Photo: M Miroslav from Flickr (CC BY 2.0) Dass uns 2020 eine Pandemie für mehr als ein Jahr in die Knie zwingen würde, konnte bis vor kurzem keiner ahnen. Die meisten freiheitlich-demokratischen Regierung straucheln etwas hilflos durch diese Krise. Doch viele Hürden, die sich bei deren Bewältigung auftun, sind schon lange beklagte Probleme und wären vermeidbar gewesen. Ein Fahrradunfall oder ein Börsencrash können das eigene Leben ziemlich auf den Kopf stellen. Weil man ein solches Ereignis so gut wie nie vorhersehen kann, ist es wichtig, dass man vorsorgt: Dass man sich fit hält, um nach dem Unfall rasch wieder auf die Beine zu kommen. Dass man Liquidität vorhält, damit man auch inmitten der Baisse der Tochter ein Auslandssemester in Toulouse finanzieren kann oder den Treppenlift für die
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Dass uns 2020 eine Pandemie für mehr als ein Jahr in die Knie zwingen würde, konnte bis vor kurzem keiner ahnen. Die meisten freiheitlich-demokratischen Regierung straucheln etwas hilflos durch diese Krise. Doch viele Hürden, die sich bei deren Bewältigung auftun, sind schon lange beklagte Probleme und wären vermeidbar gewesen.
Ein Fahrradunfall oder ein Börsencrash können das eigene Leben ziemlich auf den Kopf stellen. Weil man ein solches Ereignis so gut wie nie vorhersehen kann, ist es wichtig, dass man vorsorgt: Dass man sich fit hält, um nach dem Unfall rasch wieder auf die Beine zu kommen. Dass man Liquidität vorhält, damit man auch inmitten der Baisse der Tochter ein Auslandssemester in Toulouse finanzieren kann oder den Treppenlift für die Eltern bezahlen. Vorsorgen, daran erinnert uns ja auch die Politik gerne, ist ein wichtiges Element im Leben des selbstverantwortlichen Bürgers. Dasselbe gilt für Unternehmen: Probleme bei Geschäftspartnern, neue Mitwettbewerber, Zahlungsausfälle, Kündigungen – für alle möglichen Fälle will man gut gerüstet sein. Und die Politik? Wie symptomatisch ist das grandiose Scheitern der großen Katastrophenschutz-Übung im letzten September?
Die Digitalministerin ohne Website
Einer der eklatantesten Schwachpunkte, die durch Corona ans Licht getreten ist, dürfte das gestörte Verhältnis von öffentlichen Einrichtungen zu Digitalisierung sein. Nun haben wir seit 2018 eine eigens für Digitalisierung zuständige Staatsministerin im Kanzleramt. Zufall, dass auf der Website der Bundesregierung bei allen Staatsministern ein link zu deren eigener Website zu finden ist, während bei ihr nur ein Button anbietet: „Seite drucken“? Obwohl beinahe alle Parteien in Bund und Ländern seit bald zwei Jahrzehnten über die Bedeutung von Digitalisierung sprechen, hat sich so gut wie nichts bewegt. Das Thema ist kaum einmal mehr als ein Sonntagsreden-Ornament, so wie Ordnungspolitik oder die sichere Rente.
Da reicht übrigens auch nicht der ständige Fingerzeig auf Berlin. Auch Länder haben Spielräume. Zumindest einige Kommunen zeigen, dass sie im Rahmen des möglichen tun, was sie können, zuletzt auch – entgegen deren Ruf – viele Gesundheitsämter. Ein Bericht der EU-Kommission zum Thema digitaler staatlicher Infrastruktur freilich ist ein einziger Alptraum für Deutschland: es landet auf dem achtletzten Platz. Während Amazon problemlos einen weltweiten „Black Friday“ bewältigt und Uber 7 Milliarden Fahrten im Jahr koordiniert, kollabieren die Seiten zur Vergabe der Impftermine schon bei ein paar Tausend Anfragen. Statt Flickschusterei und Lippenbekenntnissen sollte ein digitaler Ruck durch Deutschland gehen, damit man in der nächsten Krise nicht wieder mit Faxgeräten in die Schlacht zieht.
Jahrelanger finanzpolitischer Sommerschlussverkauf
Effektive öffentliche Verwaltung ist freilich nicht der einzige Bereich, in dem man über Jahre hinweg (und quer durch die politischen Lager und föderalen Ebenen) geschludert und geschlafen hat. Auch im Bereich der Finanzpolitik rächt sich jetzt die Wolf of Wall Street-Attitüde der schwarz-roten Ära, die einen Jahre langen Sommerschlussverkauf betrieben hat. Der Finanzminister und mit ihm die ganze Regierung präsentieren sich auch heute wie der kinderlose Erbonkel. Eine beispiellose Weltkonjunktur seit zwei Jahrezehnten und mutige Reformen vor 20 Jahren – oder wie man auch sagen könnte: die Früchte des Neoliberalismus – haben die Kassen prall gefüllt.
Aber diese Momentaufnahme darf nicht täuschen. Denn in zwei Richtungen wurden in den letzten Jahren erhebliche Verpflichtungen eingegangen: Mit allerlei Wohltaten wie Mütter- und Grundrenten werden pauschal Altersarme und gleichermaßen Notars-Gattinnen beglückt. Nicht nur heute, sondern auch in vielen kommenden Jahren. Die Unfähigkeit, selbst in den unvergleichlich fetten Jahren eine Reform der Altersversorgung in Gang zu bringen, die jetzigen Realitäten Rechnung trägt, ist haarsträubend. Die neuen Fesseln, die dem bestehenden System angelegt wurden, sind skandalös. Zugleich geht der deutsche Staat immer mehr Verpflichtungen ein gegenüber unseren europäischen Partnern. Der Finanzminister träumt von einer europäischen Schuldenvergemeinschaftung. Wenn diese inländischen und europäischen Verpflichtungen auf eine durch Katastrophen wie eine Pandemie geschwächte Wirtschaft treffen, herrscht im Portemonnaie einer künftigen Finanzministerin traurige Ebbe.
Wir verlieren den Zugang zu Gruppen in unserem Land
Ein Drittes: Bildung! Bildung – klar, findet auch jeder wichtig und gut. Alle sind für Bildung. Doch in solchen Fällen wie einer weltweiten Pandemie ist ein ganz spezieller Bereich der Bildung relevant. Menschen müssen Verständnis für Bedrohungen haben; müssen an relevante Informationen nicht nur herankommen, sondern auch ein gewisses Interesse dafür haben; sie müssen verstehen – intellektuell und sprachlich. Und so ehrenwert das Unterfangen ist, Behördenseiten in „einfacher Sprache“ zu präsentieren – damit ist es oft nicht getan. Das Virus kennt keine sozialen Grenzen: es rafft auch einen Giscard d’Estaing hinweg und erwischt den englischen Thronfolger. Aber die Zahlen in unserem Land sprechen eine relativ deutliche Sprache: Zu den Städten und Landkreise mit den höchsten Infektionszahlen pro Einwohner zählen Gegenden wie die Sächsische Schweiz, Neukölln, Wunsiedel, Offenbach und Pforzheim. Es sind Orte, die entweder einen hohen Migrantenanteil aufweisen oder eine strukturelle Schwäche einschließlich erheblicher Abwanderung. Klar, bei Letzteren erhöht die Altersstruktur das Risiko einer symptomatischen Erkrankung. Und bei Ersteren sollte man bedenken, dass diese Menschen selten als kinderloses Ehepaar in einem Vier-Zimmer-Apartment residieren. Stattdessen leben die Oma und die drei Kinder mit in der kleinen Wohnung und Homeoffice ist keine Option für die als Altenpflegerin tätige Mutter und den Vater, der im Bahnhofskiosk arbeitet.
Doch die Berichte von Großhochzeiten und infektionstreibenden Busreisen zu Querdenker-Demos sollten doch zu denken geben: Haben Politiker, Behörden und Meinungsmacher den Kontakt zu Teilen der Bevölkerung verloren? Nicht erst jetzt, sondern in einem langen Prozess. Haben wir uns vielleicht zu sehr in Binnendiskursen verstrickt? Haben uns Identitätspolitik, Leitkulturdiskussionen, Wokeness-Initiativen und Meta-Talkshows vielleicht bisweilen den Blick auf jene vernebelt, deren Hauptsorge dem Arbeitsplatz oder banalen – und höchst legitimen! – Konsumwünschen gilt? Auf solche Menschen zuzugehen, hat viel mit Bildung zu tun: Natürlich insofern es selbst eine Bildungsbemühung ist. Aber auch, weil es eigene Bildung fordert. Denn Bildung bedeutet auch, dass es einem gelingt, den eigenen Verstehens-Horizont zu übersteigen. In einer Krise wie der derzeitigen Pandemie kann es schon zu spät sein – man muss in normaleren Zeiten einüben, was im Extremfall zum Einsatz kommt. Wir brauchen Verantwortliche, die sich mit Menschen zusammensetzen und ihnen zuhören und denen zugehört wird. Wir müssen das Ungewöhnliche wagen und zielorientiert denken. Das kann bedeuten, als Abgeordnete häufiger bei den Taubenzüchtern zu Gast zu sein. Und es kann bedeuten, dass man als Leiter des Sozialamtes mehr darauf setzt, dass das eigene Personal Arabisch oder Romanes spricht. Entscheidend ist, dass Sprachlosigkeit überwunden wird; dass man hört und gehört wird.
Wir schaffen das – wir müssen es halt wollen
75 Jahre Frieden, fast ununterbrochen steigender Wohlstand und zuletzt eine beispiellose Phase der Hochkonjunktur machen träge und stärken unsere natürlichen Beharrungskräfte. Weder Veränderungsbereitschaft noch Anstrengung zählen zu den vorherrschenden Eigenschaften von saturierten Gesellschaften. Solange alles vor sich hindümpelt, schadet das auch nicht sichtbar. Doch wehe, wenn ein Virensturm oder irgendeine andere Katastrophe über das Land oder gar durch die ganze Welt weht. Die Defizite, die wir haben auflaufen lassen, belasten uns jetzt, werden sich auch in den nächsten Jahren negativ auswirken und – vor allem! – kosten Menschenleben.
Die Voraussetzungen hierzulande sind eigentlich sehr gut. Die deutsche Bedenkenträgerei, die schwäbische Hausfrau und die ökonomischen Ressourcen – all das spricht dafür, dass wir vorausschauender Entscheidungen treffen können. Allein: wir müssen den Willen dazu haben. Und das ist eine Aufgabe, die nicht von der Politik oder den Behörden gestemmt werden kann. Das erfordert vielmehr, dass wir alle als Bürger dieses Landes unsere Erwartungen an den Staat verändern. Dass wir weniger auf finanzielle Sonderwünsche pochen als auf ökonomische Nachhaltigkeit. Dass wir uns nicht von Sonntagsreden abspeisen lassen, sondern auf Ergebnissen bestehen. Dass wir die Nachfrage nach den Politikern und Meinungsmachern erhöhen, die mit offenen Ohren und Augen durch die Welt laufen – nicht nach denen, die uns nach dem Mund reden. Dann werden wir auch in der nächsten Krise solider dastehen.