist ihre Geldumlaufsgeschwindigkeit u ungleich höher als diejenige der Güter v. Das bedeutet aber zugleich, dass für die Finanztransaktionen viel weniger Geld benötigt wird als für nominal gleich hohe Gütergeschäfte. Deshalb ist der Anteil der Geldmenge M, welcher für die Finanzgeschäfte genutzt wird, wesentlich niedriger als ihr Anteil am gesamten Transaktionsvolumen T (= Yp + Xq). Damit relativieren sich auch die von Braunberger genannten Relationen. Für viele Finanztransaktionen braucht man im Verhältnis zu ihrem Volumen tatsächlich fast gar kein Geld. Wenn ich z.B. meiner Frau täglich 100 € auf ihr Konto überweise und sie es abends wieder an mich zurückschickt, kommt ein Transaktionsvolumen von T=2*365*100 = 73.000 € zustande, obwohl dabei nur 100 € Geld im Spiel sind. Und auf den Finanzmärkten finden Transaktionen ja nicht nur im Tagesrhythmus, sondern teilweise sogar im Sekundentakt statt. Die astronomischen Summen, die Braunberger nennt, können also kaum überraschen, aber die dafür benötigte Geldmenge liegt um viele Dimensionen darunter.
Finanzmärkte absorbieren erhöhte Geldmenge
Was passiert nun, wenn die Geldmenge M steigt, sagen wir um 100%? Im einfachsten Fall verdoppeln sich dann sowohl die Güterpreise p als auch die Wertpapierkurse q, und die monetaristische Theorie wäre bestätigt. Es kann aber auch so sein, dass die Finanzaktiva sich relativ stärker verteuern. Dann steigen die Güterpreise p zwangsläufig weniger stark als q, und dies ist genau das Szenario, welches wir in den letzten Jahren erlebt haben. Das ist also kein Widerspruch zur Quantitätstheorie, sondern folgt vielmehr direkt aus ihr. Der Monetarismus hat ja niemals behauptet, dass alle Einzelpreise gleichmäßig steigen müssen, und zu diesen Einzelpreisen gehören heute eben auch die Kurse der Finanzaktiva.
Eine besondere Pointe ergibt sich daraus, dass der überproportionale Anstieg der Vermögenspreise sich wiederum direkt aus der expansiven Geldpolitik erklären lässt. Denn diese implizierte ja massive Zinssenkungen, was bekanntlich die Wertpapierkurse nach oben treibt. Inflationsängste und fehlende Anlagealternativen für die Sparguthaben kamen noch hinzu. Es ergibt sich also bei expliziter Einbeziehung der Finanzmärkte in die monetaristische Theorie ein sowohl in sich stimmiges als auch mit den empirischen Fakten gut übereinstimmendes Bild.
Allerdings kann man die Zusammenhänge für den Fall einbrechender Wertpapierkurse nicht einfach umkehren. Rein rechnerisch würde dadurch zwar Geld für die Gütermärkte frei, aber zugleich dürfte in einem solchen Szenario auch die Liquiditätspräferenz stark steigen, wie zuletzt die Finanzkrise 2009 gezeigt hat. Das Resultat eines Börsencrashs wäre also zunächst wohl eher Deflation als Inflation auf den Gütermärkten. Eine langfristige Korrektur der Wertpapierkurse nach unten würde allerdings ein behutsames Zurückführen der dann eher zu großen Geldmenge erfordern.
Interessant ist auch die Frage, wie sich zunehmende Effizienz und Geschwindigkeit von Finanztransaktionen auf das Güterpreisniveau auswirken. Rein rechnerisch würde das bedeuten, dass die Geldumlaufsgeschwindigkeit auf den Finanzmärkten u nochmals steigt, so dass dort noch weniger Geld als ohnehin schon benötigt wird. Für sich genommen hätte das bei gegebener Gesamtgeldmenge M einen inflationären Effekt auf die Güterpreise. Allerdings wäre die quantitative Bedeutung dieses Effekts wohl eher gering, da ja ohnehin nur relativ wenig Geld auf den Finanzmärkten gebraucht wird. Zudem dürfte steigende Finanzmarkteffizienz auch die Kurse beflügeln, was wiederum den Geldbedarf auf diesen Märkten erhöht.
Das Totenglöckchen für den Monetarismus klingelt zu früh
Letztlich ist der vergleichsweise geringe Bedarf der Finanzmärkte an Zentralbankgeld darauf zurückzuführen, dass dort weder Bargeld noch Mindestreserven eine große Rolle spielen. Bekanntlich strebt der Geldschöpfungsmultiplikator unter solchen Bedingungen gegen unendlich, zumindest in der Theorie. Wer die Kursentwicklung an den Finanzmärkten unter Kontrolle halten will, wird also eher zu regulatorischen als zu geldpolitischen Mitteln greifen müssen.
Wie auch immer, das Totenglöckchen für den Monetarismus sollte erst einmal wieder eingepackt werden. Weitaus sinnvoller erscheint der hier angedeutete Weg einer Integration der Finanzmärkte – sowie auch alternativer Zahlungsmittel – in die makroökonomische Theorie, und zwar mit expliziter Berücksichtigung der Geldmenge. Dass letztere in der Praxis nicht so leicht definier- bzw. abgrenzbar ist, wie es die einfache Quantitätsgleichung suggeriert, sollte dabei kein Hindernis sein. Auch Kapital und Arbeit sind in Wahrheit heterogene Güter, die sich kaum einfacher aggregieren lassen als monetäre Größen. Geld ist letztlich immer das, was von den Leuten als Geld angesehen und akzeptiert wird, und dies kann zeitlich und regional sehr unterschiedlich sein. Letztlich muss die Empirie entscheiden, welche Aggregate sich für eine Steuerung der geldpolitischen Zielvariablen am besten eignen. So hat es die Geldpolitik immer schon gehalten, auch in der Blütezeit des Monetarismus der 1970er und 1980er Jahre.
Braunberger, Gerald (2021): Kehrt der Monetarismus zurück? Fazit-Blog, 5.März 2021, https://blogs.faz.net/fazit/2021/03/05/kehrt-der-monetarismus-zurueck-12100/#more-12100[ a ]
Peter Stella[ b ] ; Manmohan Singh[ c ] ; Apoorv Bhargava[ d ] (2021), Some Alternative Monetary Facts, IMF Working Papers, 8.1.2021, https://www.imf.org/en/Publications/WP/Issues/2021/01/08/Some-Alternative-Monetary-Facts-49975
©KOF ETH Zürich, 22. Apr. 2021