Monday , December 23 2024
Home / Ökonomenstimme / Nicht alles Wirtschaften ist Marktwirtschaft – Das grosse Versäumnis der Ökonomik

Nicht alles Wirtschaften ist Marktwirtschaft – Das grosse Versäumnis der Ökonomik

Summary:
Lediglich ein Fünftel der menschlichen Arbeit wird in der Marktwirtschaft geleistet. Trotzdem glaubt ein Grossteil der Ökonominnen und Ökonomen noch immer die gesamte Wirtschaft mit Marktmechanismen erklären zu müssen. Die Wirtschaft, geschweige denn die Weltwirtschaft ist ein äusserst komplexes Gebilde.  Um dennoch den Überblick zu wahren, trifft die Ökonomik eine Reihe von Annahmen, mit dem Zweck, die Wirtschaft als Gleichgewichtsmodell darstellen zu können. Seither beschäftigen sich die Ökonominnen und Ökonomen weitgehend damit, die eine oder andere dieser Annahmen zu modifizieren, auf dieser Grundlage noch komplexere Modelle zu basteln – und dafür Nobelpreise zu ernten. Eine grundlegende Annahme ist aber praktisch nie hinterfragt worden:  Die stillschweigende Unterstellung,

Topics:
Werner Vontobel considers the following as important:

This could be interesting, too:

Swiss National Bank writes New on the website 1970-01-01 01:00:00

Dirk Niepelt writes “Report by the Parliamentary Investigation Committee on the Conduct of the Authorities in the Context of the Emergency Takeover of Credit Suisse”

Investec writes Federal parliament approves abolition of imputed rent

investrends.ch writes Novo Nordisk Studie bringt Absturz

Lediglich ein Fünftel der menschlichen Arbeit wird in der Marktwirtschaft geleistet. Trotzdem glaubt ein Grossteil der Ökonominnen und Ökonomen noch immer die gesamte Wirtschaft mit Marktmechanismen erklären zu müssen.

Die Wirtschaft, geschweige denn die Weltwirtschaft ist ein äusserst komplexes Gebilde.  Um dennoch den Überblick zu wahren, trifft die Ökonomik eine Reihe von Annahmen, mit dem Zweck, die Wirtschaft als Gleichgewichtsmodell darstellen zu können. Seither beschäftigen sich die Ökonominnen und Ökonomen weitgehend damit, die eine oder andere dieser Annahmen zu modifizieren, auf dieser Grundlage noch komplexere Modelle zu basteln – und dafür Nobelpreise zu ernten.

Eine grundlegende Annahme ist aber praktisch nie hinterfragt worden:  Die stillschweigende Unterstellung, dass der Markt und die Wirtschaft identisch seien. Dem ist natürlich nicht so. Wenn wir Wirtschaft als die Gesamtheit aller sozial koordinierten bedürfnisbefriedigenden Tätigkeit sehen dann können wir drei Koordinationsmechanismen unterscheiden.

Bloss ein Fünftel der Arbeit wird in der Marktwirtschaft geleistet

Da ist zunächst die geldlose Bedarfswirtschaft, dank der 99,5% aller Menschengenerationen überlebt haben. In den Statistiken wird sie als unbezahlte Arbeit gezählt, so als gehöre Arbeit grundsätzlich bezahlt. In Deutschland machte sie gemäss dem Deutschen Statistischem Bundesamt (Destatis) 2012 noch 57% der gesamten Arbeitsmenge aus. In Wirklichkeit – wenn etwa die unterhaltenden Tätigkeiten auf beiden Seiten mitzählt – dürfte der Anteil über 60% liegen.

Die restlichen 40% entfallen etwa zur Hälfte auf die Staatswirtschaft, bzw. auf Leistungen, die kollektiv finanziert werden, etwa Gesundheit, Bildung, Verwaltung oder Justiz. Die reine Marktwirtschaft, so wie sie im Lehrbuch steht, koordiniert somit nur etwa ein Fünftel all unserer wirtschaftlichen Aktivität. Rund vier Fünftel werden somit der „modernen“ Ökonomik ausgeblendet. Das ist viel. Warum ist es dennoch bisher fast niemandem aufgefallen?

Die Erklärung liegt wohl darin, dass die Marktwirtschaft die beiden anderen „Abteilungen“ lange Zeit kaum behindert hat. Das hat sich inzwischen geändert. Zum einen hat der globale Wettbewerb die Staaten zu Standorten abgewertet, die den Gesetzen des Marktes unterliegen und deshalb ihre soziale Funktion nur noch eingeschränkt wahrnehmen können.

Vor allem aber haben die zunehmenden Mobilitäts- und Flexibilitätserfordernisse des Marktes die Produktionskraft der Bedarfswirtschaft (Familien, Nachbarschaften) drastisch beschränkt. In Deutschland hat dies (laut Destatis) dazu geführt, dass die unbezahlte Arbeit pro Kopf von 1992 bis 2013 um 15% geschrumpft, und durch Erwerbsarbeit (von Haushaltshilfen, Kitas, Kurieren, Fertignahrung etc.) ersetzt worden ist.

Gleichzeitig hat der Markt seine Fähigkeit, Bedürfnisse zu befriedigen in hohem Masse eingebüsst. Das liegt vor allem an der zunehmend einseitigen Verteilung der Markteinkommen. Selbst in der relativ egalitären Schweiz gehen rund 50% an das reichste und nur 5% an das ärmste Fünftel der Haushalte. Kommt hinzu, dass sich der Markt eh nur für die Befriedigung materieller Bedürfnisse eignet, die erst noch individuell konsumierbar und aus den laufenden Einnahmen finanzierbar sein müssen. Leistungen für Bildung und Gesundheit etwa gehören nur beschränkt dazu, kollektive Güter wie Infrastrukturen, Justiz, Umweltschutz, Sicherheit etc. schon gar nicht.

Wegen der einseitigen Verteilung produziert der Markt heute vor allem Luxus- und Prestigegüter. Zudem verschwendet er immer mehr Ressourcen darauf, die eigene Komplexität zu bewältigen. Man denke etwa an das aufgeblähte Finanzsystem, Transport, Werbung, Sozial- und Arbeitsmarktbürokratie etc. Konsumgüter-Multis z.B. betreiben für Werbung, Vertrieb, Transport und Verwaltung mehr Aufwand als für die Produktion.

Weite Bereiche der Wirtschaft spielen nicht nach Marktmechanismen

Kurz: Es ist höchste Zeit für eine Ökonomik, die nicht nur den Markt, sondern alle drei Bereiche der Wirtschaft umfasst, und die Frage stellt, welche unserer Bedürfnisse wir am besten mit welchem Koordinationsmechanismus befriedigen – Bedarfswirtschaft, Staatswirtschaft oder Markt. Entscheidend ist dabei, wie gut jeder dieser Mechanismen die folgenden drei Probleme löst: Erstens Bedürfnisse erkennen und Prioritäten festlegen, zweitens produktive Handlungen organisieren und drittens Lohn bzw. Beute verteilen. Zudem muss sichergestellt werden, dass der Überlebenswunsch des Einzelnen nicht mit dem der Gruppe in Konflikt geraten kann. Wenn in Zeiten der Not aber jeder nur an sich denkt, kommen alle um.

Wie wir beim Blick auf die Verteilung der Markteinkommen gesehen haben, ist der Markt punkto Verteilung unbrauchbar, bzw. in hohem Masse auf die Unterstützung des Staates angewiesen. Punkto Erkennen der Bedürfnisse schneidet der Markt ebenfalls schlecht ab, weil er nicht auf diese, sondern nur auf die monetäre Nachfrage (von Dritten) reagiert. Genau hat sich nun aber auch die eigentliche Stärke des Marktes in eine Schwäche verwandelt: Weil der Markt im Konkurrenzsystem für die aus Sicht des Unternehmens unbegrenzten weltweite Nachfrage von Fremden produziert, steckt in ihm der Zwang zum grenzenlosen Wachstum und zur Zerstörung der Umwelt.

Vom Wirtschaften in geschlossenen Risikogemeinschaften zur weltweiten Marktwirtschaft

Grund genug, um einen Blick in die Antriebs- und Belohnungssoftware unseres Hirns zu werfen. Sie verrät uns, wie die Evolution die drei Aufgaben gelöst hat. Der neueste Homo-Sapiens-Release ist gut 300'000 Jahre alt. Er basiert auf dem Standardmodell, das alle Tätigkeiten, die für den Fortbestand der Spezies relevant sind mit der Ausschüttung oder dem Entzug des Glückshormons Dopamin belohnt oder bestraft. Diese primären Bedürfnisse sind: Nahrung, Sex, sozialer Status, der ökonomische Umgang mit Energie und – fünftens - die Neugier nach Informationen, die diesem Zweck dienen.

Alle anderen Gattungen haben ebenfalls einen von Dopamin gesteuerten Antrieb. Was uns vom Rest abhebt, ist das soziale Feintuning. Unser Hirn belohnt soziales Verhalten weit über den engen Familienkern hinaus. Wir können uns mit anderen freuen und wir leiden unter sozialem Ausschluss. Die meisten von uns haben den Drang, andere für unfaires Verhalten gegenüber Dritten zu bestrafen. Experimentelle Ökonominnen nennen das „starke Reziprozität“. Zudem sind wir egalitär getaktet. Unsere Vorfahren haben immer wieder soziale Praktiken entwickelt, mit dem Zweck „Alphatiere“ zurück zu binden. Sie haben die Spielregeln so gesetzt, dass die starke Reziprozität greifen konnte.

Diese soziale Steuerung hat uns befähigt Risikogemeinschaften von bis zu 500 Menschen zu bilden – die Bedarfswirtschaft. Sie ist unser evolutionärer Trumpf. Zu diesem Zweck knüpfen wir dank ständigen Kontakten und Hilfeleistungen ein Netz von gegenseitigen Verpflichtungen. Gemäss dem Anthropologen Alan Fiske Page vollzog sich dieser Austausch bis vor kurzem in drei unterschiedlichen Modi: Gemeinschaft, Hierarchie und Gegenseitigkeit.

Vor etwa 10'000 Jahren ist mit der Erfindung des Geldes ein vierter Modus dazu gekommen – der Marktmodus.  Mit dem Geld wurde eine Form neue Form von Schuld geschaffen, deren Eigenheiten darin besteht, dass sie ohne Rücksicht auf den sozialen Kontext eingefordert werden kann. Nur so können Fremde, die diesen Kontext nicht kennen können, für ihre Verpflichtungen haftbar gemacht und in den Kreislauf des Tausches einbezogen werden. Damit konnte die Risikogemeinschaft zunächst auf den ganzen Staat und dann – mit der Marktwirtschaft – auf die ganze Welt ausgedehnt werden.

Nicht alles Wirtschaften ist Marktwirtschaft – und soll es auch nicht werden

Doch der Markt hat seine Tücken, welche die Bedarfswirtschaft vermieden hat. In ihr wird man in eine Bedarfsgemeinschaft geboren, die zugleich Konsumgemeinschaft ist. Im Markt muss man sich bewerben, kann entlassen und arbeitslos werden, was wiederum ein Anreiz ist, auf Vorrat - über den eigenen Bedarf hinaus – zu arbeiten und finanzielle Reserven anzulegen. All das führt zu Arbeitslosigkeit, chronischen Überschüssen und Defiziten und zu einem aufgeblähten Finanzsystem. Die Bedarfswirtschaft kennt diese Probleme nicht.

Und weil in der Konkurrenzwirtschaft nur das Ergebnis zählt, nimmt sie keinerlei Rücksicht auf das, was Matthias Benz Prozessnutzen nennt: die Freude an der Arbeit. Diese ist aber in der postmateriellen Gesellschaft in den allermeisten Fällen viel wichtiger als der für den Markt allein entscheidende Ergebnisnutzen. So beeinflusst etwa nach einer Studie von Helliwell et al. (2009) ein Punkt (von 10) mehr Vertrauen in den Chef unser Wohlbefinden mehr als eine Gehaltserhöhung von 30%. Im Klartext: Alles, was wir uns dank den 30% Lohnerhöhungen an zusätzlichem Konsum leisten können, wird vom Belohnungssystem unsers Hirns tiefer eingestuft, als ein kleines Quäntchen mehr soziales Vertrauen und Wohlbefinden.

Im Gegensatz zu den Marktökonominnen und -ökonomen haben echte Sozialwissenschafter gemerkt, dass da etwas Grundlegendes passiert ist. Gemäss dem Soziologen Klaus Reckwitz etwa ist Mitte der 1970er Jahre die postmaterialistische Ära angebrochen. In dieser „die Gesellschaft der Singularitäten“ wird die Selbstverwirklichung zum sozialen Zwang. Angestachelt durch eine mächtige Werbeindustrie, aber auch gezwungen von einem immer kompetitiveren Arbeitsmarkt muss jede zur Darstellerin seiner selbst werden und mit viel zeitlichem Aufwand ihr Image pflegen.

Der Sozialethiker Peter Ulrich hat die Kollision zwischen Markt (Systemleistung) und Bedarfswirtschaft schon in den 1980er-Jahren thematisiert. „Denn je mehr existenzielle Funktionen der primären Lebensgemeinschaft infolge der fortschreitenden Durchökonomisierung der Lebenswelt durch Systemleistungen verdrängt werden, umso mehr ist diese Lebensgemeinschaft auf die stetige Verfügbarkeit einer wachsenden Kaufkraft angewiesen. Umso grösser wird die strukturelle Ohnmacht der Menschen, fehlende Kaufkraft durch Eigenleistungen auszugleichen.“

Der auf Nutzenmaximierung und Wettbewerb getrimmte Homo Oeconomicus aus dem Lehrbuch wäre in einer solchen durchökonomisierten Gesellschaft aufgeblüht. Was die heutige Marktwirtschaft aber mit dem real existierenden Homo Sapiens macht, hat der Erziehungswissenschafter Alfie Kohn so auf den Punkt gebracht: „Am wichtigsten ist es, alles zu tun, damit ihre Familie ein sicherer Hafen ist, wo ihr Kind Schutz findet vor der Erbarmungslosigkeit der Marktwirtschaft.“  Wer es wissenschaftlicher will, lese „The Inner Level“ der beiden epidemiologischen Soziologen Richard Wilkinson und Kate Pickett.

Die Evolution hat uns den Markt beschert. Jetzt müssen wir endlich lernen, mit diesen Geschenk sinn- und massvoll umzugehen. Dazu müssen wir nicht ganz auf den Markt verzichten, aber viel mehr sichere Häfen schaffen – nicht nur in den Familien, sondern auch in intakten Nachbarschaften und staatlichen Institutionen. Und vor allem dürfen wir die Wirtschaft nicht mehr den Marktökonominnen und -ökonomen überlassen.

©KOF ETH Zürich, 29. Nov. 2019

Werner Vontobel
Ökonom und Wirtschaftsjournalist

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *