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So wenig wie möglich, so viel wie nötig

Summary:
Um für den Krisenfall gewappnet zu sein, braucht die deutsche Bundesagentur für Arbeit eine angemessene Rücklage von etwa 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dieser Beitrag schlägt eine systematische Beitragssatzgestaltung für eine sinnvolle Rücklagenpolitik vor.[ 1 ] In Rezessionen kommt der deutschen Bundesagentur für Arbeit (BA) eine wichtige Stabilisierungsfunktion zu. Sie zahlt bei steigender Arbeitslosigkeit mehr Arbeitslosengeld aus und stützt damit die Kaufkraft. Sie finanziert Kurzarbeit, um Entlassungen zu vermeiden. Sie muss eine steigende Anzahl an Arbeitslosigkeitsmeldungen administrieren und Vermittlungsaktivitäten in einer Situation intensivieren, in der sich die Vermittlungschancen verschlechtern. Schließlich setzt sie verstärkt aktive Arbeitsmarktpolitik ein.

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Um für den Krisenfall gewappnet zu sein, braucht die deutsche Bundesagentur für Arbeit eine angemessene Rücklage von etwa 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dieser Beitrag schlägt eine systematische Beitragssatzgestaltung für eine sinnvolle Rücklagenpolitik vor.[ 1 ]

In Rezessionen kommt der deutschen Bundesagentur für Arbeit (BA) eine wichtige Stabilisierungsfunktion zu. Sie zahlt bei steigender Arbeitslosigkeit mehr Arbeitslosengeld aus und stützt damit die Kaufkraft. Sie finanziert Kurzarbeit, um Entlassungen zu vermeiden. Sie muss eine steigende Anzahl an Arbeitslosigkeitsmeldungen administrieren und Vermittlungsaktivitäten in einer Situation intensivieren, in der sich die Vermittlungschancen verschlechtern. Schließlich setzt sie verstärkt aktive Arbeitsmarktpolitik ein. Das kostet Geld, das gerade in Rezessionen in allen Haushalten fehlt. Deshalb sollte die BA in guten Zeiten eine hinreichende Rücklage aufbauen (Weber 2017). Gerade die große Rezession von 2009 hat gezeigt: Die Handlungsfähigkeit der BA ist für die Widerstandskraft des Arbeitsmarkts von großer Bedeutung. Rücklagen sind also höchst effizient investiert, denn ihre Wirkung kommt dann zum Tragen, wenn sie am nötigsten ist: in Krisenzeiten.

Nach Berechnungen des IAB (Hausner/Weber 2017) beläuft sich eine angemessene Rücklage auf etwa 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, damit die BA für den Krisenfall gewappnet ist. Ist der Zielwert der Rücklage noch nicht erreicht, sollte der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung so gesetzt werden, dass die Rücklage weiter aufgebaut werden kann. Wird der Zielwert dagegen systematisch überschritten, ist eine Beitragssatzsenkung sinnvoll. Schließlich soll die Arbeitslosenversicherung nur so viele Mittel vereinnahmen, wie sie für ihre Ausgabenpolitik und die Krisenvorsorge benötigt.

Der Zielwert von 0,65 Prozent ist mittlerweile breit akzeptiert und mit dem Qualifizierungschancengesetz auch politisch als Richtschnur installiert worden. Es existiert aber noch kein systematisches Verfahren, wie der Beitragssatz über die Zeit zu gestalten ist, um eine sinnvolle Rücklagenpolitik zu betreiben. Eine solche regelbasierte Vorgehensweise wird im Folgenden vorgeschlagen.

Keine weiteren Rücklagen kumulieren

Erstens: Sobald der Zielwert von 0,65 Prozent überschritten ist, wäre der Beitragssatz nach einer solchen Regel zum nächstmöglichen Zeitpunkt so weit zu senken, dass im weiteren keine größeren laufenden Überschüsse mehr auftreten. Dabei kann man sich an den bisherigen und erwarteten Überschüssen orientieren, und daran, welche jährlichen Beitragsausfälle eine Reduzierung des Satzes um 0,1 Prozentpunkte ausmacht – momentan rund 1,2 Milliarden Euro. Eine solche Regel würde sowohl vermeiden, dass über die angemessene Risikovorsorge hinaus weitere Rücklagen kumuliert werden, als auch, dass der Beitragssatz angesichts von milliardenschweren, aber eben noch nicht ausreichenden, Rücklagen bereits vorzeitig gesenkt wird.

Die Beitragssatzsenkung sollte erst greifen, wenn der Zielwert der Rücklage tatsächlich am Jahresende überschritten ist, nicht bereits, wenn dies nur prognostiziert wird. Ansonsten würde selbst bei normaler Wirtschaftsentwicklung das Rücklagenziel aufgrund der Beitragssatzsenkung gar nicht erst erreicht. Zudem kann sich die wirtschaftliche Lage auch innerhalb eines Jahres unvorhergesehen ändern.

Entscheidend ist, dass durch einen Mechanismus inhaltliche arbeitsmarktpolitische Entscheidungen nicht behindert werden. Unabhängig von der Rücklagenentwicklung ist also in der Sache über die grundsätzliche Ausgabenpolitik der BA zu entscheiden. Gelangt man zu dem Schluss, dass für bestimmte Zwecke wie etwa eine Intensivierung der Weiterbildung mehr Mittel einzusetzen sind, reduziert sich entsprechend der Spielraum für Beitragssatzsenkungen.

Regelgeleitetes Vorgehen zum Rücklagenaufbau

Zweitens: Wenn die Rücklage infolge einer Rezession aufgebraucht wurde bzw. unter den Zielwert gefallen ist, wäre der Beitragssatz so anzupassen, dass die Rücklage wiederaufgebaut werden kann. Zu beachten ist, dass sich der Rücklagenaufbau vor und nach der großen Rezession 2009 aus einer herausragenden, so kaum zu erwartenden Arbeitsmarktentwicklung, und nicht aus tatsächlichen Beitragserhöhungen speiste. Trotz dieser enorm starken Arbeitsmarktentwicklung ist das Rücklagenziel erst zehn Jahre nach dem Konjunktureinbruch wieder erreicht worden. Und zuvor war im wiedervereinten Deutschland ohnehin noch nie ein angemessener Rücklagenaufbau gelungen. Normalerweise werden also Beitragssatzerhöhungen nötig sein, wenn die Rücklage einmal deutlich gefallen ist. Politökonomisch sind derartige Entscheidungen diffizil, da die Belastung sofort, der Nutzen aber erst Jahre später eintritt. Ein regelgeleitetes Vorgehen bietet deshalb Vorteile, um den grundsätzlich vorhandenen Konsens, angemessene Risikovorsorge zu betrieben, transparent umzusetzen.

Angemessen wäre, die Rücklage nach einer Rezession innerhalb von fünf Jahren wieder über den Zielwert von 0,65 Prozent des BIP steigen zu lassen (Weber 2018). Dies entspricht in etwa dem durchschnittlichen Zeitraum zwischen Wirtschaftsabschwüngen in der Vergangenheit. Wenn die Rücklage komplett aufgebraucht wurde, dann wäre der Beitragssatz so festzusetzen, dass pro Jahr ein Überschuss von einem Fünftel des Rücklagenzielwertes erreicht werden kann (plus ggf. Rückzahlung von Darlehen). Wiederum kann man sich hier am Haushaltseffekt pro 0,1 Prozentpunkt Beitragssatz orientieren. Wurde die Rücklage nur teilweise aufgebraucht, wäre über die fünf Jahre eine entsprechend niedrigere Summe zu kumulieren. Gab es vor der Rezession noch keine Beitragssatzsenkung und somit hohe laufende Überschüsse (weil die Zielrücklage noch nicht erreicht war), fiele auch der Anpassungsbedarf nach der Rezession geringer aus.

Eine notwendige Beitragssatzerhöhung sollte zum nächstmöglichen Zeitpunkt umgesetzt werden, wenn die Talsohle des Abschwungs durchschritten ist und sich die Situation am Arbeitsmarkt wieder verbessert. Als monatsaktuell verfügbarer Indikator könnte die Arbeitslosigkeit nach dem SGB III, also im Versicherungssystem, herangezogen werden. Diese reagiert stärker auf die Konjunktur als die Gesamtarbeitslosigkeit und ist zudem die für den BA-Haushalt relevante Größe. Einzelne Monate sinkender saisonbereinigter Arbeitslosigkeit nach einem längeren Anstieg gab es allerdings in der Vergangenheit immer wieder, ohne dass dies eine Wende zum Positiven eingeleitet hätte. Auf ein Sinken im Sechsmonatsvergleich nach einem längeren Anstieg folgten seit der Wiedervereinigung aber bisher in allen Fällen weitere Verbesserungen der Arbeitslosigkeit (insgesamt, bzw. seit 2005 nach SGB III). Ein Sinken der saisonbereinigten SGB-III-Arbeitslosigkeit im Sechsmonatsvergleich könnte also als Kriterium dienen, um den Umschwung am Arbeitsmarkt hinreichend sicher festzustellen.

Da es beim Rücklagenaufbau um die mittlere Frist und nicht um einzelne Monate geht, ist eine solche konservative Regel sinnvoll. Wenn wichtige Gründe vorliegen, sollte in Ausnahmefällen dennoch auch ein Verschieben der Beitragssatzerhöhung z.B. um bis zu ein Jahr diskretionär möglich sein. Derartige Gründe, die etwa in der speziellen Lage von Wirtschaft und Arbeitsmarkt liegen können, wären gesondert festzustellen. Der Autopilot wird zwar in aller Regel sicher zum Ziel kommen, aber dennoch sollte sich der Fahrer nicht die Hände auf den Rücken binden. Genauso wäre es dementsprechend nach wie vor statthaft, den Beitragssatz während einer Rezession im Sinne antizyklischer Fiskalpolitik zur Reduktion der Arbeitskosten zu senken. Zu bedenken ist dabei, dass die BIP-Multiplikatorwirkung derartiger Entlastungsmaßnahmen in Rezessionen üblicherweise hinter dem stabilisierenden Effekt zusätzlicher Ausgaben wie für Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld zurückbleibt.

Konstanter Beitragssatz wäre nicht vermittelbar

Bisweilen wird als Alternative zu diesem Mechanismus der Beitragssatzgestaltung die Überlegung angestellt, den Beitragssatz konstant auf einem Niveau zu belassen, das Einnahmen und Ausgaben der BA über den Konjunkturzyklus hinweg ausgleicht. Allerdings müsste man dann auch bereit sein, ein unbegrenztes Rücklagenwachstum zuzulassen, wenn einmal längere Zeit keine Rezession eintritt. Das erscheint politisch und öffentlich nicht vermittelbar. Zudem wäre auch bei einer solchen Lösung der Beitragssatz anzupassen, wenn sich die Höhe der Arbeitslosigkeit strukturell, also nicht nur vorübergehend aus konjunkturellen Gründen, ändert.  Diese Anpassung an strukturelle Entwicklungen wäre in dem dargelegten Mechanismus bereits enthalten.

Insgesamt würde sich die Politik mit dem vorgeschlagenen Mechanismus keineswegs ihrer Handlungsfreiheit berauben. Vielmehr würde sie aktiv die Entscheidung treffen, angemessene Krisenvorsorge zu betreiben, den Beitragssatz aber ansonsten so niedrig wie möglich zu setzen. Dafür bieten die hier ausgeführten Regeln ein systematisches Verfahren. Während dieses die rein finanzielle Entwicklung der Arbeitslosenversicherung organisiert, könnte in der Sache noch immer frei über Gestaltung und Umfang der Arbeitsmarktpolitik entschieden werden.

Hausner, Karl Heinz; Weber, Enzo (2017): Einnahmen und Ausgaben der Arbeitslosenversicherung: BA-Haushalt stabilisiert die Konjunktur. IAB-Kurzbericht Nr. 3[ a ].

Weber, Enzo (2017): Kurz kommentiert: Arbeitslosenversicherung: … dann hast Du in der Not. Wirtschaftsdienst, 97, 10, S. 685–686[ b ].

Weber, Enzo (2018): Arbeitslosenversicherung: Weiter denken als bis zur nächsten Krise. IAB-Forum, 22.08.2018[ c ].


©KOF ETH Zürich, 8. Nov. 2019

Enzo Weber
Enzo Weber ist Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung, insbesondere Makroökonometrie und Arbeitsmarkt, der Universität Regensburg. Er arbeitete als Postdoc an der Universität Mannheim und als Juniorprofessur für Volkwirtschaftslehre an der Universität Regensburg. Zudem war er Forschungsprofessor am IAB.

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