Die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten bei der Lebensgestaltung wird gerne als entscheidendes Maß für Freiheit angesehen. Sollte deshalb auf jede Wertung von Verhaltensweisen verzichtet werden? Und wer ist dafür zuständig, die Wahlmöglichkeiten zu bieten? Einige Gedanken aus freiheitlicher Sicht. Glück läßt sich so wenig verordnen wie der Weg dorthin. Zweifel sind daher angebracht, inwieweit man anderen bestimmte Verhaltensweisen vorschreiben sollte, selbst wenn für den Außenstehenden offensichtlich scheint, daß diese für den Betreffenden vorteilhaft wären. Entscheidungen führen eben oftmals nur dann zum gewünschten Ziel, wenn sie aus eigener Überzeugung getroffen werden. Es mag konsequent erscheinen, dieser Einsicht auch dann zu folgen, wenn grundlegende ethisch-moralische Fragen betroffen
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Die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten bei der Lebensgestaltung wird gerne als entscheidendes Maß für Freiheit angesehen. Sollte deshalb auf jede Wertung von Verhaltensweisen verzichtet werden? Und wer ist dafür zuständig, die Wahlmöglichkeiten zu bieten? Einige Gedanken aus freiheitlicher Sicht.
Glück läßt sich so wenig verordnen wie der Weg dorthin. Zweifel sind daher angebracht, inwieweit man anderen bestimmte Verhaltensweisen vorschreiben sollte, selbst wenn für den Außenstehenden offensichtlich scheint, daß diese für den Betreffenden vorteilhaft wären. Entscheidungen führen eben oftmals nur dann zum gewünschten Ziel, wenn sie aus eigener Überzeugung getroffen werden. Es mag konsequent erscheinen, dieser Einsicht auch dann zu folgen, wenn grundlegende ethisch-moralische Fragen betroffen sind. Doch ganz so einfach ist es nicht.
Eine Gesellschaft braucht Regeln
Ein erster Einwand besteht darin, daß eine Gesellschaft auf Konventionen angewiesen ist, wenn sie erfolgreich sein will. Traditionen und überlieferte Regeln, auch wenn sie im Einzelfall unverständlich sein mögen, bergen einen Schatz an unausgesprochenem Wissen und schaffen durch Vorhersehbarkeit Vertrauen. Entsprechende Überlegungen aus liberaler Sicht finden sich bereits bei Carl Menger. Insbesondere aber Friedrich A. von Hayek widmete sich diesem Thema und befand: "Da wir unsere Gesellschaftsordnung einer Tradition von Regeln verdanken, die wir nur unvollkommen verstehen, muß jeder Fortschritt auf Tradition beruhen."[1]
Zu diesen Traditionen, die sich über die Jahrhunderte bewährt haben, zählt ganz zentral der Respekt vor dem Leben. Gemeint ist damit nicht nur die Anerkennung des Rechts, sein Leben selber in die Hand nehmen zu dürfen, sondern darüber hinaus die moralische Pflicht, menschliches Leben auch dann zu schützen, wenn es sich noch nicht oder nicht mehr aus eigener Kraft erhalten kann. Auch diese Zusage eines generellen Lebensschutzes schafft in entscheidendem Maße Vertrauen.
Die Freiheit des Einen findet ihre Grenze an der Freiheit des Anderen
Der Umstand, daß meist im Umfeld anderer Menschen gehandelt wird, führt zu einem zweiten Einwand: Die Freiheit des Einen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Menschliches Handeln allgemein und verantwortungsloses Verhalten im Besonderen achtet diese Grenze nicht immer. Oft kommt es zu schädlichen Auswirkungen auf das Leben und das Eigentum, also die grundlegenden Freiheitsrechte Dritter. Es braucht daher Vorkehrungen, damit Unbeteiligte nicht zu Opfern werden. Strafandrohungen für den Fall, daß negative Auswirkungen tatsächlich eintreten, machen deutlich, daß der Urheber für die Folgen seines Handelns verantwortlich ist. Damit verbunden ist eine abschreckende Wirkung, die in vielen Fällen dafür sorgen wird, daß Grenzen gewahrt bleiben. Strafen können aber nicht alle Folgen ungeschehen machen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um Leben und Tod geht. Es erscheint deshalb sinnvoll, gewisse Verhaltensweisen vorbeugend zu untersagen, wenn sie Rechte anderer leichtfertig und unwiderruflich aufs Spiel setzen. Überlieferte Regeln statt Gesetze können auch hier eine wichtige Rolle spielen.
Sozialstaat als Einladung zur Verantwortungslosigkeit
Der Sozialstaat unterstützt demgegenüber seit Jahrzehnten die entgegengesetzte Entwicklung. Unter dem Vorwand, Freiheit durch Sicherheit zu schaffen, untergräbt er das Prinzip der Eigenverantwortung. Die natürliche Grenze, die die Rechte des Anderen setzen, wird künstlich aufgeweicht. Einrichtungen wie die obligatorische Krankenkasse, das öffentliche Schulwesen, die Arbeitslosenversicherung, die Sozialhilfe oder die gesetzliche Altersvorsorge wälzen Kosten, die Einzelpersonen verursacht haben, auf die Allgemeinheit ab. Auch wenn dies aus besten Absichten heraus geschehen mag, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß u.a. der Nutzen von Familie, Ausbildung, Kindererziehung, persönlicher Gesundheitsvorsorge oder Ersparnisbildung relativiert werden. Die Folgen eines riskanten oder nachlässigen Verhaltens werden für den einzelnen künstlich abgemildert. Denn ob jemand durch Vorsatz oder durch einen Schicksalsschlag in Not geraten ist, differenzieren diese Systeme nicht. Im Extremfall werden durch umfangreiche Umverteilungsmaßnahmen aus Gescheiterten Sieger und umgekehrt. Die Bereitschaft zu verantwortungslosem Wagemut (moral hazard) steigt, und zwar umso mehr, je stärker die Erinnerung an traditionelle Verhaltensnormen verblaßt. Ständig steigende Ansprüche und ein Verkümmern von Leistungswille und Hilfsbereitschaft sind die logischen Folgen.
Fremdfinanziertes Recht auf Fehlverhalten als Steigerungsform
Ganz so, als ob diese Fehlanreize nicht schon problematisch genug wären, hat das falsche Verständnis von Freiheit längst eine weitere Steigerung erfahren unter dem Motto: Unabhängig von den persönlichen Möglichkeiten sollen jedem alle Handlungsoptionen offenstehen. In letzter Konsequenz wird also ein Rechtsanspruch auf Verantwortungslosigkeit postuliert. Um dieses vermeintliche Recht sicherzustellen, soll die Allgemeinheit nicht nur die Kosten für die Folgen tragen, sondern sich bereits im Vorfeld engagieren. Die Frage nach der Freiheit des anderen stellt sich damit in verschärfter Form.
Ein besonders offensichtliches Beispiel ist die derzeit gültige Abtreibungsregelung in der Schweiz und in manchen anderen Ländern: Nicht nur sind Abtreibungen grundsätzlich zulässig, sondern die Möglichkeit dazu wurde gleichsam zu einem Grundrecht erhoben, dessen Wahrnehmung keine Frage des Geldes sein darf. Ihre Finanzierung wurde deshalb dem obligatorischen Teil der Krankenversicherung zugewiesen. Jeder Beitragszahler ist seither gezwungen, einen Eingriff mitzutragen, der noch vor einigen Jahrzehnten im Normalfall strafbar war. Die Durchführung von Abtreibungen ist zudem zu einem zwingenden Bestandteil der Ausbildung von Hebammen und Gynäkologen geworden, obwohl sie sich schwerlich als zentraler oder notwendiger Bestandteil der Berufsausübung bezeichnen läßt und mit Ausnahme jener Fälle, in denen das Leben der Mutter bedroht ist, in Widerspruch zum Hippokratischen Eid steht. Bei aller Gegensätzlichkeit der Meinungen zum Thema Abtreibung dürfte zumindest darin Einigkeit bestehen, daß es eben diese gegensätzlichen Ansichten gibt. Damit wäre zu hoffen, daß immerhin in der Weise eine Einigung gelingt, daß niemand gezwungen werden sollte, gegen sein Gewissen zu handeln. Weder für Hebammen und Gynäkologen noch für die Gesamtheit der Pflichtversicherten besteht aber derzeit diese Gewissensfreiheit – im Unterschied etwa zu Militärdienstverweigerern. Im Jahre 2014 wurde in der Schweiz mit der Volksinitiative "Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache" der Versuch unternommen, diese Situation teilweise zu korrigieren. Nur dreißig Prozent der Abstimmenden befürworteten jedoch die Initiative, während der großen Mehrheit der totalitäre Charakter der gültigen Regelung offenbar nicht zu vermitteln war.
Grundsätzlich ähnliche Probleme ergeben sich bei der Pränataldiagnostik, der Drogenabgabe oder den Aufklärungskampagnen des Bundesamtes für Gesundheit. In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik könnten einst die Liste ergänzen. Streng genommen findet eine Subventionierung durch die Allgemeinheit auch in diesen Bereichen schon heute statt, insoweit das Gesundheitssystem teils aus allgemeinen Steuermitteln finanziert wird. Fragen der Moral und der persönlichen Lebensgestaltung sind darüber hinaus auch im staatlichen Bildungswesen in besonderer Weise berührt. Dies reicht von der Wertevermittlung im Kindergarten bis zu fragwürdigen Forschungsprojekten an den Hochschulen. Ganz egal, wie man zu frühkindlicher Sexualerziehung, Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen oder Lehrstühlen für Gender-Studien steht – als Steuerzahler ist man ungefragt mit dabei. Im Wissen um diese Problematik wurden in manchen Bereichen Ethikkommissionen eingerichtet, doch deren Kollektiventscheidungen können letztlich den Gewissenskonflikt des Einzelnen genauso wenig lösen wie Regierungsbeschlüsse.
Es ginge auch anders
Eine konsequent liberale Position wäre demgegenüber: Lebe, wie du willst, aber erwarte nicht, daß andere dich dabei unterstützen und die Kosten tragen. Wer mehr Freiheit bei den Lebensentwürfen fordert, müßte also zunächst sicherstellen, daß die Verantwortlichkeit des Handelnden und die Gewissensfreiheit des Andersdenkenden gewahrt bleiben (bzw. wiederhergestellt werden). Dazu müssten all jene Dinge aus der öffentlichen Finanzierung ausgeklammert werden, über deren Wünschbarkeit kein weitgehender Konsens besteht. Wer hingegen unter den Rahmenbedingungen des Sozialstaates nach mehr Wahlfreiheit ruft, wird leicht zum Fürsprecher ungerechter Privilegien – und damit des Gegenteils von Freiheit. Ein freiheitlicher Staat muß sich in Wertefragen neutral verhalten; auch demokratische Mehrheitsentscheide haben diesbezüglich Grenzen. Diese Forderung mag enttäuschen, aber sie ist unumgänglich, wenn wir nicht in der Gesinnungsdiktatur enden wollen. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang der Hinweis des Philosophen Robert Spaemann, daß sich ein freiheitliches Gemeinwesen darauf beschränken muß, eine Rechtsgemeinschaft und keine Wertegemeinschaft zu sein.[2] Wer von seinen Idealen wirklich überzeugt ist, wird sich an solcher Zurückhaltung nicht stören, denn er wird zuversichtlich sein, daß sich diese seine Ideale auch ohne fremde Hilfe bewähren und durchzusetzen vermögen. Andernfalls müßte er sich fragen lassen, wie es mit der Finanzierung weitergehen soll, wenn sein angebliches Erfolgsmodell dereinst zum Normalfall geworden ist. Denn in keinem der zuvor genannten Fälle ist eine Kollektivlösung zwingend. Die Wahlfreiheit des einzelnen setzt nicht voraus, daß alle anderen mitziehen. Freilich ist nicht jede Wahl gleich günstig. Daß Wahlentscheidungen mit unterschiedlichen Kosten verbunden sind, gehört aber zur Natur der Sache und sollte nicht verschleiert werden. Hinzu kommt, dass die Kosten selbst bei einem Verzicht auf Kollektivzwang nicht unbedingt vom Verursacher allein getragen werden müßten. Freiwillige Zusatzversicherungen, Privatpersonen/-unternehmen oder Stiftungen könnten je nach Fall bereit sein, die Finanzierung zu übernehmen. Die Kosten würden auch dann auf einen größeren Personenkreis verteilt, aber nicht mehr an diejenigen weitergereicht, für die dies aus Gewissensgründen (oder einfach aus fehlendem Willen) inakzeptabel ist.
Fairerweise sollte die staatliche Zurückhaltung in alle Richtungen gelten. Auch traditionelle Lebensweisen haben kein Anrecht auf Vorzugsbehandlung. Allerdings ist es kaum Zufall, daß sich bestimmte Traditionen über Generationen hinweg so und nicht anders entwickelt haben. Allein aus biologischen und ökonomischen Gründen würde es nicht überraschen, wenn sie unter den Bedingungen eines freien Wettbewerbs – ohne staatliche Eingriffe – auch in Zukunft dominieren.
Autorangaben
Timo Rager ist promovierter Chemiker und wohnt in Herznach AG.