Photo: Lux First Cruise (CC BY-ND 2.0) Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim. Es ist vielfach gerätselt worden, weshalb David Cameron vor der Unterhauswahl von 2015 das Versprechen abgab, im Falle seiner Wiederwahl innerhalb von zwei Jahren ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU abzuhalten. Die gängige Erklärung ist, dass er damit die europapolitischen Meinungsverschiedenheiten in seiner Partei ein für alle mal beenden wollte. Aber wäre ihm das auf diese Weise gelungen? Hätten die Brexiteers endlich Ruhe gegeben? Plausibler ist eine andere Erklärung. Die Konservative Partei hatte in der vorangegangenen Unterhauswahl von 2010 die Mehrheit der Sitze verfehlt und eine Koalition mit den
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Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.
Es ist vielfach gerätselt worden, weshalb David Cameron vor der Unterhauswahl von 2015 das Versprechen abgab, im Falle seiner Wiederwahl innerhalb von zwei Jahren ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU abzuhalten. Die gängige Erklärung ist, dass er damit die europapolitischen Meinungsverschiedenheiten in seiner Partei ein für alle mal beenden wollte. Aber wäre ihm das auf diese Weise gelungen? Hätten die Brexiteers endlich Ruhe gegeben?
Plausibler ist eine andere Erklärung. Die Konservative Partei hatte in der vorangegangenen Unterhauswahl von 2010 die Mehrheit der Sitze verfehlt und eine Koalition mit den Liberaldemokraten eingehen müssen. Nicht im Parlament vertreten war mit einem Stimmenanteil von 3,1 Prozent die UK Independence Party (UKIP), die mit der Forderung nach einer Volksabstimmung in den Wahlkampf gezogen war. Aber nachträgliche Berechnungen zeigten, dass die Konservativen eine komfortable Mehrheit der Sitze errungen hätten, wenn die UKIP-Wähler – oder ein großer Teil von ihnen – stattdessen in den einzelnen Wahlkreisen für die konservativen Kandidaten gestimmt hätten. Camerons Ziel musste es daher sein, UKIP bei der nächsten Unterhauswahl den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er tat dies, indem er die UKIP-Forderung nach einer Volksabstimmung übernahm. Zudem konnte er hoffen, der EU in Verhandlungen vor der Volksabstimmung Zugeständnisse zugunsten Großbritanniens abzutrotzen. Beide Ziele erreichte er. Cameron gewann die Wahl von 2015. Seine Entscheidung, ein Referendum über den Verbleib in der EU anzukündigen und abzuhalten, war daher nicht mutwillig, wie manche behauptet haben, sondern – zumindest aus der Sicht eines konservativen Parteiführers – Teil einer ex ante klugen Strategie, zumal damals alle Welt mit einem Sieg der “Remainers” rechnete.
Erklärung des Brexit-Votums
Weshalb siegten in dem Referendum die “Leavers”? Die gängige Erklärung ist, dass die anderen EU-Staaten, insbesondere Bundeskanzlerin Merkel und die Osteuropäer, nicht bereit waren, den Briten eine autonome Einwanderungspolitik zuzugestehen. Dabei wird meist übersehen, dass sich der britische Unmut über die EU schon über längere Zeit aufgebaut hatte. Denn die Briten waren seit den neunziger Jahren immer wieder in wichtigen Fragen im Rat und Parlament überstimmt worden. Meistens ging es dabei um europäische Arbeits- und Finanzmarktregulierungen, d.h., Eingriffe in die Vertragsfreiheit. Die Regulierungen der EU zwangen Großbritannien, die restriktiveren Regulierungen anderer Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreichs, zu übernehmen. Frankreich hat nach einigen Erhebungen die restriktivsten Arbeitsmarktregulierungen in der EU.[1] In den neunziger Jahren wurden die folgenden EU-Arbeitsmarktregulierungen gegen britischen Widerstand beschlossen: die Richtlinie über die Arbeit auf Schiffen (1993), die Arbeitszeitrichtlinie (1993), die Richtlinie über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (1994) und die Richtlinie über die Arbeitsausrüstung (1995). Als Rechtsgrundlage diente der EU der neue Artikel 118a, der 1987 durch die Einheitliche Europäische Akte in den EWG-Vertrag eingefügt worden war und qualifizierte Mehrheitsentscheidungen über Vorschriften für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zuließ. Die britische Regierung klagte gegen die Arbeitszeitrichtlinie wegen der nicht tragfähigen Rechtsgrundlage. Der Europäische Gerichtshof hielt aber an der Richtlinie fest.
Es folgten europäische Finanzmarktregulierungen, die ebenfalls gegen britischen Widerstand durchgesetzt wurden: 2003 die Richtlinie über Finanzdienstleistungen und 2010 die Verordnungen über die Errichtung der European Banking Authority (EBA), der European Securities Market Authority (ESMA) und einer EU-Regulierungsbehörde für die Versicherungswirtschaft. Als Rechtsgrundlage wählte die EU den Binnenmarktartikel von 1987 (Art. 100a EWGV, heute Art. 114 AEUV), obwohl dieser qualifizierte Mehrheitsentscheidungen nur für Maßnahmen erlaubt, die dazu dienen, “einen Raum, ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital … gewährleistet ist” (Art. 8a EWGV, heute Art. 26 AEUV), herzustellen. Da Unterschiede zwischen den nationalen Finanzmarktregulierungen durchaus mit der Freiheit des Kapitalverkehrs vereinbar sind, sah die britische Regierung keine Rechtsgrundlage für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen über EU-Regulierungen der Finanzmärkte (Fahey 2011). Sie strengte eine Musterklage gegen die ESMA-Verordnung an, wurde aber vom Gerichtshof abgewiesen, obwohl ihr der finnische Generalanwalt (Jääskinen) recht gab. David Cameron drohte 2011 damit, den europäischen Fiskalpakt durch sein Veto zu verhindern, wenn Großbritannien nicht wieder die Kontrolle über die City erhalte. Die Eurostaaten vereinbarten aber daraufhin den Fiskalpakt außerhalb des EU-Rechtsrahmens in einem völkerrechtlichen Vertrag ohne Großbritannien.
Die European Banking Authority setzt Standards und kann, wenn sie den Krisenfall ausruft, den nationalen Regulierungsbehörden konkrete Anweisungen erteilen oder sogar einzelne Banken schließen (Art. 18 EBAV). Schon 2009, als Michel Barnier zum EU-Binnenmarktkommissar, zuständig für die Finanzmärkte, ernannt wurde, nahmen Präsident Sarkozy und seine Finanzministerin Christine Lagarde die City of London ins Visier[2], und der französische Finanzmarkt-Rapporteur im Europa-Parlament, Jean-Paul Gauzès, bekannte im Juli 2010 freimütig, es gehe darum, das höhere französische Regulierungsniveau per Mehrheitsentscheidung auf die gesamte EU zu übertragen.[3] In der Politischen Ökonomie wird diese Methode als “Strategy of Raising Rivals’ Costs” bezeichnet.[4] Sie dient der Mehrheit der regulierungsfreudigsten Länder dazu, ihre relative Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Weil dabei der Deregulierungswettbewerb entfällt, steigt das Regulierungsniveau auch in den zur Mehrheit gehörenden Staaten. Auch wenn sich ein Mitglied der Minderheit durch Austritt der Majorisierung entzieht, steigt nach dieser Theorie das von der Mehrheit durchgesetzte gemeinsame Regulierungsniveau der verbliebenen Mitglieder, weil nun ein regulierungsfreudigeres Mitglied der Mehrheit den Ausschlag gibt. Das austretende Land wird ceteris paribus jeweils der freiheitlichste Mitgliedstaat sein. Tatsächlich hat kein EU-Staat einen weniger regulierten Arbeitsmarkt als Großbritannien.[5]
Nach dem Austritt Großbritanniens werden die in der EU verbliebenen Staaten jedoch einem Deregulierungswettbewerb ausgesetzt sein, der das präferierte Regulierungsniveau in jedem EU-Mitgliedstaat und daher auch das gemeinsame EU-Regulierungsniveau senkt.
Ein Musterbeispiel für die Strategy of Raising Rivals’ Costs war im übrigen die EU-Folgerechtsrichtlinie (2001). Sie verpflichtet den Kunsthandel (Galerien und Auktionshäuser), einen bestimmten Prozentsatz des Verkaufserlöses an die Künstler oder ihre Erben zu zahlen. Das Folgerecht wurde zuerst als “Droit de Suite” in Frankreich, dann in den meisten damaligen EU-Staaten eingeführt – aber nicht in Großbritannien mit seinen berühmten Londoner Auktionshäusern Sotheby’s, Christie’s und Phillips. Die Briten wehrten sich, aber Frankreich setzte die Richtlinie mit qualifizierter Mehrheit durch.
In britischen Zeitungen wurde ausführlich über diese Niederlagen berichtet[6], in deutschen meines Wissens nicht. Es gibt eben keine europäische Öffentlichkeit.
Wenn Großbritannien mit seiner geringen Regulierungsdichte nicht in Brüssel in eine systematische Minderheitsposition geraten wäre, hätte wahrscheinlich nicht eine Mehrheit der Briten für den Austritt gestimmt, denn die Entscheidung war knapp.
Dass die EU-Regulierungen überhaupt mit qualifizierter Mehrheit beschlossen wurden, rechtfertigen Kommission, Rat und Gerichtshof – wie erwähnt – mit zwei Artikeln, die 1987 im Rahmen des Binnenmarktprojekts mit britischer Zustimmung in den Vertrag eingefügt worden waren. Was sich die Briten damals nicht träumen ließen, war, dass diese Artikel so extensiv – nämlich aus den genannten Gründen offenkundig ultra vires – ausgelegt würden. Einer Regulierung der City durch die EU hätte Margaret Thatcher 1987 sicher nicht zustimmen wollen.
Die deutsche Bundesregierung mit ihrem großen Stimmgewicht hätte die Briten vor den französischen Regulierungsattacken schützen können, aber sie tat es nicht. Trotzdem beklagte sie gelegentlich den britischen Austrittswunsch.
Die Verhandlungen
Die Verhandlungen über den Austritt begannen mit einem Paukenschlag: Die 27 in der EU verbleibenden Staaten ernannten Michel Barnier – den Mann, der den Widerstand der City gebrochen hatte, d.h., den in London meistgehassten französischen Politiker – zu ihrem Verhandlungsführer. Für die Briten war das die größtmögliche Provokation. Auch im Folgenden taten die 27 alles, um den Austritt der Briten zu erschweren.
Daran beteiligte sich auch der EU-Gerichtshof. Art. 50 EUV, der das Austrittsverfahren regelt, legt in Absatz 2 fest: “Die Verträge finden auf den betroffenen Staat [d.h. Großbritannien] ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach [dem Austrittsgesuch] keine Anwendung mehr, es sei denn der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.” Die Richter erfanden noch eine weitere Ausnahme: es sei denn, der betroffene Staat zieht sein Austrittsgesuch zurück. Von einer solchen Möglichkeit ist jedoch in den Verträgen nirgends die Rede. Man wollte erreichen, dass die Briten ihr Austrittsgesuch zurückziehen würden.
Theresa May ist kritisiert worden, weil sie es unterlassen habe, vor Einreichung des Austrittsgesuchs die Verhandlungschancen auszuloten. Sie, die nach eigenem Bekunden gegen den Austritt gestimmt hatte, verstand das Votum der Bürger als bedingungslose Aufforderung zum Austritt. War es nicht so gemeint?
Wie ist es zu erklären, dass die 27 zusammenhielten und Barniers französische Verhandlungslinie vorbehaltlos unterstützten? Alle 27 hatten ein fiskalisches Interesse, den Austritt des britischen Nettozahlers zu verhindern. Aber auch nachdem das Austrittsabkommen längst beschlossene Sache war, weigerten sich Barnier und die 27, Großbritannien ein Freihandelsabkommen zuzugestehen, wie sie es mit Kanada geschlossen hatten. Denn sonst hätten die Binnenmarktmitglieder Norwegen und Island, vielleicht sogar die Schweiz, vergleichbare Konditionen fordern können. Manfred Weber (CSU), der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei im Europa-Parlament, gab sogar die Losung aus: “Der Brexit darf kein Erfolg werden”. In letzter Konsequenz war dies die Forderung nach einer destruktiven Verhandlungsstrategie: den Briten sollte der größtmögliche Schaden zugefügt werden. Man wollte ein Exempel statuieren, damit nicht noch andere Staaten austreten. Anscheinend hält man die Gefahr für groß. Ein Zeichen der Stärke ist das nicht.
Dass man sich schließlich doch auf einen “Deal” geeinigt hat, ist wahrscheinlich einer gut organisierten Interessengruppe zu verdanken: den französischen Fischern. Die Briten haben durchgesetzt, dass sie zukünftige Arbeitsmarktregulierungen der EU nicht übernehmen müssen und dass die City nicht mehr von EU-Institutionen reguliert werden kann. Auch die Folgerechtsabgabe für den Kunsthandel können sie wieder abschaffen. Der Gerichtshof der EU wird in Großbritannien nichts mehr zu sagen haben, und auch an den Schiedsverfahren zwischen Großbritannien und der EU wird er nicht beteiligt sein.
Literatur:
Adema, Joop, Yvonne Giesing, Anne Schönauer, Tanja Sitteneder (2018), “Minimum Wages Across Countries”, ifo Dice Report 4/2018, S. 55 – 63.
Boockmann, Bernhard, and Roland Vaubel (2009), “The Theory of Raising Rivals’ Costs and Evidence from the International Labor Organization”, The World Economy 32, 862-87.
Fahey, Elaine (2011), “Does the Emperor have financial crisis clothes?”, Modern Law Review 74: 581-95.
OECD (2015), Employment Protection Legislation, Organization for Economic Cooperation and Development, Paris.
Salop, Susan C., and David T. Scheffman (1983), “Raising Rivals’ Costs”, American Economic Review 73: 267-71.
Stigler, George J. (1970), “Director’s Law of Public Income Redistribution”, Journal of Law and Economics 13: 1-10.
Vaubel, Roland (2008), “The Political Economy of Labor Market Regulation by the European Union”, Review of International Organizations 3: 435-465.
Vaubel, Roland (2020), “Frankreich als Problem für Europa”, in: Hardy Bouillon, Carlos A. Gebauer (Hg.), Freiheit in Geschichte und Gegenwart, Lau-Verlag: Reinbek, 185-218 (eine kürzere Fassung ist am 03.05.19 unter demselben Titel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen).
[1] Vgl. Adema et al. (2018), Table 1, OECD (2015) und die Auswertung in Vaubel (2020), Tab. 5 und 6.
[2] Nach einem Bericht der Times vom 02.12.09 hatte Sarkozy gesagt: „Do you know what it means for me to see for the first time in 50 years a French European Commissioner in charge of the internal market, including financial services, including the City? I want to see the victory of the European model, which has nothing to do with the excesses of financial capitalism“. Zwei Tage später zitierte die Financial Times Ministerin Lagarde: „We need a City that plays by different rules“.
[3] Gauzès: „Dans un pays comme la France, il y a une vraie tradition de surveillance des institutions financières. L’avantage d’une supervision européenne serait d’étendre les mêmes règles partout“ (Le Figaro, 07.07.2010).
[4] Die Idee scheint von George Stigler (1970) zu stammen, der dabei auf die amerikanische Mindestlohngesetzgebung Bezug nimmt. Der Begriff findet sich wohl zuerst in Salop und Scheffman (1983). Boockmann und Vaubel (2009) präsentieren ein formales Modell der Strategie und eine Übersicht der wichtigsten empirischen Analysen (von P.V. Fishback, E. Landes, H.P. Marvel, S. Oster, P.E. Teske et al.). Bernholz und Vaubel (2007) haben einen Konferenzband herausgegeben, der Fallstudien für verschiedene Bundesstaaten (USA, Kanada, Schweiz, Deutschland) enthält.
[5] Vgl. Vaubel (2008), Table 5, eine Übersicht über vier Indices der Arbeitsmarktregulierung (OECD, Botero et al., Gwartney/Lawson und Nickell/Nunziata). Nach diesen Indizes hat jedoch nicht Frankreich, sondern Portugal die restriktivsten Arbeitsmarktregulierungen.
[6] Vgl. Fußnote 2.