Die Schulden- und Bankenkrise hat gezeigt, dass die institutionelle Architektur der Eurozone gravierende Schwachstellen aufweist. Kritische Punkte betreffen insbesondere die fehlende Regelbindung bei Entscheidungen auf der Europäischen Ebene, das zum Teil unklare Mandat der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie Defizite im Bankensystem, die über die Eurozone hinausreichen (siehe hierzu auch den Ökonomenstimme-Beitrag "Grollaps"). Bei vielen europäischen Entscheidungsträgern scheint jedoch eine andere Sicht der Dinge vorzuherrschen. Sie sehen fehlende Koordination und Effizienz der nationalen Fiskalpolitiken sowie mangelnde supranationale Aufsicht als wesentliche Gründe für das Ausmass der Krise an. Dementsprechend kamen sie bereits vor vier Jahren überein, den Stabilitäts- und Wachstumspakt um eine Komponente zur Überwachung und Bekämpfung makroökonomischer "Ungleichgewichte" zu ergänzen.
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Die Schulden- und Bankenkrise hat gezeigt, dass die institutionelle Architektur der Eurozone gravierende Schwachstellen aufweist. Kritische Punkte betreffen insbesondere die fehlende Regelbindung bei Entscheidungen auf der Europäischen Ebene, das zum Teil unklare Mandat der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie Defizite im Bankensystem, die über die Eurozone hinausreichen (siehe hierzu auch den Ökonomenstimme-Beitrag "Grollaps").
Bei vielen europäischen Entscheidungsträgern scheint jedoch eine andere Sicht der Dinge vorzuherrschen. Sie sehen fehlende Koordination und Effizienz der nationalen Fiskalpolitiken sowie mangelnde supranationale Aufsicht als wesentliche Gründe für das Ausmass der Krise an. Dementsprechend kamen sie bereits vor vier Jahren überein, den Stabilitäts- und Wachstumspakt um eine Komponente zur Überwachung und Bekämpfung makroökonomischer "Ungleichgewichte" zu ergänzen. Und in ihrem kürzlich vorgelegten Bericht schlagen die fünf Präsidenten von Europäischer Kommission, Euro-Gipfel, Euro-Gruppe, EZB und Europäischem Parlament ein noch ehrgeizigeres Programm mit ähnlicher Ausrichtung vor: Neben der Aufsicht über die nationalen Fiskalpolitiken und ihre Koordination gehört dazu eine gemeinsame Rückversicherung für die nationalen Einlagensicherungssysteme (der Einstieg in die dritte Säule der Bankenunion), ein Eurozonen-Finanzministerium, umfassendere Massnahmen zur makroökonomischen Stabilisierung und weitere Schritte in Richtung einer wirtschaftlichen, finanziellen und fiskalischen Union.
In ihren Grundzügen baut die geplante institutionelle Architektur der Eurozone auf dem Ansatz des Stabilitäts- und Wachstumspaktes auf. Demnach sollen die Mitgliedsländer der Eurozone gegenseitig und von der Kommission dazu angehalten werden, ihr Handeln an paneuropäischen Wachstums- und Stabilitätszielen auszurichten und damit mittelbar auch die Geldpolitik der EZB zu unterstützen. Problematisch daran ist allerdings, dass genau dieser Ansatz in der Vergangenheit gescheitert ist.
Von Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion an war klar: das "No-Bailout-Prinzip" der Eigenverantwortlichkeit für nationale Staatsschulden und sein Gegenstück, die Unabhängigkeit der EZB mit ihrem Mandat der Preisstabilität, tragen die Hauptlast in der Abwehr opportunistischer Fiskalpolitik und der sich daraus ergebenden Probleme. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt diente lediglich als zweite Verteidigungslinie; er sollte vermeiden helfen, dass sich die Frage nach der Eigenverantwortlichkeit überhaupt erst stellt. In der Tat mag man die Existenz des Paktes sogar als Indiz dafür werten, dass Zweifel bestanden, ob das No-Bailout-Prinzip im Ernstfall wirklich durchgesetzt würde.
Derartige Zweifel erwiesen sich als begründet. Schon in einem frühen Stadium der Krise machten Vertreter von EZB, Kommission und nationalen Regierungen klar, dass sie strikt gegen einen Staatsbankrott in der Eurozone waren — und dementsprechend gegen die Durchsetzung des No-Bailout-Prinzips. Und auch die zweite Verteidigungslinie, der Stabilitäts- und Wachstumspakt, stellte sich als brüchig heraus. Statt Fiskaldisziplin zu erzwingen, geriet er zur zahnlosen Pflichtübung. Nachdem Deutschland und Frankreich mildernde Umstände für sich in Anspruch genommen hatten, wurde der Pakt nahezu irrelevant. Daran haben auch die Reformen vor vier Jahren im Wesentlichen nichts geändert, wie der laxe Umgang mit Frankreichs Staatsdefiziten zeigt.
Für die Finanzmärkte kam diese Entwicklung wohl nicht völlig überraschend. Sie hatten die Bonität von Staatsschulden der Eurozonen-Länder trotz unterschiedlicher Rahmendaten über Jahre hinweg nahezu identisch bewertet — genauso wie es zu erwarten ist, wenn nationale Schulden faktisch gegenseitig garantiert werden. Seit "Private Sector Involvement" bei staatlichen Zahlungsschwierigkeiten jedoch an Wahrscheinlichkeit gewonnen hat, ist die Bereitschaft privater Investoren zur unreflektierten Finanzierung von Staatsdefiziten gefallen.
Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen somit, dass die Durchsetzung von Regeln wie im Stabilitäts- und Wachstumspakt auf politischer Ebene nicht möglich ist — sie liegt nicht im Interesse derjenigen, die bei Regelverstössen Sanktionen auslösen müssten. Finanzmärkte hingegen können Fiskaldisziplin erzwingen, selbst wenn sie kurzfristig erratisch agieren. Denn Anleger haben ein starkes Eigeninteresse daran, dass ihre Forderungen nicht entwertet werden.
Eingeschränkte Glaubwürdigkeit
Vor diesem Hintergrund gibt die Glaubwürdigkeit der geplanten institutionellen Architektur in der Eurozone Anlass zur Skepsis. Dasselbe gilt auch für deren Umfang und Inhalt. Viel Konkretes hierzu ist zwar noch nicht bekannt — in der Kommissionsbroschüre zum Fünf-Präsidenten-Bericht ist von einem "integrated framework for sound and integrated fiscal policies" die Rede — doch die vorhandenen Anhaltspunkte stimmen wenig optimistisch.
Insbesondere das Ziel, makroökonomische "Ungleichgewichte" frühzeitig zu identifizieren und auf Ebene der Kommission und des Rates zu bekämpfen, ist ökonomisch wenig sinnvoll. Zum einen ist völlig unklar, wie eine makroökonomische Entwicklung vor dem Hintergrund der verfügbaren Daten zuverlässig als "ungleichgewichtig" taxiert und ihr effizient entgegengewirkt werden könnte — man denke zum Beispiel an Leistungsbilanzdefizite, deren Angemessenheit von einer Vielzahl von Faktoren, darunter Erwartungen über die Zukunft, abhängt.
Zum anderen bleibt unberücksichtigt, dass es Märkte sind, die angesichts dieser Vielzahl von Faktoren am besten (mittels des Preismechanismus) einen Ausgleich herbeiführen können —nicht Experten oder Bürokraten. Aufgabe von Politik muss es daher sein, die ausgleichende Funktion von Märkten zu bewahren, nicht Marktergebnisse vorwegzunehmen. Letzteres würde weniger zum gewünschten Ausgleich als vielmehr zu einer Erhöhung der Unsicherheit und zu Fehlsteuerungen führen.
Weitere Elemente der angestrebten Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalunion, zum Beispiel die gemeinsame Einlagensicherung oder Finanzierung von automatischen Stabilisatoren, werfen offensichtliche Fragen nach den Anreizen auf, die mit solchen Massnahmen verbunden wären. Zu Recht weisen die fiskalisch besser gestellten Euro-Mitgliedsländer darauf hin, dass zwischenstaatliche "Solidarität" zwingend mit dem Abtreten nationaler Souveränität einhergehen muss. Alles andere würde Trittbrettfahrerverhalten begünstigen und früher oder später zu Einkommenseinbussen für alle Mitgliedstaaten führen.
Ebenso wichtig wie die strikte Durchsetzung der Einheit von Haftung und Kontrolle jedoch ist die vorgängige Prüfung, ob Kompetenzverlagerungen überhaupt notwendig und zweckmässig sind. Zu bejahen ist dies nur dann, wenn Probleme supranational besser gelöst werden können als auf der nationalen Ebene und die Verlagerung keine neuen Probleme schafft. Im Zweifel gebührt dem Subsidiaritätsprinzip Vorrang vor krisenbedingten "Mehr-Europa"-Reflexen.
©KOF ETH Zürich, 9. Okt. 2015