Photo: Wikimedia Commons (CC 0) Von Nikolai Ott, Co-Founder keepitliberal.de und Student der Internationalen Beziehungen in Dresden. Friedrichstraße hier, Friedrichstraße dort – man kann den Abschluss des Berliner Wahlkampfes allein schon deswegen begrüßen, weil man in deutschen Medien nicht mehr von dieser sonst ziemlich unbekannten Lokalstraße belästigt wird. Vier Wochen hatten Berliner Politiker und Politikerinnen scheinbar nichts Besseres zu tun, als ihren Wahlkampf auf die Zukunft einer Straße zu fokussieren. Zwischen der symbolischen Umfunktionierung in eine dysfunktionale Flaniermeile und der demonstrativen Verteidigung des Automobils wurde in dieser Peinlichkeit von Wahlkampf eines deutlich: Wir haben ein Stadtproblem. Deutschland hat ein parteiübergreifendes Großstadtproblem, weil
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Von Nikolai Ott, Co-Founder keepitliberal.de und Student der Internationalen Beziehungen in Dresden.
Friedrichstraße hier, Friedrichstraße dort – man kann den Abschluss des Berliner Wahlkampfes allein schon deswegen begrüßen, weil man in deutschen Medien nicht mehr von dieser sonst ziemlich unbekannten Lokalstraße belästigt wird. Vier Wochen hatten Berliner Politiker und Politikerinnen scheinbar nichts Besseres zu tun, als ihren Wahlkampf auf die Zukunft einer Straße zu fokussieren. Zwischen der symbolischen Umfunktionierung in eine dysfunktionale Flaniermeile und der demonstrativen Verteidigung des Automobils wurde in dieser Peinlichkeit von Wahlkampf eines deutlich:
Wir haben ein Stadtproblem. Deutschland hat ein parteiübergreifendes Großstadtproblem, weil jede Partei auf die Frage “wie wollen wir leben?” nur die Antwort “Kleinstadt” zu kennen scheint. Geht es nach deutschen Parteien, hat niemand das Konzept Großstadt nur im Ansatz verstanden. Mit Auto-Provinzialismus auf der einen und dem vor die Haustür verlagerten Schweden-Urlaub auf der anderen Seite, manifestiert sich im deutschen Stadt-Verständnis eine in die Größe projizierte Kleinstadt ohne Ambitionen.
“Die große Stadt hat nicht Zeit zum Denken, und was noch schlimmer ist, sie hat auch nicht Zeit zum Glück.” Nicht erst seit Theodor Fontane ist das deutsche Stadtproblem strukturell. In der deutsch-romantischen Verehrung des Natürlichen findet die Großstadt als Verkörperung der Moderne schon seit Jahrhunderten nur einen Platz als Drohkulisse. So kontrastiert Goethe in seinem Die Leiden des jungen Werthers die “unaussprechliche Schönheit der Natur” mit der “unangenehmen Stadt”. Und während Fontane seine Effi Briest in der hinterpommerschen Kleinstadt verdorren lässt, darf im französischsprachigen Pendant Gustave Flauberts Emma von dem Ausblick auf die Großstadt träumen.
“Sie wollte sterben, aber sie wollte auch in Paris leben”, heißt es in Madame Bovary. Und nicht nur bei Flaubert; im französischen Realismus strebt alles vom Kleinen ins Große, aus dem begrenzten Dorfleben in das wilde Durcheinander der Metropole. Kaum eine Liebesaffäre endet nicht in Paris. Während in Deutschland die Natur besungen wird, spielt das französische Leben des 19. Jahrhunderts im verworrenen Alltag der Pariser Großstadt. Es ist die Stunde der Expansion. Die Stunde der auf der Suche nach Liebe, Arbeit und Vergnügen in die Städte strömenden Massen der Industrialisierung. Viele deutsche Intellektuellen folgten dem Ruf der französischen Weltmetropole, um den Alltag der deutschen Kleinstadt-Tristesse zu entfliehen.
Und so sollte es nicht überraschen, dass Walter Benjamins Passagen-Werk in Paris entstand. Deutschland hätte eine solche magische Stadt mit ihren Warenhäusern, Passagen und Panoramen im Keim erstickt. In der Gegenwart der Städte, so Benjamin, reflektiert sich immer auch die Zukunft eines Landes. Nicht ohne Grund schreibt er, in Anlehnung an den französischen Historiker Jules Michelet, dass jede Epoche die nächste erträume. In den Straßen, Fassaden und Gassen einer Stadt kommt es zur seltenen Vereinigung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Was also sagt es über Deutschland aus, wenn unsere Parteien ausnahmslos ein kleingeistig-provinzielles Stadtbild vertreten? Dabei enttäuschen insbesondere genau die Parteien, die sich eigentlich dem Fortschritt verschrieben haben.
Nehmen wir die Liberalen, die schon wöchentlich durch zweieinhalb halb-lustige Tweets über Berlin ihre Provinzialität zur Schau stellen. Liberale, die Verkehrsrevisionen aus der tiefsten schwäbischen Provinz vertreten, und damit nicht einmal die zugewanderten Schwaben überzeugen. Es ist die urbane Widersprüchlichkeit der Liberalen, bei Wohnungsbaupolitik genau die richtigen marktbasierten Ansätze zu vertreten, um gleichzeitig einen befremdlichen Parkplatz-Sozialismus zu verteidigen. Im Fuhrpark-Mindset wird günstiges Parken zum Menschenrecht und jeder Wunsch nach weniger innerstädtischen Verkehr zum Angriff auf den “einfachen” Menschen.
Während Liberale und Konservative von ihren Provinz-Sesseln aus über die Hauptstadt spotten, träumt man in grünen Großstadt-Blasen davon, die Heimatmetropole zur Kleinstadt umzubauen; zur Provinzschönheit, um den Schweden-Urlaub gleich vor die Haustür zu verlagern. Bullerbü im Prenzl’berg. In der Stadt der akuten Wohnungsnot, erlaubt sich eine privilegierte Mittelschicht, den Bau neuer Wohnungen konsequent zu blockieren. Es sind die gleichen Grünen, die zwar fleißig jede Enteignungsinitiative unterschreiben, aber beim Ausblick auf mehr, höhere und bessere Wohnungen plötzlich den Status Quo zelebrieren. Da wird laut *Gentrifizierung* geschrien, weil die überwiegend zugewanderten Berliner keine Lust auf weitere Zuwanderung haben.
In der grünen Verkehrspolitik wird die liberal-konservative Hubraum-Provinzialität richtigerweise angeprangert, nur um darauf mit kleinstädtischer Entschleunigung zu antworten. Weniger Parkplätze und ein paar weniger Straßen klingt gut, aber was kommt dann? Meist nichts Besseres. Lieber baut man die Friedrichstraße in eine Flaniermeile um, auf der freilich niemand freiwillig flanieren möchte, als die freigewordenen Flächen für Wohnungen, Geschäfte und Cafés zu öffnen. Man schafft handtuchgroße Grünflächen, die mit der knappen Fläche noch schlechter umgehen als die Parkplätze; und Straßenbemalungen, die an das Chaos nach Kindergeburtstagen erinnern; und Öko-Klos, die nach einer Woche nicht mehr funktionieren, dafür aber mehr als 50.000 Euro gekostet haben. Einer Großstadt ist das alles nicht würdig.
Und hier sind wir wieder am Ausgangspunkt: Keine Partei hat die Großstadt verstanden. Die deutsche Provinz-Verehrung zieht sich von der Romantik in die Gegenwart. Dass sich die angesagteste deutsche Indie-Band dieser Tage “Provinz” nennt und in ihrem bekanntesten Song verkündet “Ich will nicht in die Großstadt (…) ich habe Angst mich zu verlieren” ist symptomatisch für den neoromantischen Ruf des Provinziellen. Und selbst der Rap, dessen Ursprünge in den urbanen Zentren Amerikas liegen, knüpft in Deutschland nahtlos bei Goethe oder Fontane an, wenn er den Rentneralltag im schwäbischen Bietigheim-Bissingen bejubelt – der Heimat des Rappers Rin, wo wohl Songzeilen wie “Komm und treff mich in der Kleinstadt” entstanden sind. Während Rin sein neuestes Album “Kleinstadt” nennt, darin aber durchaus unprovinzielle Songs veröffentlicht, reden deutsche Politiker pathetisch über Großstädte, zielen aber eigentlich auf deren Provinzialisierung ab.
Zurück zu Walter Benjamin: In der Architektur einer Stadt spiegeln sich auch immer die Träume und Hoffnungen einer Gesellschaft. Wo in anderen Teilen der Welt die Moderne als Chance begriffen wird und die Stadt zum Ausdruck der Zukunft wird, überwiegt in Deutschland der Abwehrreflex gegen die ausufernde Moderne. Wo hierzulande Entschleunigung im Sinne Goethes grassiert, ist in Städten wie Tokio oder Seoul Expansion der schwungvolle Takt der modernen Stadt. Hochhäuser, ambitionierte Architektur und ein stets pünktlicher ÖPNV – in Deutschland gilt es mehr als ein Jahrzehnt aufzuholen.