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Die Coronakrise als Chance

Summary:
Europa wird seine selbstgesetzten, in der Lissabon-Strategie definierten Ziele nur erreichen, wenn es der Eingrenzung von Chancenungleichheit und des Klimawandels in und nach der Coronakrise die gleiche Priorität gibt, wie der Unterstützung der Wirtschaft. Kritik an der ungebremsten „Turboglobalisierung“ gab es schon vor der neuesten Krise in der wissenschaftlichen Literatur und in den Sozialen Medien. Populistischer Widerstand wird nun ergänzt durch tatsächlich oder potenziell unterbrochene Lieferketten. Die Klimaerwärmung mit den sichtbaren Folgen, wie dem Schmelzen von Gletschern und des Polareises und den Bränden in Australien und Kalifornien, ist nicht zuletzt auch auf das hohe Transportvolumen in der globalisierten Wirtschaft zurückzuführen. Globalisierung zu stoppen ist

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Europa wird seine selbstgesetzten, in der Lissabon-Strategie definierten Ziele nur erreichen, wenn es der Eingrenzung von Chancenungleichheit und des Klimawandels in und nach der Coronakrise die gleiche Priorität gibt, wie der Unterstützung der Wirtschaft.

Kritik an der ungebremsten „Turboglobalisierung“ gab es schon vor der neuesten Krise in der wissenschaftlichen Literatur und in den Sozialen Medien. Populistischer Widerstand wird nun ergänzt durch tatsächlich oder potenziell unterbrochene Lieferketten. Die Klimaerwärmung mit den sichtbaren Folgen, wie dem Schmelzen von Gletschern und des Polareises und den Bränden in Australien und Kalifornien, ist nicht zuletzt auch auf das hohe Transportvolumen in der globalisierten Wirtschaft zurückzuführen.

Globalisierung zu stoppen ist allerdings nicht sinnvoll. Das würde direkte Wohlfahrtsverluste durch verringerte Arbeitsteilung bringen. Es müssten auch Grenzkontrollen wiedererrichtet werden. Wenn damit auch Arbeitsmärkte abgeschottet werden, würden erfolgreiche Standorte mit alternder Bevölkerung verlieren und durch UN- Konvention – etwa wegen Krieg, Verfolgung oder Naturkatastrophen – würden Menschen keine neue Heimat finden. Der Rückgang weltweiter Armut würde sich zumindest verlangsamen.

Wir beleuchten im Folgenden nur zwei Komponenten einer verantwortlichen Globalisierung, die Umpolung des Technologieschwerpunktes und die Eingrenzung der Ungleichheit.

Umlenken des technischen Fortschrittes

Die erste Säule ist ein Umdenken bezüglich der Richtung des technischen Fortschrittes. AnalystInnen, die heute die Notwendigkeit des technischen Fortschrittes betonen, denken dabei immer an den „arbeitssparenden technischen Fortschritt“. Das bedeutet, dass derselbe Output mit weniger Beschäftigen oder geringeren Arbeitsstunden erzielt wird. Dass die Arbeitsproduktivität in Europa niedriger liegt als in den USA, wird als großes Problem gedeutet. Das gilt für OECD, IMF, Deutschen Sachverständigenrat und die Europäische Kommission (z.B. in ihrer Wachstumsstrategie 2021) sowie für viele Wirtschaftsforschungsinstitute.

So einhellig die Forderung nach höherer “Produktivität“, so falsch ist es, sie ohne die Definition ihrer Hauptkomponente zu empfehlen. Zweifelsfrei ist es positiv, wenn mit begrenzten Gesamtressourcen mehr erzeugt werden kann, das bringt Wohlfahrt oder Freizeit, je nachdem was man wünscht.

Die Gesamtproduktivität kann man einerseits steigern, indem jede Person mehr erzeugt, andererseits ist es auch produktiver, jedes Produkt mit weniger Rohstoffen, Energie und Stofflichkeit zu erzeugen. Da der Anteil der Löhne am Umsatz etwa im Industriesektor nur ein Viertel der Kosten ausmacht, ist die Einsparung von Rohstoffen und Energie auch betriebswirtschaftlich wichtiger. Aus betriebswirtschaftlicher ist ein einseitiger Anstieg der Arbeitseffizienz nicht die beste Option.

Technischer Fortschritt, der primär die Arbeitsproduktivität erhöht, erhöht auch den Wachstumszwang. Steigt sie um 3%, dann müssen bei konstantem Arbeitsangebot auch reiche Länder weiter um 3% wachsen. Dafür fehlt in der Regel die Nachfrage von KonsumentInnen und Unternehmen, wofür der Staat oder das Ausland einspringen müssen. Gleichzeitig steigen die Treibhausgasemissionen, wenn nicht radikal entkoppelt wird, wovon auch Europa weit entfernt ist.

Eine höhere Energie- und Ressourcenproduktivität würde hingegen den Reparaturaufwand für Klima- und Gesundheitsschäden senken und einen Freiraum für moderates Wachstum, niedrigere Steuern oder mehr Freizeit – für jene die das wollen – ermöglichen, und höhere Löhne für die anderen.

Doch fällt der technische Fortschritt nicht wie Manna vom Himmel, wie WachstumstheoretikerInnen formuliert haben. Und Gottes Wille sollte nicht durch Lenkung verzerrt werden, Staatseingriffe sind oft gut gemeint, aber oft durch Lobbying und Wahltermine bestimmt. Diese Fehllenkung ist aber schon passiert, und wichtig wäre es sie zu korrigieren. Die Dominanz des arbeitssparenden Fortschrittes wird nicht durch den unbeirrbaren Pfad der naturgegebenen Technik bestimmt, sondern dadurch, dass der Faktor Arbeit so hoch besteuert ist, Emissionen und der Ressourcenverbrauch im Gegensatz dazu aber nahezu steuerfrei sind. Die Umlenkung durch den „großen Bruder“ hat also schon stattgefunden, und ihre Korrektur würde Verzerrungen korrigieren. Ein wirksamer auch andere Kontinente einbeziehender Emissionshandel oder die Bepreisung von Emissionen, wären marktwirtschaftlich und effizient.

Begrenzung der hohen und steigenden Ungleichheit

Die zweite Säule einer verantwortlichen Globalisierung wäre die Begrenzung der steigenden Ungleichheit in Europa. In der Covidkrise zeigt sich ein Wiederanstieg von Armut und Armutsgefährdung, eine stärkere regionale Disparität war schon vorher sichtbar.

Während absolute Armut – gemessen an Hunger und Unerfüllbarkeit von Grundbedürfnissen – in Europa niedrig ist und weltweit stark fällt, ist etwa die Einkommensdifferenz zwischen höchstem und niedrigstem Dezil in Europa hoch und in den meisten EU-Mitgliedsstaaten steigend. Und wenn man Ungleichheit für ganz Europa misst, ist sie nicht niedriger als in den USA (Dauderstädt 2020). Das unterschätzen viele AnalystInnen, weil sie die Ungleichheit in jedem einzelnen Mitgliedsland untersuchen und dann einen Durchschnitt über den errechneten Indikator bilden, statt Primärdaten zu verwenden um einen Gesamtindikator für Europa oder die USA zu errechnen.

Die Ungleichheit nimmt in Europa innerhalb vieler Länder in den letzten 20 Jahren zu, etwa gemessen am Gini-Koeffizienten, noch mehr, wenn man den Anteil des Topdezils der Einkommen oder Vermögen misst. Die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern sind dagegen sinkend, da die neuen Mitgliedsländer aufholen. Dies allerdings nicht so schnell wie erhofft, und die Beschäftigung steigt nicht immer. Die junge Bevölkerung wandert ab, das beschleunigt die relative Alterung; schlechte Infrastruktur reduziert zusätzlich die Attraktivität für neue Unternehmen. Der Unterschied zwischen den Einkommen in den zehn reichsten Regionen und jenen mit den geringsten Einkommen sinkt, aber die Relation liegt zu Kaufkraftparitäten noch immer bei 5:1. Während die Beschäftigung in den peripheren Regionen sinkt, boomt sie in den Zentren. Das ist die stärkste Komponente für den Anstieg der Ungleichheit innerhalb der Länder. Die Unzufriedenheit in den „vergessenen“ Regionen wächst, zu diesen gehören auch weniger peripher gelegene Industrieregionen (rust belts).

Zu den tieferen Ursachen der Ungleichheit zählen der technische Fortschritt und die Globalisierung, ersterer begünstigt generell anspruchsvolle Berufe, während gleichzeitig Automatisierung Routinetätigkeiten ersetzt. Die Globalisierung stärkt die Spezialisierung der Industrieländer auf skill-intensive Produkte. "Economies of Scale and Scope", hochwertige Dienstleistungen und Clustervorteile stärken die Attraktivität von Ballungsräumen. All diese Tendenzen könnten bei richtiger Begleitung durch die Politik zu Wohlfahrtsgewinnen führen. Wenn aber in einem engen und unflexiblen Ausbildungssystem traditionelle Berufsbilder weiter gepflegt werden und Kohäsionspolitik zugunsten peripherer Gebiete unterbleiben, multiplizieren sich die negativen Effekte. Hier hat die Politik der EU, obwohl sie ihre Strategie mit einer „Sozialen Säule“ nachzubessern versuchte, eine Schwachstelle. Der Reduktion der Ungleichheit wurde nie die gleiche Priorität gewidmet wie etwa dem Abbau von Handelsschranken.

Europa wird seine selbstgesetzten, in der Lissabon-Strategie definierten Ziele, nur erreichen, wenn es der Eingrenzung von Chancenungleichheit und des Klimawandels die gleiche Priorität gibt, wie der Wirtschaft. Wenig Hoffnung gibt dafür das eben beschlossene mittelfristige EU?Budget, das weiter landwirtschaftliche Großbetriebe fördert. Dazu kommt, dass das europäische Semester auf die Verfehlung der Forschungsziele und den Verzicht auf Eingrenzung der Ungleichheit nie mit ähnlichen Abmahnungen und letztlich Sanktionen reagiert, wie bei der Verfehlung von Budgetzielen.

Brennglas und Chance

Die COVID-Krise hat soziale Ungleichheit sichtbarer gemacht; der Klimawandel und weiter steigende Treibhausgasemissionen deckt den Verzicht auf neue Ökotechnologien und damit auch auf stärkeren energiesparenden technischen Fortschritt schonungslos auf. Die Finanzierungmittel im Wiederaufbaufonds der EU (RRF) und die Umschichtung der Prioritäten im mittelfristigen Budget wären eine Chance zum doppelten Kurswechsel gewesen. Wenn aber neue Gelder in alte Schläuche gelenkt werden, wird die Krise keine verantwortliche Steuerung der Globalisierung ermöglichen, die Führungsrolle Europas in der Klimapolitik wird verspielt. In diesem Fall hätte Europa die COVID-Krise nicht zum Umdenken und Umlenken genutzt.

Aiginger, K., Kreuz R. (2020), Soziale Ungleichheit in Europa, Sprengkraft für die EU, Policy Crossover Center: Vienna – Europe, Working Paper, 2,.

Aiginger, K., Rodrik, R. (2020), Rebirth of Industrial Policy and an Agenda for the Twenty-First Century, Journal of Industry, Competition and Trade, 2, pp.189-207.

Dauderstädt, M. (2020), Einkommensungleichheit in der EU, Wirtschaftsdienst, 8, S. 628-632, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2020/heft/8/beitrag/einkommensungleichheit-in-der-eu.html[ a ].

European Commission (2020A), Proposal for a Joint Employment Report 2021, From the Commission to the Council 18. November.

European Commission (2020B), Proposal for a Directive of the European Parliament and the Council on adequate minimum wages in the European Union, COM 2020, 682.

OECD (2020), Regions and Cities at a Glance 2020, Paris.

Sachverständigenrat (2018), Den Strukturwandel meistern, Jahresgutachten.

©KOF ETH Zürich, 23. Dez. 2020

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