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Die Vermessung des Unbekannten

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Photo: Andreas Praefcke from Wikimedia Commons (CC 0) Von Prof. Dr. Thomas Mayer, Kuratoriumsvorsitzender von Prometheus und Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute. Dieser Text ist ein Auszug aus dem jüngst erschienen Buch “Die Vermessung des Unbekannten – Ein Essay über Geld und Gesellschaft in Zeiten radikaler Unischerheit“. Die Corona-Pandemie, oder besser gesagt die mehr oder weniger sinnvollen und mehr oder weniger effektiven Maßnahmen des Staates zu ihrer Bekämpfung, sind uns allen gehörig auf den Wecker gegangen. Aber wo viel Schatten ist, gibt es auch zumindest ein wenig Licht. Der Zwang, zu Hause zu bleiben, hat uns viel Zeit verschafft, zu „streamen“, nachzudenken oder – und das trifft auf mich zu – zu schreiben. So ist im Verlauf des letzten Jahres eine

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Photo: Andreas Praefcke from Wikimedia Commons (CC 0)

Von Prof. Dr. Thomas Mayer, Kuratoriumsvorsitzender von Prometheus und Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem jüngst erschienen BuchDie Vermessung des Unbekannten – Ein Essay über Geld und Gesellschaft in Zeiten radikaler Unischerheit“.

Die Corona-Pandemie, oder besser gesagt die mehr oder weniger sinnvollen und mehr oder weniger effektiven Maßnahmen des Staates zu ihrer Bekämpfung, sind uns allen gehörig auf den Wecker gegangen. Aber wo viel Schatten ist, gibt es auch zumindest ein wenig Licht. Der Zwang, zu Hause zu bleiben, hat uns viel Zeit verschafft, zu „streamen“, nachzudenken oder – und das trifft auf mich zu – zu schreiben. So ist im Verlauf des letzten Jahres eine Serie von Kommentaren, Artikeln und Videos entstanden, in der ich mich mit der Frage beschäftigt habe, wie wir mit dem in Gegenwart und Zukunft lauernden Unbekannten umgehen. Die Antwort ist in den dunkleren Wochen und Monaten des Herbst-Winter Lockdowns zu einem Buch geronnen. Für alle, die meine Beschäftigung mit diesem Thema verfolgt haben oder sich für dieses Thema interessieren, will ich im Folgenden meine Diagnose unseres Umgangs mit dem Unbekannten zusammenfassen und meinen Vorschlag zum richtigen Umgang skizzieren.

Seit uns der Glaube an die göttliche Vorsehung abhandengekommen ist, haben wir uns zu ihrer Ergründung angewöhnt, in mathematischen Wahrscheinlichkeiten zu denken. Wenn wir schon nicht wissen können, was passieren wird, dann können wir doch vielleicht eine Liste der möglichen Entwicklungen erstellen und für jede eine Wahrscheinlichkeit vergeben. In seinem Buch „Against the Gods“ erzählt der Finanzhistoriker Peter L. Bernstein die Geschichte der Vermessung der Zukunft mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Dazu muss mathematisch unfassbare Unsicherheit in mathematisch messbare Risiken verwandelt werden. Aus den uns vorstellbaren, künftig möglichen Entwicklungen wählen wir diejenige mit der höchsten Wahrscheinlichkeit als Prognose und vertrauen darauf, dass die Wahrscheinlichkeiten anderer Entwicklungen mit der Größe der Abweichung von der Prognose sinken. Unsicherheit wird scheinbar zum messbaren und damit versicherbaren Risiko.

Einige, aber nicht alle Risiken können wir privat versichern. Deshalb errichten wir den Versicherungsstaat, den wir beauftragen, unsere Lebensrisiken, die wir privat nicht versichern können oder wollen, zu minimieren und die Restrisiken öffentlich zu versichern. Doch scheitert die Vermessung der Zukunft – und damit der Versicherungsstaat – aber immer wieder an der mathematischen Unbeherrschbarkeit eigentlicher, „radikaler“ Unsicherheit, die man auch als fundamentale Ungewissheit bezeichnen könnte. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung versagt. Wer wie ich lange in den Finanzmärkten unterwegs war, hat dies oft genug erlebt. Er weiß, dass Geldanlegen in der Kunst besteht, mit Überraschungen aller Art umzugehen, vom „gewussten Ungewussten“ bis zum „ungewussten Ungewussten“. Letzteres, das ungewusste Ungewusste entzieht der Vermessung der Zukunft mit den Methoden der Mathematik vollständig den Boden.

Die Corona-Pandemie ist ein Fanal dafür, wie wenig wir über die Gegenwart wissen, wie ungewiss die Zukunft ist und wie schwer es dem Staat fällt, die ihm zugewiesenen Rolle des Rundumversicherers seiner Bürger gegen Risiken für Gesundheit und wirtschaftlichen Wohlstand auszufüllen. Das Jahr 2020 sollte uns Bescheidenheit lehren. Doch fürchte ich, dass wir – wie nach der Großen Finanzkrise – auch daraus keine Lehren ziehen werden. Noch während wir im Nebel der Pandemie herumstocherten, sah die Politik in der von dem Virus verursachten Zerstörung die Chance, eine neue, nach ihren Vorstellungen geplante Welt zu gestalten. Nach dem Teilabriss infolge der Pandemie soll die Wirtschaft „grüner“ wieder auf- und dabei umgebaut werden. Woher Politik und Gesellschaft die Zuversicht nehmen, dass sie die mit dem Klimawandel verbundenen Unsicherheiten besser durchdringen und berechnen und die Wirtschaft effektiver und effizienter planen können als dies bei der Pandemie der Fall war, entzieht sich dem gesunden Menschenverstand.

Statt an der Illusion der Vermessbarkeit radikaler Unsicherheit festzuhalten oder Handlungen aus Angst vor Unsicherheit bis zur Selbstlähmung einzuschränken, gilt es, die Zukunft mit gesundem Menschenverstand zu ergründen und sich durch die Zeit mit Versuch und Irrtum voranzutasten. Dazu ist es nötig, für Vergangenheit und Gegenwart realistische Erzählungen („Narrative“) zu finden und aus der inneren Dynamik der Geschichten eine Ahnung – und leider ist mehr nicht möglich – über die Zukunft abzuleiten.

Zu den großen Narrativen unserer Zeit, die es zu ergründen gilt, gehören der demografische Wandel, die Völkerwanderungen unseres Zeitalters, die Digitalisierung unserer Lebensumstände, die ausufernde Geldvermehrung der Zentralbanken, die Entstehung einer neuen geopolitischen Weltordnung, der Klimawandel und die Corona-Pandemie sowie die Auflösung der liberalen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft durch Identitätspolitik. Das sind die „bekannten Unbekannten“. Das „unbekannte Unbekannte“, das im Dunkel fundamentaler Ungewissheit lauert, können wir nicht erzählen, sondern nur bedenken.

Könnten wir die Finalität der Geschichte erkennen, würden wir uns wohl auf geradem Weg dorthin begeben. Wäre die Geschichte ein Zufallsprozess – oder „ein verdammtes Ding nach dem anderen“, wie der britische Historiker Arnold Toynbee meinte –, könnten wir aus ihr nichts lernen. Liegt die Wahrheit jedoch in der Mitte, verändert die Geschichte uns und wir verändern sie. Insofern ist die Zukunft offen, aber nicht rein zufällig.

Vermutlich ist die Geschichte pfadabhängiger und damit auch zyklischer als wir Kinder der Aufklärung wahrhaben wollen. Mit einer ausgereiften Erzählung können wir den Pfad besser verstehen und die Zukunft erahnen. Diese Erkenntnis eröffnet auch neue Handlungsmöglichkeiten, die den Lauf der Geschichte verändern können. Nicht der Random Walk, sondern der Error-Correction-Process wäre dann das entsprechende, der Statistik entstammende Bild.

Durch Irrtum und Korrektur kann eine im Nachhinein in Umrissen beobachtbare, aber schwer in die Zukunft prognostizierbare Zyklik entstehen. Doch ein Muster ist erkennbar: Fehlerhafte Entwicklungen setzen ein, wenn die individuelle Freiheit durch Verpflichtungen aller auf Ziele, die von wenigen definiert werden, unterdrückt wird. Korrekturen entwickeln sich, wenn diese Verpflichtungen aufgehoben werden. Gegenwärtig haben Freiheitsbeschränkungen Konjunktur. Wie weit die fehlerhafte Entwicklung gehen wird, ist offen. Zuversichtlich stimmt jedoch, dass wir auf die Korrektur hoffen dürfen.

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