In der derzeitigen politischen Lage rückt plötzlich wieder das Parlament in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Sonst wird das Herz unserer Demokratie zugunsten der Regierung eher vernachlässigt. Es wird mehr auf seine Unabhängigkeit achten müssen, zumal die inzwischen sogar von ehemaligen Verfassungsrichtern in Frage gestellt wird. Abgeordnete als Befehlsempfänger Paul Kirchhof, der einst von Kanzler Schröder für seine sehr vernünftigen Vorschläge für eine Steuerreform als „Professor aus Heidelberg“ geschmähte ehemalige Bundesverfassungsrichter, hat dem Land schon einen Bärendienst erwiesen, indem er der Erhebung des Rundfunkbeitrags für jeden Haushalt den Weg geebnet hat. Nun hat er sich in einem Interview mit der FAZ dazu
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In der derzeitigen politischen Lage rückt plötzlich wieder das Parlament in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Sonst wird das Herz unserer Demokratie zugunsten der Regierung eher vernachlässigt. Es wird mehr auf seine Unabhängigkeit achten müssen, zumal die inzwischen sogar von ehemaligen Verfassungsrichtern in Frage gestellt wird.
Abgeordnete als Befehlsempfänger
Paul Kirchhof, der einst von Kanzler Schröder für seine sehr vernünftigen Vorschläge für eine Steuerreform als „Professor aus Heidelberg“ geschmähte ehemalige Bundesverfassungsrichter, hat dem Land schon einen Bärendienst erwiesen, indem er der Erhebung des Rundfunkbeitrags für jeden Haushalt den Weg geebnet hat. Nun hat er sich in einem Interview mit der FAZ dazu hinreißen lassen, einen Vorschlag zu machen, der an den Grundfesten unserer freiheitlichen Demokratie rüttelt. Angesichts der verfahrenen Situation bei der Koalitionsfindung empfiehlt er, „dass man die Parteien verpflichtet, vor der Wahl ihre Koalitionsaussage verbindlich zu treffen. … Dann hat derjenige, der, als Tandem oder zu dritt, die meisten Stimmen bekommen hat für seine Koalition, die Wahl gewonnen. Und der bekommt dann 50 Prozent der Sitze im Bundestag, sagen wir plus 5 oder 10, damit klare Mehrheiten da sind. Dann entscheidet der Wähler wieder mehrheitlich, wer als Mehrheit im Staat das Sagen haben soll.“
Das wäre eine eklatante Einschränkung des freien Mandats der Abgeordneten. Schon heute haben wir ein ernsthaftes Problem durch die euphemistisch als „Fraktionsdisziplin“ bezeichnete Praxis, die Abgeordneten mit Blick auf Parteiräson auf Linie zu bringen. Nötigenfalls auch noch mit dem Hinweis auf die Macht des Parteiapparats, der eine erneute Aufstellung auf der Liste oder im Wahlkreis verhindern könnte. Eine Umsetzung von Kirchhofs Vorschlag würde den Parteien noch viel mehr Macht geben. Ganz zu schweigen davon, dass das Grundgesetz in Artikel 38 sehr deutlich feststellt, dass die Abgeordneten „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind. Im Kirchhofschen Modell hätten sie über den Umweg der Partei, die sich festlegen muss, nur noch ein imperatives Mandat. Wie fatal das wäre, kann man in einer hervorragenden Rede nachlesen, die Verfassungsgerichts-Präsident Voßkuhle vor zwei Wochen gehalten hat, wo er darauf hinweist, das imperative Mandat sei „nicht nur offensichtlich antiparlamentarisch, sondern ermöglicht gerade einen ‚top-down‘-Regierungsstil.“
Kartoffelsuppe schlägt Machtkontrolle
Nun wäre es unfair, nur dem ehemaligen Verfassungsrichter Vorwürfe zu machen. Viele Akteure müssen sich an die Nase fassen, wenn es den Bedeutungsverlust des Parlaments zu beklagen gilt: Die Medien etwa, die sich weitaus mehr für das Handeln der Exekutive interessieren als für die Stimmen aus dem Parlament. Die Parteiführungen, die ihre eigene Machtfülle über Meinungsvielfalt und Diskurs stellen. Die Kanzlerinnen und Kanzler und alle Mitglieder der Exekutive, die das Hohe Haus oft wie einen Abstimmungsautomaten behandeln oder die „Quasselbude“ gleich ganz umgehen. Und schließlich auch die Wähler, die die Nachfrage dafür erzeugen, dass Parteien eigentlich nur noch Wahlen gewinnen, indem sie das „Spitzenpersonal“ ins Schaufenster stellen. Letztlich ist die Missachtung des Parlaments eben auch eine Folge der Sehnsucht nach der starken Frau oder dem starken Mann, der die Dinge für uns regelt.
Natürlich ist Macht faszinierend. Und die Mächtigen sind oft Gegenstand von Neugier und Faszination, von Bewunderung oder Verachtung. Während die halbe Republik an Merkels Kartoffelsuppen-Rezept interessiert ist, weiß kein Mensch, wer Michael Grosse-Brömer oder Carsten Schneider sind. Fachpolitiker im Parlament sind nur bekannt, wenn sie sich ganz penetrant in die Medien drängen. Der Philosoph Karl Popper beschrieb das Problem mit der Tatsache, dass wir immer wieder die Frage stellen: „Wer soll regieren?“ Unsere Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, die Person zu finden, die weise, kompetent, fürsorglich und stark genug ist, um ihr unser Geschick anzuvertrauen.
Wir brauchen furchtlose Abgeordnete!
Nun leben wir freilich nicht mehr in Umständen, unter denen eine solche Frage vielleicht Sinn ergeben mag, weil das Überleben des Stammes davon abhängt, dass das Führungspersonal aus den Besten besteht. Deshalb argumentiert Popper, dass wir uns in einer modernen oder wie er es nennt: offenen Gesellschaft eine andere Frage stellen müssen: „Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?“ Die Komplexität unserer Gesellschaft ist die Folge unserer wachsenden Fähigkeit, Entscheidungen selber fällen zu wollen und zu können – ohne auf einen Häuptling angewiesen zu sein. Friedrich August von Hayek schreibt: „Es ist ein Gesellschaftssystem, dessen Wirkungsweise nicht davon abhängt, dass wir gute Menschen finden, die es handhaben, oder davon, dass alle Menschen besser werden, als sie jetzt sind, sondern ein System, das aus allen Menschen in all ihrer Verschiedenheit und Kompliziertheit Nutzen zieht.“
Ein Ausdruck dieser Form der Entscheidungsfindung ist die Institution des Parlaments, wie es sich vor allem in Großbritannien und den USA herausgebildet hat. Es funktioniert nicht über das Prinzip der Anführerschaft, sondern des Diskurses, der gegenseitigen Kontrolle und des Interessensausgleichs. Anstatt die Parteien dazu zu zwingen, sich auf Koalitionsaussagen festzulegen, wäre der umgekehrte Weg dem Sinn des Parlaments entsprechend. Statt durchzuregieren, sollte die Exekutive wieder viel stärker gezwungen sein, bei den Abgeordneten um Unterstützung zu werben. Nicht die Abgeordneten sollten vor der Kanzlerin buckeln. Vielmehr sollten sie und ihr Kabinett als Bittsteller bei denjenigen auftreten, die den Auftrag haben, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Es wäre sehr zu wünschen, dass die Abgeordneten die derzeitige Situation nutzen, um wieder neues Selbstbewusstsein zu gewinnen und ihrer Aufgabe gerecht zu werden, indem sie furchtlos auftreten gegenüber den Mächtigen in Regierung und Parteizentralen. Denn das Herz unserer Demokratie schlägt nicht dort, sondern im Plenarsaal.