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Zwischen Keynes und Neoklassik: Sinn und Unsinn stiftende Erzählungen in der modernen Makroökonomie

Summary:
In den 1970er Jahren hätten die Grundlagen der modernen Makroökonomie geklärt werden können. Diese Möglichkeit wurde jedoch von der Riege der Ökonominnen und Ökonomen nicht wahrgenommen bzw. geflissentlich ignoriert. Die 1970er Jahre werden in den Annalen der Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik als eine Periode des fundamentalen Umbruchs geführt. Die bis dahin in der Wirtschaftspolitik vorherrschende Keynesianische Denkschule verlor in dieser Dekade ihre Vorrangstellung und wurde durch ein, den Grundsätzen der neoklassischen Ökonomie nahestehendes Politikverständnis abgelöst. Diese neu-klassische Politiksicht war Folge einer Neuausrichtung, oder besser Rückbesinnung, der akademischen Makroökonomie auf ihre klassischen, allerdings formal auf der Höhe der Zeit elegant

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Franz R. Hahn considers the following as important:

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In den 1970er Jahren hätten die Grundlagen der modernen Makroökonomie geklärt werden können. Diese Möglichkeit wurde jedoch von der Riege der Ökonominnen und Ökonomen nicht wahrgenommen bzw. geflissentlich ignoriert.

Die 1970er Jahre werden in den Annalen der Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik als eine Periode des fundamentalen Umbruchs geführt. Die bis dahin in der Wirtschaftspolitik vorherrschende Keynesianische Denkschule verlor in dieser Dekade ihre Vorrangstellung und wurde durch ein, den Grundsätzen der neoklassischen Ökonomie nahestehendes Politikverständnis abgelöst. Diese neu-klassische Politiksicht war Folge einer Neuausrichtung, oder besser Rückbesinnung, der akademischen Makroökonomie auf ihre klassischen, allerdings formal auf der Höhe der Zeit elegant drapierten Lehrmeinungen.

Bemerkenswert an diesem Paradigmenwechsel ist, dass diese Rückorientierung der Makroökonomie just zu dem Zeitpunkt erfolgte als die wirtschaftswissenschaftliche Grundlagenforschung klassische wirtschaftsliberale Lehrmeinungen nicht nur in Frage stellte, sondern als unfundiert widerlegte. Die in den 1970er Jahren veröffentlichten Erkenntnisse der formal-mathematischen Analyse der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie (AGT) widerlegen vor allem das zentrale wirtschaftsliberale Postulat, dass die neoklassische Trinität von Rationalität, Eigennutz und Markteffizienz zwingend und eindeutig zum gesellschaftlich bestmöglichen wirtschaftlichen Gesamtergebnis (d.h. zu einem eindeutig bestimmbaren, stabilen und allgemein benignen Gleichgewicht) führt.   

Obgleich die formalen Grundlagen der AGT und deren Analyse sehr abstrakt sind und keine unmittelbare Entsprechung in der Realität haben, gilt das ‚idealtypische Theoriegebäude‘ der AGT nicht nur als Zellkern des modernen Wirtschaftsliberalismus, sondern vor allem auch als zentrales Referenzsystem der (d.h. klassischen bzw. neoklassischen) Wirtschaftstheorie bei der Vermessung von gesamtwirtschaftlichen Grundsatzfragen. Fundamentale Verortungen wie etwa, ob Marktwirtschaften systemisch (und daher systematisch) einer politischen Steuerung bedürfen oder nur temporär etwa im Ausnahmefall eines Angebotsschocks (z.B. Covid-19 Krise), werden nicht nur von akademischen MakroökonomInnen, sondern häufig auch von WirtschaftspraktikerInnen in direkte oder indirekte Beziehung zu den Leitprinzipien der AGT gestellt. Wirtschaftsliberale beziehen in der Regel Positionen der klassischen Ökonomie, vor allem die Präsumtion der sich, zum Wohl aller, selbst organisierenden (Konkurrenz-) Märkte (der Smith’schen ‚unsichtbaren Hand‘). Marktkritische (z.B. KeynesianerInnen) betonen hingegen die kognitiven Dissonanzen im zentralen ‚Erzählstrang’ des Wirtschaftsliberalismus und negieren deshalb vor allem die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen, die Wirtschaftsliberale aus dem Wirkungszusammenhang der neoklassischen Trinität ziehen. Sie plädieren daher für systematische öffentliche Wirtschaftssteuerung.

Bis zu den 1970er Jahren waren diese diametral entgegengesetzten makroökonomischen Fundamentalthesen auch auf dem Boden der abstrakt-formalen Grundlagenforschung unauflösbar. 

In den 1970er Jahren wurden nun in einer bemerkenswerten Serie von - auch für akademische ÖkonomInnen vielfach geradezu esoterisch anmutenden – formal-analytischen Arbeiten die Grundlagen geschaffen, die wichtigsten Grundsatzfragen der Makroökonomie einer endgültigen Klärung zuzuführen. Mit den abstrakten Methoden der AGT wurde bewiesen, dass sich keine der zentralen Leitmotive des ‚wirtschaftsliberalen Narrativ‘ unter den idealtypischen Laborbedingungen der neoklassischen Wirtschaftstheorie begründen lassen.

Den Todesstoß führte u.a. eine der Leitfiguren der AGT, der französisch-stämmige US Mathematiker Gerard Debreu. Das sogenannte Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theorem (SMD-Theorem) ist in der Tat ein Befund, der an ‚Zerstörungskraft‘ kaum zu übertreffen ist.

Die zentrale Botschaft des SMD-Theorems ist, dass die neoklassischen Annahmen von Rationalität, Eigennutz und Markteffizienz notwendig, jedoch nicht hinreichend für die (theoretisch fundierte) Gültigkeit zentraler  klassischer Lehrmeinungen sind[ 1 ] . Die neoklassische Trinität führt nicht zwingend zu EINEM stabilen, gesamtwirtschaftlich effizienten Gleichgewicht, sondern zu einer Vielzahl von allgemeinen Marktgleichgewichten, die zwar im Regelfall lokal eindeutig bestimmt sind, deren Stabilitätseigenschaften jedoch allesamt unbestimmt bleiben.

‚Sinn stiftender‘ Keynes – ‚Unsinn stiftender‘ Walras?

Das SMD-Theorem besiegelt die Unhaltbarkeit klassischer Lehrmeinungen mit einem vernichtenden Gesamtbefund. Der wirtschaftsliberalen Erzählung von sich selbst organisierenden, effizienten Märkten fehlt der theoretisch konzise Unterbau. Es lassen sich keine ‚klassischen Marktkräfte‘ (unsichtbare Hand) in ausreichender Stärke theoretisch begründen, die im Stande wären, (idealtypische kompetitive) Marktwirtschaften im Gleichgewicht zu halten bzw. nach externen Schocks diese wieder dahin zurückzuführen.

Diese Eigenschaften erweisen sich allesamt als ‚typisch‘ für kompetitive Marktwirtschaften und nicht etwa als ‚schwarze Schwan-Phänomene‘ bzw. theoretisch seltene Randerscheinungen[ 2 ] .

Absurd ist, dass die bis zu den 1970er Jahren bestimmende ‚Keynes‘sche Erzählung‘, deren Sinnstiftung durch die finalen Ergebnisse der AGT gerade in obgenannter Dekade allumfassend bestätigt wurde, als makroökonomische Leiterzählung verdrängt bzw. abgelöst wurde. Die zentrale Keynes’sche Vermutung aus den 1930er Jahren, dass kapitalistische laissez-faire Marktwirtschaften typischerweise indeterminiert und strukturell instabil sind, erwiesen sich letztlich durch die Befunde der AGT stringent begründet. Die klassischen Lehrmeinungen von den sozial benignen und effizienten Wettbewerbsmärkten, die man am besten zum Wohle der Allgemeinheit ungestört werken lassen sollte, stellten sich hingegen als Trugbilder, bestenfalls als ‚sehr spezielle Spezialfälle‘ heraus.

Obgleich die AGT letztlich die Keynes’sche Hypothese bestätigte und jene Walras‘ verwarf, setzte sich die Denkschule des letzteren, zumindest in der akademischen Makroökonomie, durch.

Smarte Neu-Klassiker - Dröge Alt-Keynesianer?

Eine Reihe von Vermutungen drängen sich auf, weshalb das passieren konnte. Einer der Gründe ist, dass in den 1970er und 1980er Jahren von der überwiegenden Mehrheit der MakroökonomInnen, nicht nur von der Keynesianisch-orientierten Denkschule, die formale Analyse der AGT und deren Ergebnisse fälschlicherweise als unerheblich für die Klärung grundlegender Fragen der Makroökonomie angesehen wurde. Der keynesianischen Seite fehlte letztlich vor allem aber auch die formal-analytische Kompetenz, um die Ergebnisse des AGT aus ihrer Sicht bewerten und sinnstiftend einordnen zu können.

Die neu-klassischen MakroökonomInnen ließen sich hingegen ausschließlich von den frühen Erkenntnissen der AGT aus den 1950er Jahren (ver-)leiten, vor allem von dem formalen Nachweis, dass ein allgemeines effizientes Gleichgewicht unter neoklassischen Annahmen existiert. Sie ignorierten jedoch die aus ihrer Sicht ‚subversiven‘ Ergebnisse der AGT aus den 1970er Jahren (Stichwort: viele, qualitativ unbestimmbare Gleichgewichte). Sie entwickelten die AGT nicht weiter, sondern korrumpierten bzw. verkürzten die klassische Theorie möglicherweise mit der zwar verständlichen, unter den gegebenen Umständen jedoch mehr als fragwürdigen Rechtfertigung, die liberalen Lehrmeinungen zumindest vor dem Bedeutungsverlust in der akademischen Makroökonomie zu bewahren (Stichwort: ‚Representative Agent‘-Model).

Die zentrale Botschaft der AGT, dass die Prämissen und die Marktmechanismen der klassischen Ökonomie zwar notwendig, jedoch nicht hinreichend für eine eindeutige und strukturell stabile allgemeine Gleichgewichtslösung in einer kompetitiven Marktwirtschaft sind, fand damit keinen Eingang in die bestimmenden Erzählungen der modernen Makroökonomie.

Allgemeine Gleichgewichtstheorie – eine unvollendete Geschichte!

Die Vielzahl an strukturell instabilen allgemeinen Gleichgewichten, die mit den Annahmen der AGT kompatibel sind, ist ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass die AGT zwar eine ‚potentiell Sinn stiftende, jedoch offensichtlich unvollendete Geschichte‘ erzählt. Die neoklassische Trinität (Rationalität, Eigennutz, und Markteffizienz) reicht nicht aus, das ‚offene Ende‘ dieser Theorie zu schließen. Es benötigt ein breiteres axiomatisches Fundament für den letzten Schritt, der Begründung eines Selektionsmechanismus, der aus der Vielzahl von qualitativ unterschiedlichen Gleichgewichten eindeutig ein strukturell stabiles, allgemein erwünschtes Gleichgewicht bestimmt[ 3 ] .

Wiederum war es Keynes, der ‚instinktsicher‘ erahnte, wie die klassische Geschichte schlüssig zu Ende zu erzählen ist. Er erkannte (wahrscheinlich als erster moderner Makroökonom von Rang) die fundamentale Bedeutung von sogenannten ‚animal spirits‘ für die eindeutige Bestimmung eines allgemeinen Gleichgewichts in einer Marktwirtschaft. ‚Beliefs‘ etwa im Sinne von rational nicht begründbaren Stimmungslagen (Optimismus, Pessimismus) bzw. ‚sunspots‘ werden immer noch von vielen neoklassischen WirtschaftstheoretikerInnen als störende Anomalien, und nicht als finaler Teil der Lösung des zentralen ‚klassischen Unbestimmtheitsproblems‘ angesehen. Tatsächlich sind ‚beliefs‘ das ‚missing axiom‘ in der neoklassischen Wirtschaftstheorie bzw. die hinreichende axiomatische Ergänzung der neoklassischen Trinität.

‚Beliefs‘, und nicht Rationalität bzw. rationale Erwartungen sind, wenn sie von den MarktteilnehmerInnen geteilt werden, für die finale Selektion des bestimmenden Gleichgewichts verantwortlich[ 4 ] . Erfreulicherweise wird die Bedeutung von ‚beliefs‘ für die neoklassische Wirtschaftstheorie seit der Finanzkrise 2007 verstärkt wahrgenommen und ist mittlerweile Gegenstand eines sehr aktiven, makroökonomischen Forschungsprogramms (siehe z.B. Farmer, R. E. A., The Macroeconomics of Self-Fulfilling Prophecies, The MIT Press, 1993, und derselbe, Expectations, Employment and Prices, Oxford University Press, 2010).

‚Beliefs’ waren jedoch in unterschiedlichen Ausformungen immer schon zentraler analytischer Bestandteil in wirtschaftshistorischen bzw. in polit-ökonomischen Untersuchungen. Die Bedeutung des subtil-konstruktiven Zusammenwirkens nicht nur von formellen, sondern vor allem von informellen Regelsystemen (beliefs) und Marktwirtschaft für Prosperität und politische Stabilität wurde u.a. durch eine Reihe von institutionsökonomischen Analysen eindrucksvoll bestätigt (siehe z.B. Acemoglu, D., Robinson, J. A., Why Nations Fail – The Origins of Power, Prosperity, and Poverty, Crown Publisher, 2012, und dieselben, The Narrow Corridor: States, Societies, and the Fate of Liberty, Viking, 2019).

Die Bedeutung von ‚beliefs‘ spiegelt sich auch in den Ergebnissen von wirtschaftshistorischen Analysen des Zusammenwirkens von modernem Kapitalismus und unterschiedlichen politischen Regimen. Vor allem die jüngere Wirtschaftsgeschichte zeigt deutlich, dass das marktwirtschaftliche bzw. kapitalistische Wirtschaftssystem unter unterschiedlichen politischen (Belief-) Systemen ein hohes Effizienzniveau erreichen und nachhaltig sichern kann. Die beiden zurzeit größten Wirtschaftsmächte, USA und China, sind dafür herausragende aktuelle Beispiele (siehe z.B. Milanovic, B., Capitalism, Alone: The Future of the System That Rules the World, Harvard University Press, 2019, und Plumpe, W., Das kalte Herz: Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution, Rowohlt Berlin, 2019).

Erkenntnisse und Forschungsaktivitäten wie diese, jedenfalls solche, die geeignet erscheinen, die offene Erzählung der neoklassischen Wirtschaftstheorie bündig zu Ende zu bringen, sind letztlich unumgänglich, soll die akademische Makroökonomie nicht bedeutungslos werden.

Neben den im Text erwähnten Monographien empfiehlt der Autor - zur Ergänzung und Vertiefung - die Lektüre der einschlägigen Kapitel in den folgenden Publikationen:

Arrow, K., Hahn, F., General Competitive Analysis, North-Holland, 1971

De Vroey, M., A History of Macroeconomics from Keynes to Lucas and Beyond, Cambridge University Press, 2016

Ellickson, B., Competitive Equilibrium – Theory and Applications, Cambridge University Press, 1993

Hildenbrand, W., Kirman, A. P., Equilibrium Analysis: Variations on Themes by Edgeworth and Walras, North-Holland, 1988

Mas-Colell, A., Whinston, M., D., Green, J., R., Microeconomic Theory, Oxford University Press, 1995

Rizvi, S. A. T., The Sonnenschein-Mantel-Debreu Results after Thirty Years,

History of Political Economy, 38 (annual suppl.), Duke University Press, 2006

Varian, H. R., Microeconomic Analysis, 2nd Edition, Norton, 1984

Wickens, M., Macroeconomic Theory – A Dynamic General Equilibrium Approach, 2nd Edition, Princeton University Press, 2011


©KOF ETH Zürich, 17. Sep. 2020

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