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Plädoyer für eine transformative Wirtschaftswissenschaft

Summary:
Von Beginn an haben die modernen Wirtschaftswissenschaften gesellschaftliche Prozesse nicht nur beobachtet und beschrieben, sondern diese auch selbst katalysiert und beeinflusst. Damit haben sie einer Entwicklung den Weg gebahnt, die neben unbestrittenen Erfolgen zu ökologischen Zerstörungen, sozialen Verwerfungen und immer wiederkehrenden ökonomischen Krisen geführt hat. Dieser Beitrag plädiert für eine transformative Wirtschaftswissenschaft, die insbesondere auch die Bedingungen und Möglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft analysiert und verbessern hilft.  Verständigung zur Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen Das Plädoyer für die Notwendigkeit einer "transformativen Forschung" (WBGU 2011) und die sich daran anschließende Debatte um eine "transformative Wissenschaft" (Schneidewind/Singer-Brodowski 2013, Strohschneider 2014, Wissenschaftsrat 2015) haben Impulse in die wissenschaftspolitische Landschaft gesetzt, die sowohl Wissenschaftler/innen wie andere gesellschaftliche Akteure zur Reflektion ihres Tuns und ihrer Wirkung im Hinblick auf gesellschaftliche Transformationen ermuntern. Damit knüpft die Debatte an eine langjährige Auseinandersetzung über die gesellschaftliche Wirkung von Wissenschaft in der Gesellschaft an. Beginnend in der Wissenssoziologie mit Konzepten von "mode 2 science" (Gibbons et al.

Topics:
Reinhard Pfriem, Uwe Schneidewind considers the following as important:

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Von Beginn an haben die modernen Wirtschaftswissenschaften gesellschaftliche Prozesse nicht nur beobachtet und beschrieben, sondern diese auch selbst katalysiert und beeinflusst. Damit haben sie einer Entwicklung den Weg gebahnt, die neben unbestrittenen Erfolgen zu ökologischen Zerstörungen, sozialen Verwerfungen und immer wiederkehrenden ökonomischen Krisen geführt hat. Dieser Beitrag plädiert für eine transformative Wirtschaftswissenschaft, die insbesondere auch die Bedingungen und Möglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft analysiert und verbessern hilft. 

Verständigung zur Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen

Das Plädoyer für die Notwendigkeit einer "transformativen Forschung" (WBGU 2011) und die sich daran anschließende Debatte um eine "transformative Wissenschaft" (Schneidewind/Singer-Brodowski 2013, Strohschneider 2014, Wissenschaftsrat 2015) haben Impulse in die wissenschaftspolitische Landschaft gesetzt, die sowohl Wissenschaftler/innen wie andere gesellschaftliche Akteure zur Reflektion ihres Tuns und ihrer Wirkung im Hinblick auf gesellschaftliche Transformationen ermuntern. Damit knüpft die Debatte an eine langjährige Auseinandersetzung über die gesellschaftliche Wirkung von Wissenschaft in der Gesellschaft an. Beginnend in der Wissenssoziologie mit Konzepten von "mode 2 science" (Gibbons et al. 1995) oder der "Co-Production of Knowledge" (Jasanoff 2004) entwickelten sich in der Nachhaltigkeitswissenschaft entsprechende Konzepte u. a. im Rahmen der "Sozial-Ökologischen Forschung" (Jahn 2013, Luks/ Siebenhüner 2006), der Transdisziplinarität (Lang et al. 2012) oder des Future Earth Programms mit seinem Konzept von "Co-Design" und "Co-Production" (Mauser et al. 2013). Allen geht es um eine aktivere und kritischere Rolle der Wissenschaft in gesellschaftlichen Entscheidungs- und Handlungsprozessen, wobei der normativen Ausrichtung auf Ziele der nachhaltigen Entwicklung eine besondere Bedeutung zukommt. Umgekehrt gibt es auch den Ansatz der Citizen Science, wonach das vielfältige Bürgerwissen die Wissenschaft befruchten kann (Finke 2014).

Der Pariser Klimagipfel im Dezember 2015 hat Zielsetzungen beschlossen, die nur über eine zielgerichtete Ausgestaltung unternehmerischer, regional- und gesamtwirtschaftlicher Transformationsprozesse in Richtung Dekarbonisierung und solarer Ökonomie realisiert werden können. Gleichzeitig erfordern die von den UN beschlossenen Sustainable Development Goals die Entwicklung und Wiederentdeckung nachhaltiger Wirtschafts- und Suffizienzstrategien, um die bestehende Armut mit Blick auf eine Weltbevölkerung von demnächst fast 10 Milliarden Menschen zu bekämpfen (Bommert 2009). Gegen steigende soziale Verwerfungen in den ökonomisch früh entwickelten Ländern braucht es neue Wohlfahrtskonzepte (vgl. Binswanger 2006, Witt 2011), die im gemeinschaftlichen und staatlichen Handeln berücksichtigt werden. Und die immer leerer laufende Maschine einzelwirtschaftlicher Produktivitätssteigerung gehört abgelöst durch eine Ökonomie des Genug (Latouche 2015, Paech 2012).

Der Begriff "The Great Transformation" war 1944 von dem österreichisch-ungarischen Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi geprägt worden, um die Herausbildung von Idee und Wirklichkeit der kapitalistischen Marktwirtschaften als verselbständigtem ökonomischem System zu charakterisieren (Polanyi 1978). Bei der nunmehr erforderlichen Großen Transformation ist das, was überwunden werden soll, eindeutiger als das, wohin es denn gehen kann. In der heutigen Welt permanenten Wandels gerät der Begriff der Transformation allerdings selbst in Gefahr, zum inhaltlich unbestimmten Modewort zu verkommen. Umso wichtiger ist es, die Aufgaben einer transformativen Wirtschaftswissenschaft zu präzisieren, die in der Lage ist, bei der Bewältigung der genannten Probleme und Herausforderungen das hinreichende Maß an Richtungssicherheit für nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.

Der vorliegende Text versteht sich als Verständigungsplattform und insofern Diskussionsangebot an alle, die an der Entwicklung und Konkretisierung einer wohlverstandenen transformativen Wirtschaftswissenschaft mitwirken wollen.

Transformation und Wissenschaft

Wie wirkt Wissenschaft auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse? Wie kann sie diese Wirkung reflektieren und gesellschaftlich verantworten? Und muss sie diese Wirkung nicht angesichts großer gesellschaftlicher Herausforderungen noch stärker entfalten? Und wie wirken umgekehrt gesellschaftliche Veränderungsprozesse auf die Wissenschaft? Dies ist eine Debatte, die in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen hat, und der sich jüngst auch der Wissenschaftsrat (2015) mit einem eigenen Positionspapier widmete. Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung (WBGU) forderte in seinem im Jahr 2011 erschienenen Hauptgutachten (WBGU 2011) zur "Großen Transformation" gar einen neuen Vertrag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein, um mit den Herausforderungen globaler nachhaltiger Entwicklungsprozesse umzugehen.

Der WBGU differenziert dabei im umfassenden Wissenschaftsteil seines Hauptgutachtens zwischen einer "Transformationsforschung", die Transformationsprozesse besser versteht und erklärt, sowie einer "transformativen Forschung", die durch ihre Ergebnisse selbst konkrete Änderungsimpulse auslösen kann. Mit dem Programm einer "transformativen Wissenschaft" (Schneidewind/Singer-Brodowski 2014) ist dieser Impuls zu einem umfassenden Reformprogramm zur gesellschaftlichen Rolle von Wissenschaft in der Gesellschaft weiterentwickelt worden. Der damit verbundene gesellschaftliche Anspruch der Förderung nachhaltiger Entwicklung wird derzeit im deutschen Wissenschaftssystem intensiv diskutiert (vgl. Strohschneider 2014, Grunwald 2015, Schneidewind 2015).

Zur Einordnung der Debatte ist es wichtig ein Verständnis davon zu haben, wie Wissenschaft überhaupt gesellschaftlich transformativ wirken kann. Dazu bedarf es einer allgemeinen gesellschaftlichen Transformationstheorie, die in der Lage ist, die Wirkung (wissenschaftlicher) Wissensproduktion in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu beschreiben. Die Giddens´sche Strukturationstheorie (Giddens 1984, Callon 2007, Austin 1979) liefert hierzu einen geeigneten Rahmen und auf ihrer Grundlage lassen sich drei grundlegende Mechanismen transformativer Wirkung von Wissenschaft beschreiben:

  1. Wissenschaft erzeugt neue Handlungsoptionen. Besonders plastisch wird dies durch neue technologische Lösungen auf der Grundlage natur- und ingenieurwissenschaftlicher Forschung oder neue Behandlungsmethoden auf der Grundlage medizinischer Forschung. Aber auch durch ökonomische Forschung ermöglichte innovative Finanzmarktinstrumente oder das Aufzeigen neuer gesellschaftlicher und ökonomischer Handlungsmodelle wie einer "Sharing Economy" fallen hierunter.
  2. Wissenschaft eröffnet neue oder dekonstruiert bestehende "Sinnhorizonte", d.h. grundsätzliche Orientierungen für die Handlungen von Akteuren. Die an Bedeutung gewinnende Debatte über erweiterte Wohlstandsmodelle oder eine Postwachstumsökonomie sind Beispiele dafür. Sie eröffnen neue Denkräume für den politischen, gesellschaftlichen und unternehmensbezogenen Diskurs. Allgemeiner gesagt, hat in den letzten Jahrzehnten insbesondere der ökonomische Imperialismus grundlegende Deutungsmuster für die Ökonomisierung unterschiedlicher Lebenswelten geschaffen, so etwa im Bereich der Bildung (vgl. Graupe 2012).
  3. Wissenschaft wirkt mit ihren Arbeiten politisch unmittelbar auf Legitimationsmuster für den gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Damit legt sie die Grundlage für verändertes politisches, aber auch gesellschaftliches und unternehmerisches Handeln. Die Intensität der Diskussion über das TTIP-Freihandelsabkommen oder über Alternativen zum BIP als Leitindikator ökonomischer Entwicklung (Diefenbacher/ Zieschank 2011) zeigt die Folgen entsprechender (De-)Legitimationsprozesse, die entscheidend auch aus der Wissenschaft heraus betrieben wurden.

Es wird also deutlich, dass die Debatte über eine "transformative Wissenschaft" spezifisch im Hinblick auf die transformative Wirkung einzelner Disziplinen geführt werden sollte (Schneidewind 2015).

Zum performativen Charakter der modernen Wirtschaftswissenschaften

Seit ihrer Grundlegung im 18. Jahrhundert haben die Wirtschaftswissenschaften ökonomische Prozesse nicht nur beschrieben, sondern bei den Akteuren wie bei den politisch Verantwortlichen die Vorstellungen davon geprägt, was als ökonomisch anzusehen bzw. zu bewerten sei: mit der Idee des Austauschs gleichberechtigter ökonomischer Akteure, die mit den wirklichen Machtverhältnissen nie übereinstimmte; mit einer auf die Optimierung einzelwirtschaftlicher Produktionsprozesse eng geführten Konzeption von Effizienz, die den gesellschaftlichen Folgewirkungen kein Augenmerk schenkte; sowie mit dem Glauben daran, das größte menschliche Glück liege in der maximalen materiellen Ausstattung, die durch technischen Fortschritt und permanentes Wirtschaftswachstum zu erreichen sei – gestützt darauf, dass die vormalige Todsünde der Habgier zum nützlichen ökonomischen Interesse umgewertet wurde (Hirschman 1980). Damit wurde ein der vorherigen Menschengeschichte in diesem Ausmaß fremdes Steigerungsspiel in Gang gesetzt (Schulze 2003), dessen zerstörerische ökologische, soziale, kulturelle und eben auch ökonomische Folgen wir heute zu tragen haben.

Die Performativität der Ökonomik wird seit langem diskutiert (Callon 1998, Hirte 2014), ist aber gerade im Kontext der Finanzkrise wieder aktuell (MacKenzie 2007). Denn die Wirtschaftswissenschaften wirken nicht nur über Gestaltungsempfehlungen und Beratungsleistungen aus der Betriebswirtschaftslehre performativ, sondern ebenso und zum Teil noch einflussreicher über die volkswirtschaftlichen Teildisziplinen (Hirschman/ Popp Berman 2013): Die neoliberalen Reformen in den globalen Volkswirtschaften ab den 80er-Jahren wären ohne die Arbeiten wirtschaftswissenschaftlicher Forschung nicht vorstellbar gewesen (vgl. Ötsch & Thomasberger 2012); in der Klimapolitik würden wir ohne Grundlage der Wirtschaftswissenschaften heute nicht über "marktbasierte Instrumente" nachdenken; komplexe Derivate in den Finanzmärkten wären ohne die Arbeiten der modernen Finanzmathematik nicht denkbar gewesen (MacKenzie 2008). Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bezieht in der Praxis regelmäßig Position für oder gegen bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen, auch wenn gegenüber der Öffentlichkeit häufig der Eindruck der wissenschaftlichen Neutralität suggeriert wird (vgl. Dullien/van Treeck, 2012).

Die Wirtschaftswissenschaften sind demnach eng in die Generierung von Handlungsoptionen für Politik und Gesellschaft sowie die Sinn- und Legitimationsprozesse gesellschaftlicher Handlungsprozesse eingebunden (vgl. Witt 1992, Graupe 2015, Priddat 2015a). Mit der Annahme, von konkret-historischen Bedingungen unabhängige Gesetzmäßigkeiten identifizieren zu können, und der Dominanz mathematischer Methoden folgen sie einem wissenschaftlichen Leitbild, das viele Möglichkeiten sozialtheoretischer Erkenntnis ignoriert (Blumer 1954). Daran ändern auch solche verhaltensökonomischen Untersuchungen nichts, die menschliche Reaktionen in Laborsituationen prüfen, statt den Hemmnissen, Bedingungen und Möglichkeiten anderen und verändernden menschlichen Handelns nachzugehen (Joas 1996).

Für eine nachhaltige Entwicklung braucht es daher eine transformative Wirtschaftswissenschaft, die sich ausdrücklich zu ihrem Charakter als "Handlungstheorie" (Beschorner 2001) und "Möglichkeitswissenschaft" (Pfriem 2011) bekennt. In Abgrenzung zur überkommenen Performativität wird dabei die gesellschaftliche Wirkungskraft der Wirtschaftswissenschaften bewusst genutzt und reflektiert, um der Verantwortung von Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft gerecht zu werden.

Die vielfältigen Strömungen transformativer Wirtschaftswissenschaft müssen zusammenkommen

Bereits die Anfänge der kapitalistischen Industriegesellschaften im 19. Jahrhundert haben eine Vielzahl nicht nur praktischer Oppositionsbewegungen, sondern auch kritischer Theorien und ökonomischer Konzepte auf den Plan gerufen. Aufgrund anhaltender ökonomischer Prosperität, zunehmendem materiellen Wohlstand auch für ärmere Bevölkerungsschichten und noch mangelnder Wahrnehmung der ökologischen Schäden waren die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg Jahrzehnte relativer gesellschaftspolitischer Stabilität. Mit dem Zusammenbruch der osteuropäischen zwangsverwalteten Gesellschaften schien der Kapitalismus ein für allemal gesiegt zu haben.

Seit Ausbruch der globalen Finanz- und zunehmend auch Wirtschaftskrise 2008 (Peukert 2010) haben sich die Verhältnisse grundlegend verändert. Die Vielfalt der Krisenerscheinungen hat zu einer neuen Vielfalt alternativer gesellschaftspolitischer und ökonomischer Konzeptionen und Strömungen geführt (vgl. Antes/ Eisenack/ Fichter 2012). Teilweise ausgehend bzw. unter Berücksichtigung von bereits bestehenden Theorieansätzen wie der Ökologischen Ökonomik (Costanza 1991) und der Evolutorischen Ökonomik (Witt 1990) haben sich vielfältige Ansätze von Commons-Ökonomie (Ostrom 2011), der Renaissance von Genossenschaften (Flieger 2011), von Gemeinwesenökonomie (Elsen 2007), Gemeinwohlökonomie (Felber 2010), Nachhaltigkeitsökonomik (CENTOS 2012), Postwachstumsgesellschaft (Seidl/ Zahrnt 2010), Postwachstumsökonomie (Paech 2012), Ökonomie des Genug (Sachs 2015) und Nachhaltigkeitsmanagement (Müller-Christ 2014) entwickelt, die in ihrer Vielfalt doch einen gemeinsamen Wärmestrom für eine bessere Zukunft von Mensch und Natur darstellen. Unser Text versteht sich als Initiative dafür, dass diese verschiedenen kritischen, nachhaltigkeitsorientierten, transformativen wirtschaftswissenschaftlichen Strömungen sich stärker aufeinander beziehen, mehr aufeinander zugehen und dadurch besser dazu beitragen, das gemeinsame Projekt einer transformativen Wirtschaftswissenschaft voranzubringen.

Das Programm einer transformativen Wirtschaftswissenschaft – Transparenz, Reflexivität, Wertebezug, Partizipation, Umgestaltung von Forschung und Lehre

Transformative Wirtschaftswissenschaft hat nach unserer Ansicht fünf Bedingungen zu genügen:

  1. Transparenz. Die normativen Annahmen werden ebenso offengelegt wie die methodischen Praktiken.
  2. Reflexivität. Das ausdrückliche Bekenntnis zu den praktischen Folgewirkungen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit erlaubt erst, diese redlich und gründlich zu reflektieren. Die historische und gesellschaftliche Kontextualisierung des wissenschaftlichen Schaffens macht die Einbettung des eigenen in das gesellschaftliche Wertesystem offenbar.
  3. Wertebezug. Die Gewinnung wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse ist kein Selbstzweck, sondern dient auch dazu, heute und in Zukunft den Menschen im Einklang mit ihren natürlichen Lebensbedingungen und in einem solidarischen Miteinander ein gelingen könnendes Leben zu ermöglichen.
  4. Partizipation. Die moderne Trennung zwischen Experten und (ahnungslosen) Laien wird aufgeweicht zugunsten der Beteiligung und Teilhabe an Prozessen der Gewinnung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnis, was vorteilhaft ist für das nötige Maß an Bescheidenheit (Reichel et al 2016).
  5. Vielfalt. Theorien- und Methodenpluralität (Netzwerk Plurale Ökonomik 2014) ist eine Minimalbedingung für gute Forschung und Lehre. Vor allem die Universitäten müssen wieder ein Ort kultureller Bildung und des Diskurses über verschiedene Theorien und Methoden werden (Graupe/ Schwaetzer 2015, Pfriem 2007)

Aufbauend auf den oben genannten Herausforderungen stellen sich einer transformativen Wissenschaft zahlreiche Problem- und Fragestellungen, u. a.:

  • Gesamtwirtschaftlicher Strukturwandel: Wie können bestehende nicht-nachhaltige Produktions- und Konsummuster rascher und wirkungsvoller aufgebrochen werden, um sowohl zu hinreichenden Reduktionen von Energie- und Ressourcenverbräuchen wie auch zur Abschaffung destruktiver Arbeit zu gelangen? Welche Branchen müssen wie interagieren, um Veränderungen in gesellschaftlich erwünschte Richtungen zu bewirken? Wie kann dieser Umbau sozialverträglich gestaltet werden?
  • Makroökonomische Dimension: Wie können Nachhaltigkeitsziele als integraler Bestandteil der Fiskal-, Verteilungs-, Arbeitszeit- und Außenwirtschaftspolitik konzipiert werden: Wie können Entwicklungen und Veränderungen gesellschaftlicher Wohlfahrt gemessen, bewertet und wirkmächtig gemacht werden? (Diefenbacher/ Zieschank 2011)
  • Transformation von Branchen: Wie können sich Branchen verändern und andere Produkte oder radikal andere Formen der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse z.B. nach Ernährung, Wohnen oder Mobilität entwickeln und anbieten?
  • Politische Prozesse: Wie können die Ideen und Vorstellungen einer transformativen Wirtschaftswissenschaft in den politischen Prozess eingebracht werden? Wie sollte sich die "Ordnung der Wirtschaft" ändern, wie das Leitbild einer sozialen und nachhaltigen Marktwirtschaft?
  • Organisation und Institutionen: Was sind Bedingungen gelingender Governancemuster für eine Transformation zu nachhaltiger Entwicklung? Welche bestehenden institutionellen Strukturen erschweren nachhaltiges Wirtschaften?
  • Unternehmen im Wandel: Welche Möglichkeiten ergeben sich für transformative Unternehmen (Pfriem et al. 2015), die über sie entwickelten gemeinschaftlichen Befähigungen auszubauen in Richtung einer Verdrängung überkommener kapitalistischer Organisationsstrukturen und -kulturen? Wie findet Wandel innerhalb und zwischen Unternehmen statt, der auch zu veränderten Mustern des Handelns und von Energie- und Ressourcenverbrauch führt?
  • Transformation des Konsums: Unter welchen Bedingungen verändern sich Konsummuster radikal? (Priddat 2015b) Wie können Rebound-Effekte vermieden werden? Wie können Prosumententum und Suffizienz nachhaltig gestärkt werden?
  • Rückbesinnung auf die Pluralität von Eigentumsformen, der Vielfalt von Nutzungsformen und deren Organisation als Grundlage des Gemeinwesens, der Gewährleistung des Zugangs zu den zentralen Lebensgrundlagen für die Bürgerinnen und Bürger und der nachhaltigen Entwicklung. Welche Güter sollten als Gemeingut deklariert und in gemeinwesenbasierten Organisationsformen (z.B. Genossenschaften, Bürgeraktiengesellschaften etc.) demokratisch bewirtschaftet werden?
  • Bildung: Wie kann Bildung nachhaltiges Wirtschaften fördern, welche persönlichkeitsbildenden und ethischen Elemente sind hierfür vonnöten und welche Finanzierungs- und Organisationsformen werden einer transformativen Bildung gerecht? Wie können die frühkindlichen und schulischen Bildungsinstitutionen nachhaltig verändert werden? Wie kann die Lehre an Universitäten und Hochschulen so gestaltet werden, dass die dort ausgebildeten jungen Menschen in die Lage versetzt werden, die Herausforderungen für eine bessere Zukunft zu bewältigen?

Für solche wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen müssen neue Wege gegangen und dafür bestehende Ansätze weiterentwickelt werden, die sich insbesondere mit den Bedingungen, Hemmnissen und Möglichkeiten kollektiver und individueller Akteure im Kontext von Transformationsprozessen beschäftigen. Dazu bedarf es kluger Verknüpfungen zwischen qualitativen und quantitativen Vorgehensweisen.

Für die Behandlung dieser Fragen kann neben der herkömmlichen quantitativen ökonomischen Methodik u. a. zurückgegriffen werden auf neue Modellierungsansätze der ökologischen Makroökonomik (Jackson 2011), qualitative Differentialgleichungen (Eisenack et al. 2007) oder die agentenbasierte Modellierung (Beckenbach et al. 2013). Unabdingbar sind allerdings auch Methoden der (vergleichenden) sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung.

Fazit

Der vorliegende Text ist ein Aufschlag zur Diskussion, sowohl innerhalb der Wirtschaftswissenschaften wie auch zwischen Wirtschaftswissenschaft und jenen außerwissenschaftlichen Akteuren, die in gesellschaftlicher und ökonomischer Transformation in Richtung Nachhaltigkeit engagiert sind. Er versteht sich als Aufforderung und Einladung an weitere Interessierte, gerade auch an diejenigen, die in eigenen Zusammenhängen an der überfälligen paradigmatischen Wende der Wirtschaftswissenschaften arbeiten.

Der Aufruf "Für einen neuen Vertrag zwischen Wirtschaftswissenschaft und Gesellschaft – Transformative Wissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung[ a ]" wurde unterzeichnet von:

  • Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie
  • Prof. Dr. Reinhard Pfriem, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
  • Jonathan Barth, Netzwerk Plurale Ökonomik
  • Prof. Dr. Thomas Beschorner, Universität St. Gallen
  • Prof. Dr. Mathias Binswanger, Fachhochschule Nordwestschweiz
  • Prof. Dr. Hans Diefenbacher, Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg
  • Prof. Dr. Klaus Eisenack, Humboldt-Universität Berlin
  • Prof. Dr. Susanne Elsen, Universität Bozen
  • Prof. Dr. Nils Goldschmidt, Universität Siegen
  • Prof. Dr. Silja Graupe, Vizepräsidentin der Cusanus Hochschule, Bernkastel-Kues
  • Prof. Dr. Gerd Grözinger, Universität Flensburg
  • Prof. Dr. Bernd Hansjürgens, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
  • Dr. Lisa Herzog, Institut für Sozialforschung, Frankfurt/M.
  • Dr. Katrin Hirte, Johannes Kepler Universität Linz
  • Thomas Korbun, Wissenschaftlicher Geschäftsführer, Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW)
  • Prof. Dr. Marco Lehmann-Waffenschmidt, Technische Universität Dresden
  • Prof. Dr. Georg Müller-Christ, Universität Bremen
  • Dr. Barbara Muraca, Oregon State University
  • Prof. Dr. Walter Ötsch, Johannes Kepler Universität Linz
  • Prof. Dr. Niko Paech, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
  • Prof. Dr. Stephan Panther, Universität Flensburg
  • Prof. Dr. Helge Peukert, Universität Erfurt
  • Ulrich Petschow, Leiter des Forschungsfeldes Umweltökonomie und Umweltpolitik, Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW)
  • Prof. Dr. Birger Priddat, Universität Witten/Herdecke
  • Prof. Dr. André Reichel, Karlshochschule Karlsruhe
  • Prof. Dr. Wolfgang Sachs, Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie
  • PD Dr. Irmi Seidl, Swiss Federal Research Institute Birmensdorf
  • Prof. Dr. Bernd Siebenhüner, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg;
  • Prof. Dr. Till van Treeck, Universität Duisburg/Essen
  • Prof. Dr. Ulrich Witt, Friedrich-Schiller-Universität Jena
  • Prof. Dr. Angelika Zahrnt, BUND
  • Prof. Dr. Joachim Zweynert, Lehrstuhl für Internationale Politische Ökonomie, Universität Witten/Herdecke

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©KOF ETH Zürich, 22. Jun. 2016

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