Die Wirtschaft steht vor dem akuten Atemstillstand. Die Finanzpolitik des Bundes hat in Zeiten der Coronavirus-Pandemie Instrumente gefunden, um die Wirtschaft mit diskretionären Fiskalimpulsen kurzfristig zu stützen. Doch die Finanzpolitik schafft nur temporär Abhilfe. Um langfristig eine Angebotskrise und Mangelwirtschaft zu verhindern, braucht es nun dringend Alternativstrategien zum Lockdown. Ansteckungskrankheiten sind heimtückisch. Sie übertragen sich unsichtbar durch soziale Kontakte und oft anfangs mit exponentieller Geschwindigkeit in die gesamte Gesellschaft. Soziale Kontakte sind aber das, was eine Gesellschaft ausmacht. Das gilt auch im wirtschaftlichen Sinn, denn Handel ist die Basis jeden marktwirtschaftlichen Systems. Es überrascht daher nicht, dass die natürliche
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Die Wirtschaft steht vor dem akuten Atemstillstand. Die Finanzpolitik des Bundes hat in Zeiten der Coronavirus-Pandemie Instrumente gefunden, um die Wirtschaft mit diskretionären Fiskalimpulsen kurzfristig zu stützen. Doch die Finanzpolitik schafft nur temporär Abhilfe. Um langfristig eine Angebotskrise und Mangelwirtschaft zu verhindern, braucht es nun dringend Alternativstrategien zum Lockdown.
Ansteckungskrankheiten sind heimtückisch. Sie übertragen sich unsichtbar durch soziale Kontakte und oft anfangs mit exponentieller Geschwindigkeit in die gesamte Gesellschaft. Soziale Kontakte sind aber das, was eine Gesellschaft ausmacht. Das gilt auch im wirtschaftlichen Sinn, denn Handel ist die Basis jeden marktwirtschaftlichen Systems. Es überrascht daher nicht, dass die natürliche und politische Reaktion bei schnell zunehmender Gefahr, nämlich Vorsicht und Distanz, sich jeweils tief in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft einprägt. Während die Hasardeure die übertriebenen Einschränkungen beklagen, ärgern sich die Risikoscheuen über die laxen Vorschriften. Politische Entscheidungsträger sind in dieser Situation besonders gefordert. Augenmass zu bewahren ist allerdings auch unter Beizug von Expertenwissen schwierig. Denn erst im Nachhinein lässt sich beurteilen, ob in der Situation der fundamentalen Unsicherheit die Reaktion übertrieben oder naiv war.
Beim Navigieren in Krisensituationen ist man daher gut beraten, «auf Sicht zu fahren». Das heisst in Varianten zu denken und nur die dringlichen und wichtigen Probleme pragmatisch so zu lösen, wie sie sich gerade präsentieren. Zunächst ist das aktuelle Krisenmanagement durch gesundheitspolitische Prävention der Gesellschaft und die Schaffung von Zusatzkapazitäten gefordert. Wenn es allerdings um die Bewältigung rezessiver Auswirkungen der beschlossenen Massnahmen geht, stehen die Möglichkeiten und Instrumente der Finanzpolitik im Zentrum. In der Finanzpolitik heisst «auf Sicht fahren» auf mehrere Pfeiler abgestützt, pragmatisch vorzugehen.
Automatische Stabilisatoren wirken
Erstens gilt es auch in einer schweren Liquiditätskrise auf die Kraft der automatischen Stabilisatoren zu vertrauen. In der Schweiz sind diese dadurch ausgelösten Fiskalimpulse in Krisensituationen im Durchschnitt für etwa zwei Drittel der gesamten Wirkung zur Stützung der Wirtschaft verantwortlich. Neben den Möglichkeiten der Arbeitslosenversicherung und der Kurzarbeit, stehen hier das Steuersystem und die Schuldenbremse im Vordergrund. Auch wenn diese Massnahmen in der aktuellen Krise nicht genügen, stellen sie einen wichtigen Stützpfeiler der Volkswirtschaft dar.
Wer aktuell fordert, man müsse die Schuldenbremse temporär aussetzen, setzt auf das falsche Pferd. Der sich abzeichnende Konjunktureinbruch wird einerseits dazu führen, dass die Steuereinnahmen geringer als prognostiziert ausfallen. Andererseits werden die Ausgaben im Bereich der Arbeitslosenunterstützung höher als angenommen sein. Beides zusammen wird aller Voraussicht nach dazu führen, dass die im Dezember 2019 budgetierten Werte verfehlt und so als negativer Saldo dem Ausgleichskoto belastet werden. Das alles löst aber absolut keinen Spardruck aus. Ganz im Gegenteil: Durch die üppige Alimentierung des Ausgleichskontos belastet ein allfälliges Defizit im 2020 das kommende Budget aller Voraussicht nach nicht.
Liquiditätsengpässe verhindern
Zweitens sind auch weitergehende Lösungen gefragt. Um einen akuten «Atemstillstand» der Volkswirtschaft zu verhindern, muss die Finanzpolitik zusätzlich Instrumente finden, diskretionäre Fiskalimpulse zur Stützung der Wirtschaft verabreichen zu können. Als Notunterstützung für Unternehmen stehen Liquiditätshilfen im Vordergrund. Zu den wirksamen Massnahmen gehören dabei die Stundung von Bundesforderungen für Steuern und Gebühren sowie Bürgschaftskredite.
Weitere diskretionäre Massnahmen sind dann besonders stimulierend, wenn sie zeitgerecht, gezielt und temporär Wirkung zeigen. Dies bedarf einer klugen Feinadjustierung der politischen Entscheidungen, um tatsächlich die notleidenden Branchen zu identifizieren, deren Liquiditätsbedarf rasch zu adressieren, und deren langfristige Abhängigkeit von den gewährten Zuschüssen und Vergünstigungen abzuwenden. Leider zeigt die Erfahrung, dass diese Massnahmen oft kontraproduktiv wirken und zu politisch motivierter, langfristiger Strukturerhaltung von insolventen Betrieben beitragen. Dabei soll aber verhindert werden, dass an sich solvente Unternehmen wegen Liquiditätsschwierigkeiten nun Konkurs anmelden müssen. Es braucht geeignete Massnahmen, die Notlage vieler Unternehmen zu überbrücken.
Die aktuellen Massnahmen des Bundesrats zielen entsprechend in die richtige Richtung: Neben einer sinnvollen Ausweitung der Kurzarbeit und Zahlungsaufschüben bei Steuern und Abgaben, stellt er notleidenden Unternehmen Überbrückungskredite zur Verfügung. Sie sollen dadurch über ihre Hausbank schnell und unkompliziert Kredite in einer Maximalhöhe von 10 Prozent ihres Umsatzes oder von höchstens 20 Millionen Franken erhalten. Die Banken sollen bis eine halbe Million sofort auszahlen, wofür der Bund voll bürgen will. Darüber hinaus gehende Beträge will der Bund zu 85 Prozent garantieren. Der Bundesrat rechnet damit, dass über dieses Gefäss Überbrückungskredite von bis zu 20 Milliarden Franken vom Bund garantiert werden können.
Das Vorgehen des Bundes zur Stützung der Unternehmensliquidität erinnert an die UBS-Rettung von 2008. Einen ähnlichen Vorschlag machte auch Konrad Hummler: eine von Bund, Schweizerischer Nationalbank (SNB) und den Geschäftsbanken geschaffene Finanzierungsfazilität könnte liquiditätsschwachen Unternehmen langfristige Darlehen im Umfang der Finanzierungslücke gewähren. Der Mechanismus wäre aber etwas marktorientierter, da für alle Kredite gewisse Sicherheiten hinterlegt werden müssten. Zunächst offerieren die Geschäftsbanken den Unternehmen rasch langfristige und günstige Darlehen. Zur Besicherung der Darlehen können die Unternehmen langfristige Vermögenswerte wie eigene Aktien, GmbH-Anteile oder die Zession von Eigentumsanteilen einsetzen. Um das damit enorm ansteigende Risiko der Geschäftsbanken zu reduzieren, können diese wiederum die erhaltenen Sicherheiten an die SNB abtreten, welche dafür als Gegenleistung liquide Mittel zur Verfügung stellt. Damit transferiert die geschaffene Finanzierungsfazilität das Darlehensrisiko der Geschäftsbanken an die SNB durch Weitergabe der Eigentumsrechte an den besicherten Vermögenswerten. Letztlich könnten auch so schnell und pragmatisch Konkurse aufgrund versiegender Liquidität vermieden werden. Die SNB hat die Zeit, die Darlehen über eine sehr lange Frist zu amortisieren und damit den volkswirtschaftlichen Einbruch über eine lange Zeit zu glätten.
Schuldenbremse ist nicht das Problem
In beiden Fällen kann die Schuldenbremse nicht als Hindernis angeführt werden. Die Bürgschaften belasteten das Bundesbudget nicht unmittelbar. Zudem ermöglicht die Schuldenbremse eine gezielte Reaktion auf die wirtschaftliche Entwicklung: Auf der Einnahmeseite erhöht sich in der Rezession der Ausgabenplanfonds der Schuldenbremse durch einen Konjunkturfaktor derart, dass ein Defizit im Budget zur passiven Glättung der Nachfragelücke erlaubt ist. Auf der Ausgabenseite kennt die Schuldenbremse mit dem ausserordentlichen Haushalt und der entsprechenden Ergänzungsregel einen Mechanismus, der es erlaubt, in ausserordentlichen Situationen den Ausgabenplafond mit einem qualifizierten Mehr in beiden Räten zu erhöhen. Diese Zusatzausgaben werden auf einem Amortisationskonto belastet. Einerseits ist dieses Konto mit rund 3 Milliarden bereits gut alimentiert. Andererseits sind auch grössere Ausgaben und damit eine zusätzliche Verschuldung möglich, welche erst langfristig wieder abgebaut werden muss. Die nötigen Instrumente stehen damit alle zur Verfügung und eine Diskussion über die Schuldenbremse ist fehl am Platz.
Es ist erst einige Wochen her, da überschlugen sich die Vorschläge zur Lockerung der Schuldenbremse für ambitionierte Infrastrukturvorhaben und andere Lieblingsprojekte der Interessenvertreter. Wenn das geliehene Geld schon fast gratis zu haben sei, könne man die Bremse doch ohne Risiko lösen. Das Argument, in guten Zeiten vorzusorgen und eine finanzpolitische Resilienz für schlechte Phasen aufzubauen, schien nur noch etwas für notorische Schwarzmaler. Zum Glück hat sich die Schweiz gegen diese Verführungen wappnen können. Damit verfügt sie jetzt über die notwendige finanzpolitische Glaubwürdigkeit, um die notwendigen Fiskalkapazitäten einsetzen zu können. Die unvermittelt aufziehende Krise straft all jene Lügen, die die alte Volksweisheit anscheinend vergessen haben: Spare in der Zeit, so hast Du in der Not.
In der mittleren Frist droht die Mangelwirtschaft
Doch selbst der widerstandsfähigste Staat ist mittel- und langfristig nicht auf einen totalen Stillstand ausgerichtet. Obwohl «auf Sicht zu fahren» in einer Krisensituation wie dargelegt zentral ist, darf das langfristige Ziel nicht aus den Augen verloren werden. Während der Staat und seine Finanzpolitik kurzfristig die Nachfragelücke mit Liquidität überbrücken kann, droht bei einem längerfristigen Ausfall der volkswirtschaftlichen Produktion allerdings viel Gravierenderes: eine Angebotskrise. Ohne Produktion fallen in einer arbeitsteiligen Wirtschaft bald die Lieferketten zusammen. Hält der «Gefrierzustand» der Volkswirtschaft über Wochen und Monate an, droht sich die gegenwärtige Liquiditäts- zu einer veritablen Solvenzkrise zu entwickeln. Dies würde verschiedene Branchen und Sektoren betreffen und insbesondere für jene Unternehmen ein Problem darstellen, die über eine geringe Fertigungstiefe verfügen. Denn genau sie sind besonders auf zuverlässige Zulieferer angewiesen. Dies ist für eine kleine und offene Volkswirtschaft wie die Schweiz besonders gravierend, denn die Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren stark spezialisiert und ihre Lieferketten über den Globus verteilt. Das gilt auch für den aktuell besonders geforderten Gesundheitssektor mit Spitälern, Medizinaltechnik oder der Pharmaindustrie.
Die Solvenzkrise ist ein Szenario, das sich schnell dramatisch zuspitzen kann. Die historische Erfahrung zeigt, dass die steigende Zahl an Insolvenzen in kurzer Zeit Verstaatlichungen sowie Preis- und Mengenregulierungen nach sich ziehen. Das Resultat ist dann eine Mangelwirtschaft mit politisch gesteuerter Rationierung. Die Folge einer solchen Systemkrise würde nicht nur unser Wirtschaftsleben auf den Kopf stellen. Auch die Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit – und damit auch auf die Gesundheit und das Wohlergehen der Bevölkerung – sind kaum zu unterschätzen. Dies gilt es unter allen Umständen zu verhindern. Denn in dieser Situation kann kein noch so grosses Hilfspaket mehr helfen.
Wir brauchen Alternativen zum Lockdown
Die Verantwortungsträger müssen sich daher nun dringend mit der Frage des Exits aus der «Notstandspolitik» befassen. Wie schaffen wir es am 19. April, einen geordneten Weg zurück aus dem Dirigismus zu finden, der einerseits die Produktionskapazitäten wieder erhöht und andererseits die Gesundheit der Bevölkerung bestmöglich schützt? Denn so nachvollziehbar die drastischen Massnahmen mit Blick auf unser Gesundheitssystem angesichts der grassierenden Pandemie auch sind, so wichtig ist es nun, eine kohärente Ausstiegsstrategie aufzuzeigen. Ein Leben «mit» dem Virus ist dabei das Ziel.
Glaubt man den hiesigen Epidemiologen, könnte beispielsweise versucht werden, in der gesamten Bevölkerung Masken einzusetzen und massiv mehr Tests durchzuführen. Klaus Reinhardt, Präsident der deutschen Bundesärztekammer, schlägt zudem vor, die Gesellschaft in verschiedene Kategorien und Risikoklassen einzuteilen und den Schutz zu priorisieren („Cocooning“). Je nach Risiko würden dann auch die Massnahmen angepasst. Der Ideenwettbewerb, wie man wieder soziales Leben und Wirtschaftstätigkeit zuzulassen kann, ist gestartet. Ausstiegstrategien anzudenken, ist nicht nur der Regierung vorenthalten, sondern muss für Experten sämtlicher Wissenschaftszweige in den Vordergrund rücken. Denn eines ist klar: Finden wir keinen Weg, den Stillstand aufzuheben, ohne dass wir die Bekämpfung der Epidemie vernachlässigen, drohen nicht nur der Wirtschaft, sondern auch unserer freiheitlichen Gesellschaft ungeahnte Konsequenzen.
Eine kürzere Version dieses Kommentars ist in der "Finanz und Wirtschaft"[ a ] erschienen.
©KOF ETH Zürich, 27. Mär. 2020