Photo: Hubertl from Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0) Von Karl von Habsburg, Präsident der Paneuropa-Union Österreich. Anlässlich seines 60. Geburtstags am 11. Januar hat Karl von Habsburg eine Rede zur Zukunft Europas gehalten, die wir Ihnen hier sehr gerne zugänglich machen. Ein runder Geburtstag sollte nicht nur ein Grund zum Feiern sein, sondern auch Gelegenheit für eine kritische Betrachtung bieten. Mein Vater hat seine Geburtstage immer auch zum Anlass genommen, um einen kritischen Blick auf die Politik zu werfen, und dabei den Versuch zu unternehmen, die europäische Tagespolitik in einen größeren Kontext zu stellen. In dieser Tradition fange ich natürlich auch gerne mit einem Zitat von ihm an: „Wer nicht weiß woher er kommt, der weiß auch nicht, wohin er geht, weil er nicht weiß, wo
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Von Karl von Habsburg, Präsident der Paneuropa-Union Österreich.
Anlässlich seines 60. Geburtstags am 11. Januar hat Karl von Habsburg eine Rede zur Zukunft Europas gehalten, die wir Ihnen hier sehr gerne zugänglich machen.
Ein runder Geburtstag sollte nicht nur ein Grund zum Feiern sein, sondern auch Gelegenheit für eine kritische Betrachtung bieten. Mein Vater hat seine Geburtstage immer auch zum Anlass genommen, um einen kritischen Blick auf die Politik zu werfen, und dabei den Versuch zu unternehmen, die europäische Tagespolitik in einen größeren Kontext zu stellen. In dieser Tradition fange ich natürlich auch gerne mit einem Zitat von ihm an:
„Wer nicht weiß woher er kommt, der weiß auch nicht, wohin er geht, weil er nicht weiß, wo er steht.“ Viele von Ihnen kennen dieses Zitat. Ich nehme dieses Zitat mit Absicht als Einleitung für diese Rede, die unter dem Titel „Rede zur Zukunft Europas“ steht. Denn die heute entscheidende Frage lautet: Können wir die Zukunft Europas gestalten, wenn wir nicht wissen, was die Grundlagen und was die Erfolgsrezepte Europas sind? Und damit meine ich Europa als Ganzes und die Europäische Union im Speziellen. Denn die Europäische Union ist die Keimzelle der so wichtigen europäischen Einigung.
In Europa wurden im vorigen Jahrhundert einige Versuche unternommen, den Himmel auf Erden zu erschaffen: Nationalismus, Nationalsozialismus, Kommunismus, all diese Ideologien sind gescheitert. Sie haben Millionen von Menschen in den gewaltsamen Tod getrieben und massive wirtschaftliche Schäden verursacht. Ideologien sind vermeintliche Heilslehren, die kein Heil bringen können, weil sie sich der Vernunft entziehen. Gerade in Zeiten, in denen die Menschen durch Krisen bedroht sind, werden sie offensichtlich anfällig für solche Heilslehren. In Europa – aber nicht nur hier – halten wir den Frieden und den Wohlstand, den wir seit Ende des Zweiten Weltkriegs innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dann der Europäischen Gemeinschaft und jetzt der Europäischen Union erleben dürfen, für selbstverständlich, oder wollen, dass Frieden und Wohlstand für selbstverständlich gehalten werden.
Krisen haben wir von vornherein ausgeschlossen. Und wenn sie doch kommen – denn ohne Krisen kommt die friedlichste Zeit nicht aus –, dann haben wir auf jenen Wohlfahrtsstaat vertraut, der sich spätestens ab den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, im Westen des Kontinents beginnend, in Europa etabliert hat. Mit einem kritischen Rückblick auf die Zeit, in der ich aufgewachsen bin, möchte ich sagen, wir haben diesen Wohlfahrtsstaat im Schatten des Kalten Krieges entwickelt.
Dass wir diesen Wohlfahrtstaat im Schatten des Kalten Krieges entwickeln konnten, verdanken wir mindestens zwei Umständen. Das eine ist der militärische Schutzschirm, den die westliche Supermacht USA mit der Nato über den westlichen Teil Europas gespannt hat. Österreich, wenn auch nicht Mitglied der Nato, konnte hier auch profitieren. Der zweite Umstand ist jene Politik, die unter dem Begriff „Wirtschaftswunder“ heute noch bekannt ist. Es war eine Politik, für die nicht Planwirtschaft, sondern Marktwirtschaft im Mittelpunkt stand. Der Staat hat Ordnungspolitik betrieben, nicht Interventionspolitik. In Deutschland stand dafür Ludwig Erhard, in Österreich der Raab-Kamitz-Kurs. Eine solide Währungspolitik der deutschen Bundesbank hat mit dazu beigetragen, dass sich ein solider Mittelstand etablieren konnte, der durch Leistung, Sparen und Investieren, sowohl im privaten als auch im unternehmerischen Sinn, dazu beigetragen hat, dass es der nächsten Generation besser ging. Ich sage das in Dankbarkeit und Respekt, erstens weil auch ich dieser Generation angehöre und weil wir zweitens daraus viel lernen können.
Allerdings, und das muss deutlich gesagt werden, sind die Politik des Wirtschaftswunders, also Ordnungspolitik auf der einen Seite, und der Wohlfahrtsstaat auf der anderen Seite, gegensätzliche Konzepte. Die Politik des Wirtschaftswunders basiert auf Eigeninitiative und Leistung. Der Wohlfahrtsstaat ist ein Konzept, um die Bürger – noch dazu mit ihrem eigenen Geld – vom Staat abhängig zu machen.
Die Entwicklung dieses Wohlfahrtsstaates im Schatten des Kalten Krieges hat auch die außenpolitische Kraft der europäischen Länder erlahmen lassen. Eine Entwicklung, die wir sowohl während der Kriege am Balkan in Folge der Auflösung Jugoslawiens beobachten mussten, aber auch bei der Aggression Russlands gegen die Ukraine. Es war für die europäischen Politiker recht bequem, die wirklich wichtigen außenpolitischen Entscheidungen, inklusive der Sicherheitspolitik, den USA zu überlassen.
William S. Schlamm, damals einer der führenden konservativen Publizisten im deutschsprachigen Raum, fasste diese negative Entwicklung in einem „Nachruf auf den Staat“ zusammen. Dieser Nachruf erschien bereits 1978 in der von Schlamm herausgegebenen „Zeitbühne“. Schlamm schreibt: „Als er ein Wohlfahrtsstaat wurde, hat der Staat abgedankt. Denn man kann wohl nicht länger über die Tatsache hinwegsehen, dass kein westlicher Staat noch Politik im klassischen Sinne betreibt – also ein Staat ist. Politik im klassischen Sinne ist die Anwendung legislativer und exekutiver Mittel zur Durchsetzung einer Konzeption – eines deklarierten, fassbaren und in den meisten Fällen außenpolitischen Ziels. Im Westen wurde Staatspolitik zum letzten Male von Charles de Gaulle betrieben; und auch er wurde von seinen Nachfolgern Pompidou und Giscard d`Estaing aufs läppischste widerrufen. In allen anderen Ländern des Westens gab es während der letzten zwanzig Jahre nicht eine einzige Regierung, die Politik im klassischen Sinn betrieben oder auch nur verstanden hätte.“ Schlamm kritisiert dann den Wohlfahrtsstaat als eine politische Gemeinschaft, „deren gesamte staatliche Potenz so völlig in Fürsorgemaßnahmen für das behagliche Publikum verbraucht wurde, dass für Staatspolitik nichts übrig blieb.“
Dieser Wohlfahrtsstaat braucht einen immer größeren Staatsapparat, um die vergemeinschafteten Mittel zu verwalten. Damit verbraucht er aber immer größere Mittel aus dem Steuertopf, um die eigene Bürokratie zu erhalten. Das Ergebnis ist dann das, was der leider fast in Vergessenheit geratene Ökonom Felix Somary in seinen „20 Sozialgesetzen der verkehrten Proportionen“ beschreibt. Im Gesetz Nummer 4 sagt er: „Je mehr Funktionen ein Staat übernimmt, desto schwerer ist seine Verwaltung zu kontrollieren.“ Und er ergänzt im Gesetz Nummer 5: „Je größer und je vielseitiger der Staat, desto einflussloser das Volk.“ Dieser Staat wird also immer mehr zu einer nach innen gerichteten Bürokratie. Um es mit William S. Schlamm zuzuspitzen: „Für die Innenpolitik braucht man gute Buchhalter, für die Außenpolitik Staatsmänner.“
Es ist nicht die Aufgabe von Buchhaltern, um in diesem Beispiel zu bleiben, Geopolitik zu betreiben. Es ist aber Aufgabe einer europäischen Politik, Geopolitik für Europa zu betreiben. Betreibt Europa nicht selbst Geopolitik, betreiben sie andere mit Europa. Und wenn hier der Begriff Europa verwendet wird, dann ist damit auch Europa gemeint, nicht einzelne Nationalstaaten in Europa. In der heutigen politischen Realität hat keines der einzelnen EU-Länder die Kraft, diese Herausforderung alleine zu bewältigen.
Der schon zitierte Krisenseismograph Felix Somary ist auch ein Zeuge dafür, dass die Annahme, im Wohlfahrtsstaat gäbe es keine Krisen mehr, eben nur eine Illusion ist. Eines der sicheren Zeichen für eine Krise ist seiner Analyse nach, eine Politik des billigen Geldes. Dass praktisch alle großen Zentralbanken, im Dienste der Politiker, eine solche Politik des billigen Geldes betreiben, ist nicht zu leugnen. „Je mehr die Ökonomie eine Erhöhung des Zinsfußes verlangt, desto mehr senkt ihn die Politik,“ fasst es Somary in den 20 Sozialgesetzen der verkehrten Proportionen zusammen.
Das Problem dabei ist, dass die Politik heute Krisen nicht mehr meistert, sondern eine neue Krise die alte Krise aus den Medien und damit aus der öffentlichen Debatte verdrängt. Die sogenannte Eurokrise, um ein bekanntes Beispiel zu nennen, ist nach wie vor nicht gelöst. Geschweige denn die Überschuldung der Staaten. Die Corona-Pandemie hat nur alles andere aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal auf einem Punkt zurückkommen, den ich am Anfang kurz erwähnt habe, aber noch nicht näher erläutert habe: die Grundlagen Europas, deren wir uns bewusst sein sollten, wenn wir die Zukunft Europas gestalten wollen.
Meistens wird dabei auf die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Bezug genommen, auf den Schuman-Plan. Allerdings gab es schon kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges eine ganz konkrete Idee für die europäische Einigung, nämlich die Paneuropa-Idee von Richard Coudenhove-Kalergi. Der hat vor fast 100 Jahren die Lage Europas analysiert und aus dieser Lage Schlussfolgerungen gezogen.
1918, das Ende des Ersten Weltkrieges, war eine historische Zäsur für Europa und für die Weltpolitik. Bis dahin gab es eine europäische Ordnung. Nicht in dem Sinne, dass Europa eine politische Einheit gewesen wäre, aber Weltpolitik war gleichbedeutend mit der Politik europäischer Mächte. So lange sie sich in Kongressen zusammenreden konnten, um die Ordnung zu wahren oder eine neue Ordnung zu schaffen, waren die Konflikte zumindest gedrosselt. So konnte Europa in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg einen unglaublichen wirtschaftlichen Aufstieg verzeichnen, der auch durch einen internationalen Handel und eine internationale Arbeitsteilung, also das, was wir heute Globalisierung nennen, befördert wurde. 1918 trat ein, was 1914 keiner der damals führenden Politiker, egal in welchem der beteiligten Länder, je in seine Überlegungen miteinbezogen hatte.
In Mitteleuropa wurde ein über Jahrhunderte gewachsener Kulturraum zerstückelt. Der Nationalismus übernahm das Ruder. 1918 brachte auch das Ende der Idee von übernationalen Staaten. Es wurde aber nicht nur ein Kulturraum zerstückelt, sondern auch ein Wirtschaftsraum. Jeder einzelne Staat versuchte, seine Probleme durch Abschottungspolitik, durch Protektionismus und Nationalismus zu lösen, machte sie aber in Wirklichkeit nur schlimmer.
Was waren nun die Lehren aus der Zäsur von 1918 für Richard Coudenhove-Kalergi? Das in Kleinstaaten zersplitterte Europa würde zum Spielball außereuropäischer Mächte werden – er nannte Russland und die USA –, die Politik des Protektionismus würde den Schaden nur erhöhen, so seine klare Analyse. Deshalb müsse Europa zu einem Zusammenschluss finden, da es ansonsten in einen weiteren verheerenden Krieg stürzen würde. Und wir wissen heute wie klar seine Vision damals in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts war, und was darauf folgte.
Sein Ansatz von damals war geopolitischer Natur. Es ging ihm um die Neufassung einer europäischen Ordnung. Nicht im Sinne eines – wohl auch damals schon – unrealistischen Zurück zur alten Ordnung, sondern im Sinne einer Struktur, die Europa als weltpolitische Handlungseinheit wiederherstellen, und es nicht zu einem Spielball außereuropäischer Mächte machen würde.
Deshalb stand im Zentrum seiner Überlegungen erstens eine europäische Außenpolitik – um auf der Bühne der Weltpolitik nicht von anderen beherrscht zu werden –, zweitens eine europäische Sicherheitspolitik – um in dieser Frage nicht von anderen abhängig und damit dominiert zu werden, oder in einen neuerlichen innereuropäischen Krieg gezogen zu werden –, sowie drittens der Abbau sämtlicher innereuropäischer Zollschranken. Heute würde man das als freien Binnenmarkt bezeichnen, also Europa als eine Zone des Freihandels. Dazu kam damals schon die Überlegung einer gemeinsamen Währung, die in Coudenhoves-Konzept auf dem damals noch existierenden Goldstandard beruhte, und ein europäisches Bundesgericht, also das was wir heute als Europäischen Gerichtshof haben.
Die Freiheit der Bürger, Eigenverantwortung, und ein Staat, der sich auf das Setzen der Rahmenbedingungen im Sinne eines Rechtsstaates beschränkt, waren eine weitere Basis seiner damaligen Überlegungen für die europäische Einigung.
Die europäische Sicherheitspolitik stand als Grundlage auch am Beginn der realen europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird wohl viel zu wenig darüber nachgedacht, dass es zu den Grundprinzipien der Gründerväter der Europäischen Union gehörte, einen großen Sicherheitsraum zu schaffen, der einen neuerlichen Krieg unter den europäischen Ländern unmöglich machen sollte. Die damalige Teilung Europas durch den Eisernen Vorhang hat es notwendig gemacht, diesen Sicherheitsraum vorerst auf den freien Westen des Kontinents zu beschränken. Den Gründervätern war damals auch bewusst, dass man in der damaligen Situation diesen Sicherheitsraum militärisch und politisch nicht direkt schaffen konnte. Dazu war die politische Lage nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht reif. Deswegen wussten sie, dass es notwendig sein würde, diesen Raum auf einer wirtschaftlichen Ebene zu schaffen, mit dem Ziel, die politischen und auch die sicherheitspolitischen Institutionen folgen zu lassen.
Der Kerngedanke der europäischen Einigung ist die Schaffung einer gemeinsamen Zone der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dieser Kerngedanke gilt natürlich für ganz Europa, beruht also auf dem Grundsatz, dass jedes europäische Land das Recht haben muss, an dieser europäischen Einigung teilzunehmen. Die Kriterien dafür sind definiert.
Dass die europäische Einigung in ihrer Anfangsphase nur auf den Westen Europas beschränkt war, war der damaligen geopolitischen Lage in Europa geschuldet. Daraus allerdings irgendeine Art Vorrecht der sechs Gründerländer der damaligen Gemeinschaft für Kohle und Stahl abzuleiten, wäre vollkommen abwegig. Man kann den Slowaken, Ukrainern oder Kosovaren nicht vorwerfen, dass sie damals durch einen Eisernen Vorhang von der europäischen Kultur abgeschnitten waren.
Es war also nur logisch, nach dem Fall des Eisernen Vorhanges im Jahr 1989 eine Politik der Erweiterung zu verfolgen, für die man sogar das Schlagwort von der „Wiedervereinigung Europas“ verwendete. Es schien damals so etwas wie eine strategische Orientierung der Politik zu geben.
Über die Parteigrenzen und Staatsgrenzen hinweg – sieht man von einigen Kleinparteien ab – gab es den breiten Konsens, im Sinne eines gesamteuropäischen Ansatzes, jene Länder in die EU zu integrieren, die bisher dazu keine Möglichkeit hatten. Das waren neben den drei neutralen Ländern Finnland, Österreich und Schweden vor allem die mitteleuropäischen Staaten des ehemaligen Ostblocks und ein Teil der Länder des ehemaligen Jugoslawiens. Dabei folgte man einem Ansatz, der schon bei der Aufnahme von Spanien und Portugal galt: Durch die Integration sollten die demokratischen Institutionen gefestigt werden, die Rückkehr zu autoritären Regimen oder totalitären Diktaturen sollte verhindert werden.
Heute geht es um die Integration der sechs Länder Südosteuropas, die noch nicht Mitglied der EU sind. Zurecht hält die EU-Kommission in ihren jüngsten Berichten zur Erweiterung fest, dass die Aufnahme von Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien in die EU eine „geostrategische Investition in Frieden, Sicherheit und Wirtschaftswachstum in ganz Europa ist“. Die geostrategische Bedeutung der Region ist jedem klar, der die Geschichte kennt. Es gibt in der Politik auch kein Vakuum. Wenn Europa sich aus der Region zurückzieht, dann bleibt anderen Mächten umso mehr Spielraum, um ihre Interessen in Südosteuropa zu vertreten. Neben Akteuren wie Russland und Türkei, die schon aus der Geschichte mit der Region und der Politik der Region verbunden sind, ist es heute vor allem China, aber auch beispielsweise Saudi-Arabien mit seinem Wahabismus, das massiven Einfluss ausübt. Die Interessen dieser Akteure decken sich nicht mit den sicherheitspolitischen Interessen Europas.
Seine sicherheitspolitischen Interessen muss Europa selbst formulieren und vertreten.
Und wenn ich Russland und China nenne, dann ist auch klar, dass es da in erster Linie um geopolitische Interessen geht. Das sollten auch jene Mitgliedsländer der EU bedenken, die aus meist kleinlichen nationalen oder gar nationalistischen Interessen heraus Blockaden gegen diese Erweiterung aufbauen.
Wir müssen aber auch in Richtung Osten blicken, wo ein Land wie die Ukraine mit dem Euromaidan oder der Revolution der Würde, wie es auch genannt wird, klar gemacht hat, dass die Bürger dieses Landes ihre Zukunft in Europa und nicht unter russischer Dominanz sehen. Zweifellos gibt es in all diesen Ländern nach wie vor große Probleme, beispielsweise in den Bereichen der Rechtsstaatlichkeit und der Korruption, aber es sind europäische Länder. Wer die europäische Einigung ernst nimmt, muss es für jedes europäische Land möglich machen, der Europäischen Union beizutreten. Deshalb trete ich auch dafür ein, die jetzige Nachbarschaftspolitik gegenüber der Ukraine in eine konkrete Beitrittsperspektivenpolitik zu ändern.
Auch wenn die europäische Perspektive in der Demokratiebewegung in Belarus keine echte Rolle spielt, so gehört es zu unserer Pflicht, diese Demokratiebewegung zu unterstützen, wo es nur geht. Wenn Europa, wenn die EU die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie so betont, dann müssen diese Prinzipien auch gegenüber Belarus gelten.
Aus all dem Gesagten gilt es natürlich Schlussfolgerungen zu ziehen und konkrete Anleitungen für die Politik zu entwickeln. Bevor ich dazu komme, möchte ich aber noch auf zwei Punkte eingehen, die ich ebenfalls als Grundprinzipien Europas bezeichnen möchte, und über die derzeit auch immer wieder heiß diskutiert und gestritten wird.
Das sind die Themen Rechtsstaatlichkeit und Freiheit.
Gehen wir zurück in die griechische Mythologie. Europa war eine wunderschöne phoenizische Prinzessin. Zeus, der griechische Göttervater, verwandelte sich in einen wohlriechenden Stier, um Europa nach Kreta zu entführen. Dort hatten sie gemeinsam einige Kinder. Zwei davon gingen als die gerechtesten Herrscher in die Geschichte Kretas ein, weil sie das Recht respektiert haben.
So gesehen steht die Rechtsstaatlichkeit tatsächlich am Beginn der europäischen Idee.
Dass sie nicht immer selbstverständlich war, ist uns aber aus der Geschichte Europas bekannt. Die sogenannte päpstliche Revolution des 11. bis 13. Jahrhunderts war ein historischer Prozess, der einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung rechtsstaatlicher Prinzipien leistete. Erst der Absolutismus brachte wieder einen Rückschritt. Für die absoluten Herrscher waren nur ihre Untertanen gleich vor dem Gesetz. Mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit sind aber auch die Herrscher selbst ans Recht gebunden. In der neueren Zeit ist für mich der Wiener Kongress so etwas wie die Zäsur, ab der sich in Europa das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt hat. Mit dieser Rechtsstaatlichkeit wurde Europa ein stabiles Fundament gegeben, das damit eine spätere sehr positive Entwicklung ermöglicht hat.
Auf diesem Fundament beruhen weitere Grundpfeiler wie das Privateigentum, die persönliche Haftung für Misserfolg aber auch Erfolge, damit das private Unternehmertum, das auf Innovation setzen muss, um erfolgreich zu sein. Die Rechtssicherheit ist natürlich eine Grundvoraussetzung für Privateigentum, und Privateigentum ist eine Grundvoraussetzung für Wohlstand und für die Schaffung eines Mittelstandes. Der Wohlstand, den Europa damit erwirtschaftet hat, ist sicher auf dieses Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zurückzuführen. Dass sich diese Prinzipien in einer Kultur entwickeln konnten, die ganz eindeutig christlich geprägt ist, ist kein Zufall.
Diese Betonung des Rechts ist deshalb so wichtig, weil gerade in Europa immer wieder Rufe nach einem Primat der Politik laut werden. Die Politik müsse alles regeln. Je mehr sie das tut, umso tiefer aber wird der Konflikt mit dem Recht. Dieser Konflikt wird immer schärfer, weil immer seltener rechtsstaatliche Grundsätze regieren – also die Herrschaft des Rechts -, sondern Machtverhältnisse. Dieser Konflikt wirkt sich langfristig zum Schaden Europas aus.
Ein weiteres Wesenselement der europäischen Identität ist die Freiheit. Um es mit Richard Coudenhove-Kalergi zu sagen: „Das europäische Ideal ist Freiheit – die europäische Geschichte ein einziges langsames Ringen um persönliche, geistige, nationale und soziale Freiheit. Europa wird bestehen, solange es diesen Kampf fortsetzt; sobald es dieses Ideal preisgibt und seiner Mission untreu wird, verliert es seine Seele, seinen Sinn, sein Dasein. Dann hat es seine historische Rolle ausgespielt.“
Die europäische Einigung, die europäische Politik aber sollte nicht das Ziel haben, die historische Rolle Europas auszuspielen, sondern sie zu nutzen!
Freiheit ist nicht selbstverständlich. Freiheit muss immer wieder neu erkämpft werden. Freiheit ist untrennbar mit Verantwortung verbunden. Und diese Verantwortung für die Freiheit können wir nicht an den Staat delegieren.
Um den Begriff der Freiheit zu fassen, muss ich die englische Sprache zu Hilfe zu nehmen. Die kennt nämlich zwei Begriffe für das, was wir Freiheit nennen: Liberty und Freedom. Beide Begriffe bezeichnen etwas anderes. Jemand der die Begriffe sehr gut definiert hat war Murray Rothbard, einer der klassischen Vertreter der Austrian School of Economics. Er hat gesagt: „Living in Liberty allows each of us to fully enjoy our Freedom.“ Also: Nur wenn wir in einem äußeren System der Freiheit leben, können wir die innere Freiheit tatsächlich genießen und ausleben. Liberty im englischen Begriff bezeichnet das äußere Konstrukt der Freiheit, also das was uns den Freiraum tatsächlich schafft, während Freedom die innere Freiheit bedeutet. Also zum Beispiel die Freiheit, dass ich denken kann was ich will. Die innere Freiheit, die mir eigentlich keiner nehmen kann. Um diese innere Freiheit leben zu können, bedarf es eines äußeren Konstruktes. Es ist auch ganz klar, dass dieser Begriff der äußeren Freiheit, the Liberty, eine der wichtigsten Aufgaben der Politik überhaupt ist.
Der Schutz der Freiheit ist also die oberste Aufgabe der Politik. Es ist nicht Machterhalt und Machtausübung, wie uns das heutzutage so gerne vorgeführt wird, sondern Dienst an den ewigen Werten: Recht, Freiheit und Menschlichkeit. Ihre Sicherung ist das Wesen und die Rechtfertigung des Staates. „Die drei Begriffe – Individualismus, Freiheit, Rechtsordnung – sind Ausdruck derselben tieferen Realität, die wir als die geistig-kulturelle Substanz des Europäertums bezeichnen können“, um es mit einer Formulierung meines Vaters Otto von Habsburg zu sagen.
Sie kennen den schönen Ausspruch: Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Auch die europäische Einigung wird nicht an einem Tag vollendet, sie ist ein Prozess, der von Fortschritten und Rückschlägen gekennzeichnet ist. Wichtig ist dabei, dass wir die Grundlagen Europas nicht vergessen, sondern sie immer wieder in die politische Gestaltung einfließen lassen. Und genauso wichtig ist es, die richtigen Schritte zu setzen, um den konkreten Herausforderungen begegnen zu können.
Ich habe vorhin lange über Außen- und Sicherheitspolitik gesprochen, über die Notwendigkeit der EU-Erweiterung und über die geopolitischen Herausforderungen – die nicht weniger werden –, und die Schwächen, die die EU in diesem Bereich nach wie vor hat. Daraus leitet sich auch eine ganz konkrete Forderung ab:
Gerade in dieser Außen- und Sicherheitspolitischen Frage braucht es eine europäische Souveränität. Souveränität bedeutet im konkreten Fall die Fähigkeit zu handeln und zu gestalten. Europäische Politik würde hier vom Potenzial einen eindeutigen Mehrwert gegenüber einer reinen Nationalstaatspolitik bringen. Um es weiter zu präzisieren: Die Europäische Union braucht eine europäische Außenpolitik. Europäische Außenpolitik bedeutet nicht Koordinierung der Außenpolitik von 27 Mitgliedsländern durch den Hohen Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (der gleichzeitig auch einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission ist), und wo einzelne Länder beispielsweise bei wichtigen Fragen wie der Menschenrechtspolitik in China, eine europäische Stellungnahme blockieren können, sondern ein EU-Außenministerium mit einem Außenminister (oder einer Außenministerin) an der Spitze.
Dazu brauchen wir einen Kern einer europäischen Verfassung, in der genau diese außenpolitische Kompetenz für die Europäische Union festgeschrieben wird. Ein Punkt übrigens, der auch allen Anforderungen der Subsidiarität entsprechen würde.
Dass dieser Schritt nicht so einfach sein wird, muss uns allen klar sein. Es wird noch viel Überzeugungsarbeit brauchen, um Europa tatsächlich außenpolitisch aufstellen zu können. Und es wird notwendig sein, eines der größten Hindernisse für eine Einstimmigkeit in der Frage zu erzielen:
Dieses Hindernis ist die Schuldenfrage der öffentlichen Haushalte.
Vielleicht ist der Zusammenhang auf den ersten Blick nicht so klar. Aber wenn wir die immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen um Budget, Fonds, oder zuletzt auch die Auseinandersetzungen um einen Rechtstaatlichkeitsmechanismus und Blockaden dazu betrachten, dann ist klar, dass die Frage der Haushalte immer wieder eingesetzt werden kann, um Fortschritte in Einzelbereichen zu blockieren. Man denke auch an das Gespött über die sogenannten frugalen Vier bei den Budgetverhandlungen im Vorjahr.
Auch jene Länder in der EU, die nicht der Eurozone angehören, sind über den Fiskalpakt und die Fragen des EU-Haushaltes mit den Entscheidungen über die finanzielle Zukunft der EU verbunden. Wenn es ums Geld geht, ist immer viel Sprengkraft vorhanden. Ein ungeregeltes Auseinanderbrechen der Eurozone würde wohl die Funktionsweise der gesamten EU massiv beeinträchtigen, wenn nicht sogar ihr Ende bedeuten. Eine Gefahr, die man aufgrund der geopolitischen Herausforderungen auf gar keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen sollte.
Wir müssen deshalb ganz konkrete Schritte einer Entschuldung der Eurozone überlegen und vorbereiten.
Der Fiskalpakt, der zu einem Abbau der Schuldenlast hätte führen sollen, ist gescheitert. Trotz gesetzlich festgelegter Schuldenbremsen haben viele europäische Länder höhere Schulden gemacht. Mit der Coronakrise ist diese Lage noch schlimmer geworden. Die EZB konterkariert mit ihrer Politik den Abbau der Schulden. Das betrifft sowohl die Nullzinspolitik als auch den Ankauf von Staatsanleihen. Damit werden keine Anreize zum Abbau von Schulden gesetzt, im Gegenteil, eine höhere Verschuldung wird attraktiv.
Ein sich auf dem Markt frei bildender Zins aber ist notwendig, um eine freie Wirtschaft möglich zu machen. Kann sich der Zins nicht frei bilden, wird die Marktwirtschaft in immer mehr Bereichen der Wirtschaft ausgehebelt und verkommt zu einer politisch gelenkten Staatswirtschaft. Ein Szenario von dem vielleicht sozialistische, planwirtschaftliche Ideologen träumen, das aber garantiert nicht im Interesse eines Europas der Freiheit ist.
Drei Schritte sind aus meiner Sicht notwendig, um eine Entschuldung der Eurozone durchzuführen und danach wieder ein gesundes Wirtschaftssystem zuzulassen. Drei Schritte bedeuten, dass diese drei Schritte auch tatsächlich als Gesamtkonzept umgesetzt werden.
Erstens sollte die EZB die Staatschulden der Euroländer auf ihre Bilanz nehmen. Zweitens müsste sie den Bürgern der Eurozone eine sichere Bankeinlage durch Volldeckung mit Zentralbankgeld ermöglichen sowie einen digitalen Euro als Vollgeld schaffen. Und drittens muss durch die Zulassung von konkurrierenden Privatwährungen marktwirtschaftlicher Abwanderungsdruck erzeugt werden, der den Euro durch die praktische Möglichkeit aus ihm auszuwandern, stabilisiert.
Der erste Schritt wurde, wenn auch nicht in vollem Umfang, bereits von der EZB durch ihr Anleihekaufprogramm begonnen. In dem Augenblick, wo er in vollem Umfang umgesetzt wird, ist der größte Spaltpilz in der EU, die Staatsverschuldung, mit einem Schlag beseitigt. Die anderen beiden Schritte sind notwendig, um den Übergang zu einer marktwirtschaftlichen Geldordnung möglich zu machen. Banken können dann ohne Problem in Konkurs gehen, weil Bankeinlagen durch das Zentralbankgeld nicht untergehen. Der jeweilige Bankkunde muss nur der Abwicklungsbehörde mitteilen, auf welche andere Bank seine Einlage übertragen werden soll.
Wichtig in diesem Konzept ist die Umsetzung aller drei Punkte, wobei zu beachten ist, dass digitaler Euro nicht gleich digitaler Euro ist.
Ideen für einen digitalen Euro wurden auch schon in Publikationen von EZB-Mitarbeitern präsentiert und werden seit Oktober von der EZB intern getestet. Diese Konzepte zielen jedoch nicht auf die Transformation unseres fragilen Geld- und Banksystems hin zu einer marktwirtschaftlichen Geldordnung, sondern sollen im Gegenteil das bestehende fragile Geldsystem erhalten.
Die Digitalisierung wird hier nicht genutzt, um Probleme zu lösen, sondern um Probleme weiter zu verschleppen. Ein solches digitales Zentralbankgeld wäre de facto nichts anderes als der Einstieg in die Abschaffung von Bargeld. Bargeld allerdings ist gelebte Freiheit.
Ein solches Konzept würde vielleicht nach China passen, wo dann eine zentrale Behörde nach irgendwelchen social credit Punkten festlegt, wer was kaufen darf, oder überhaupt etwas kaufen darf oder nicht. Dieses totalitäre Konzept wird durch die Zulassung von konkurrierenden Privatwährungen, wie beispielsweise Kryprowährungen, verhindert.
Bereits im Vorjahr wurde von den europäischen Institutionen Kommission, Parlament und Rat eine Konferenz zur Zukunft Europas angekündigt. Sie soll die wichtigsten Zukunftsfragen für die europäische Einigung besprechen. Völlig unabhängig von solchen Konferenzen ist es immer wichtig, über die Zukunft Europas zu diskutieren, wenn nötig auch kontrovers, und auch mit Ideen und Ansätzen, die vielleicht nicht so auf den Tagesordnungen der Sitzungen der Institutionen stehen.
Auch wenn es momentan ein kleines, aber gefährliches Virus ist, das täglich die Schlagzeilen dominiert, so sollten wir uns mit den notwendigen Reformen beschäftigen.
Auch wenn wir diese Veranstaltung nur digital durchführen können, wenn wir nicht im Anschluss an diese Rede noch bei einem Glas Wein oder Wasser über die Inhalte debattieren können, die Welt um uns herum bleibt nicht stehen. Wenn wir als Europäer unser Schicksaal nicht selber in die Hand nehmen, dann werden es andere für uns tun.
Meine Priorität ist hier ganz klar. Wir müssen die Zukunft Europas selbst gestalten!
Erstmals veröffentlicht bei Paneuropa-Union Österreich.
Literatur
William S. Schlamm „Nachruf auf den Staat“, in „Zeitbühne“, Heft 3, März 1978
Felix Somary „Krise und Zukunft der Demokratie“, TvR Medienverlag 2010
Otto von Habsburg „Mut zur Pflicht“, Patmos Verlag 2011
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