Das Verhalten der EU und der britischen Regierung im Chaos um den bevorstehenden Brexit erinnert an Spieler in einem Chicken Game: Wer glaubwürdiger seine Härte vermittelt, meint als Sieger hervorgehen zu können. Was 1973 reibungslos eingeführt wurde, ist 2019 nicht reibungslos abzuschaffen. Grossbritannien ist beim Brexit tief gespalten (Referendum 2016: 52% Leave; 48% Remain). Klarheit sollen Neuwahlen im Dezember bringen. Es ist ein Problem, dass nach dem britischen Wahlrecht nicht entscheidend ist, was die Mehrheit der Bürger will. Wie kam es dazu, dass Kommentare wie „Brexit: UK enters dangerous game of chicken with EU“ (Irish Times), „Theresa May is a chicken who’s bottled brexit“ (Telegraph) und „I’d rather be dead in a ditch’ than ask for Brexit delay” (Boris Johnson)
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Das Verhalten der EU und der britischen Regierung im Chaos um den bevorstehenden Brexit erinnert an Spieler in einem Chicken Game: Wer glaubwürdiger seine Härte vermittelt, meint als Sieger hervorgehen zu können.
Was 1973 reibungslos eingeführt wurde, ist 2019 nicht reibungslos abzuschaffen. Grossbritannien ist beim Brexit tief gespalten (Referendum 2016: 52% Leave; 48% Remain). Klarheit sollen Neuwahlen im Dezember bringen. Es ist ein Problem, dass nach dem britischen Wahlrecht nicht entscheidend ist, was die Mehrheit der Bürger will. Wie kam es dazu, dass Kommentare wie „Brexit: UK enters dangerous game of chicken with EU“ (Irish Times), „Theresa May is a chicken who’s bottled brexit“ (Telegraph) und „I’d rather be dead in a ditch’ than ask for Brexit delay” (Boris Johnson) die Spieltheorie ins Spiel springen?
Ein Königreich für eine Lösung
Dass Verhandlungen von Interessen geleitet sind und es Regeln geben muss, damit sich die Ungewissheit nicht immer weiter verlängert, macht den Brexit zu einem strategischen Spiel im Sinn der Spieltheorie. Spieltheoretiker fragen: Riskiert Boris Johnson wirklich alles? Spielt Johnson va banque oder pokert er nur? Welches Spiel spielt die EU, um allen, die weiterhin aus der EU austreten möchten, zu zeigen, wie hoch die Kosten dafür sein werden? Lösungen liefert das Nash-Gleichgewicht. Es ist seit dem Film „A beautiful mind“, der John Nashs Leben erzählt, über die Grenzen der Spieltheorie hinaus bekannt.
Ein bekanntes Grundspiel der Spieltheorie ist das Chicken Game. Namensgeber ist eine berühmte Szene des Films: Denn sie wissen nicht, was sie tun (Rebel without a cause) aus den 1950er Jahren. Es geht um Leichtsinn und Risikobereitschaft unter US-Teenagern. Dabei wird James Dean (Jim) beim Streit um die Position des Anführers vom Cliquen-Chef Buzz zu einer Mutprobe gefordert - dem Chicken Run. Beide fahren in gestohlenen Autos auf eine Klippe zu. Wer bei diesem Spiel mit dem Untergang zuerst abspringt, ist der Feigling - das Chicken. Jeder will das Spiel gewinnen, ohne dabei zu sterben. Das geht, wenn einer bereit ist, zu verlieren. Jim springt ab, Buzz schafft den Absprung nicht. Obwohl Buzz abstürzt, hat Jim verloren.
Um Leben und Tod geht es beim Brexit sicher nicht – um ein riskantes Spiel mit vielleicht schweren Schäden für die Beteiligten allemal. Hier kommt die Deutung des Chicken Game von Bertrand Russel ins Spiel. Danach fahren zwei Autos aufeinander zu. Verlierer (Feigling/Chicken) ist der Fahrer, der zuerst ausweicht. Weicht keiner aus, kommt zu einem für beide Fahrer tödlichen Unfall. Weichen beide aus, ist keiner der Gewinner und keiner der Verlierer. Auch beim Brexit hat der verloren, der zuerst den Kollisionskurs verlässt. Keine Seite möchte das Chicken sein. Lenkt keiner ein, verlieren alle. Keiner darf zögern. Jeder muss entschlossen weiter rasen oder so tun, als ob er weiter rasen wird, wenn er gewinnen will. Dabei treibt die Dynamik die Hoffnung, dass der andere doch noch ausweicht (und die Verluste trägt), wodurch ein möglicher Schaden (durch das Nicht-Ausweichen-Müssen) nicht sofort realisiert werden muss. Mays Spekulation, dass die EU die Risiken eines No-Deal nicht eingehen und am Ende einlenken wird, war der Versuch, den Preis einer Kollision so hoch zu schrauben, dass keiner den Crash riskieren will. Es war für May fatal, dass Glaubwürdigkeit die Währung des Spiels ist.
Die Geschichte zeigt, wie eng Erfolg, Misserfolg und Glaubwürdigkeit zusammen hängen. So basiert das nukleare Gleichgewicht durch die Mutually Assured Distruction (wechselseitig zugesicherte Zerstörung)-Doktrin auf der Logik der glaubwürdigen Drohung. In der Kuba-Krise (1962), die eine Version des Chicken Games war, ließen die USA keinen Zweifel daran, einen Atomkrieg zu riskieren, sollte die UdSSR nicht einlenken. Chruschtschow verlor damals gegen Kennedy, da er statt der Kollision (3. Weltkrieg) Ausweichen gewählt hat, als er die Frachter zurück rief. Am Vorabend des 2. Weltkrieges wagte der britische Premier Chamberlain es hingegen nicht, mit Krieg das Schlimmste zu riskieren. So war der Preis der Kol-lision für Hitler nicht hoch genug. Er konnte einige Chicken Games gewinnen, ehe Chamber-lains Nachfolger Churchill die Art des Spiels erkannte und England in den Krieg zwang.
Durch „May using Nixon’s madman theory to play chicken with Brexit“ beleuchtet die Irish Times listig die hohe Volatilität (Unglaubwürdigkeit) der britischen Politik. Wie May (und ihr Nachfolger) hatte auch der US-Präsident ein Glaubwürdigkeitsproblem als er 1969 ohne Erfolg seinen festen Willen demonstrieren wollte, den Vietnamkrieg zu beenden. Dafür täuschte der „Verrückte“ im Weißen Haus durch Flächenbombardements in Kambodscha vor, er sei bereit, auch Atomwaffen einzusetzen: Irrsinn als Taktik. Wer die Selbstkontrolle zu verlieren droht, spielt mit dem Feuer. Beim Chicken Race spielt der mit dem Feuer, der dem Gegner etwa durch echtes oder nur vorgetäuschtes Betrinken glauben machen will, man würde irrational handeln, um ihn davon zu überzeugen, zuerst einzulenken, da er denken muss, man sei als Verrückter nicht in der Lage, rational zu handeln. Gegeben der Gegner ist nicht auch verrückt, wird der so Bedrohte ausweichen, um den Crash zu vermeiden.
Die Irish Times Verknüpfung bedeutet natürlich nicht, dass May (Nixon) verrückt ist (war). Es kann aber ein kluger strategischer Zug sein, einen gewissen Grad an Verrücktheit zu simulieren. Dass May den Austrittsprozess in 2017 ausgelöst hat, ohne zu wissen, welchen Brexit die Briten wollen und (wie sich zeigt) es noch immer nicht wissen, birgt aber ein Muster, das Thomas Schelling schon in den 1960er Jahren in seinem richtungsweisenden Buch „The Strategy of Conflict“ als wirklich „irre Methode“ der Politik beschrieben hat. Dazu passt, dass Beobachtern zuletzt unklar war, ob May beim Spiel mit Brüssel die Tür des Rolls Royce, der, sieht man die Realität, eher ein Mini ist, nur verriegelt hatte, um der EU zu signalisieren, es sei besser, das Lenkrad selbst herumzureißen, d.h. wirklich alles Brinkmanship war – wohl kalkuliert
Race to the bottom
Das beim Chicken Run einer nachgeben muss, wenn nicht beide verlieren sollen, keiner weiß, ob der andere rechtzeitig bremst und es ein gemeinsames Interesse gibt, den Crash zu verhindern, ist auch der dilemmatische Kern des Brexit-Dramas. Wird das Szenario darauf verkürzt, haben die Europäische Union (EU) und Großbritannien (GB) die (reinen) Strategien „hart (nicht kooperativ)“ und „weich (kooperativ)“ mit vier möglichen Er-gebnissen (siehe Tableau). Dabei spiegeln die Zahlen die Präferenzen der Spieler, geordnet vom besten (3) zum schlechtesten (0) Ergebnis. Am besten ist es, zu kooperieren. Zweitbestes Ergebnis ist, wenn ein Spieler nachgibt. Nicht-Kooperation ist das schlechteste Ergebnis. Die Spieler wählen ihre Strategie gleichzeitig. Durch die Symmetrie der Auszahlungen, die in der Reihenfolge (EU/GB) zu lesen sind, ist unklar, wer nachgeben soll.
Chicken Brexit-Game
Was ist die Lösung des Spiels? Nash-Gleichgewichte sind Spielausgänge, die alle Spieler befriedigen. Da kein Spieler davon abweichen kann, ohne sich selbst zu schädigen, werden sich die Spielausgänge (*) durchsetzen: Ein Spieler kooperiert; der Gegner kooperiert nicht. Denn ist rechts oben die EU „hart“ und GB „weich“, kann sich GB nicht verbessern, in dem es sich auf „hart“ um entscheidet (vice versa). Beide Lösungen sind gleich gut, nur nicht für beide Spieler. Denn links unten wird GB, rechts oben wird die EU begünstigt. Fazit: Ein Spieler ist bereit zu kooperieren, ehe es zum Crash kommt. Beidseitige Kooperation (Feld rechts unten) ist kein stabiler Zustand, da jeder Spieler sich durch einseitiges Abweichen verbessern könnte. Vermieden wird der Worst Case (Feld links oben), wo beide Spieler den geringsten Nutzen erzielen, wenn beide den größten Nutzen für sich erreichen wollen. Näher an der Realität ist eine Lösung, wo sich die Spieler im mathematischen Sinn zufällig (mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit) entscheiden. In der Tat pokerte May mit der EU, um ihren Deal durch das Parlament zu bringen. Vorhersehen konnte die EU nicht, welche Aktion May wählen (wie sie mischen) würde (vice versa). Man spricht hier von strategischer Unsicherheit. Es ist klar: Soll ein Brexit-Deal erfolgreich sein, muss die hart-Wahrscheinlichkeit klein werden. Die Option dem Verlierer das zu erwartende Schicksal zu versüßen wurde von der EU nicht gezogen.
Welche der Lösungen soll gewählt werden? Wegen der Gleichwahrscheinlichkeit der (nicht-zufälligen) (*)-Lösungen ist nicht zu erwarten, dass ein Spieler richtig antizipiert, welche Lösung der Gegner erwartet – es sei denn eine Lösung besitzt ein Merkmal, was die Erwartungen beider Spieler darauf konzentriert. Genau hier greift der Schelling Punkt. Er adressiert Lösungen, die den Spielern durch gemeinsame Erfahrungen als natürlich oder herausragend auffallen. Die Lösungen erscheinen so als wahrscheinlicher als andere. Bei der Mutprobe der US-Teenager kippt die Situation, wenn Jim weniger lebensmüde ist als Buzz, und Buzz davon erfährt. Jim hat verloren, da Buzz nun nicht ausweichen wird. Es gibt einen Verlierer, weil ein Spieler eine der Lösungen (*) wahrscheinlicher spielt als die andere. Wieder zeigt sich, dass, soll die bevorzugte Lösung erzwungen werden, es glaubwürdig ist, zu drohen (Mays Problem). Wählen beide Spieler die Strategie, die sie begünstigt, folgt der Crash. Da ein Crash nicht im Interesse der Akteure war, ließen beide die Wahrscheinlichkeit dafür langsam ansteigen, damit die andere Seite auf jeder Eskalationsstufe noch nachgeben kann.
Fazit
In der neuen Brexit-Verlängerung (die sogenannte Flextension läuft bis 31.Januar 2020) ist nach neuen Spielen mit besseren Regeln und nicht nach besseren Zügen in alten Spielen zu suchen. Eine neue, bessere Regel, die das für beide Seiten bessere (weich/weich)-Gleichge-wicht des Schreckens der Kuba-Krise einstellt, wäre eine Art von Reaktionsautomatik. Denn könnte Brüssel sich glaubhaft darauf festlegen, „hart“ zu sein, wenn London „hart“ ist, wird London abgeschreckt, „hart“ zu wählen. Kennedy und Chruschtschow hatten damals erkannt, dass ein Gleichgewicht des Schreckens nur stabil ist (und es auch bleibt), wenn es wirklich schrecklich ist. Die US-Strategie, die auf der Schaffung eines von beiden Parteien zu tragenden Risikos basierte, und das folgende Changing the game zeigte, dass ein neues Spiel nicht auf Kosten einer Partei gehen muss. Was bei Bumbling Boris (stolpernder Boris) unglaubwürdige Drohung (incredible threat) oder überlegte Madman Strategie ist, kann niemand wissen „May’s exit will not solve Britain’s Brexit problems“ (The Economist). Die Frage “What is the name of the game?“ steht im Raum. Es sollte kein Chicken Game sein.
©KOF ETH Zürich, 12. Dez. 2019