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Warum wir heute wieder eine Hungerlohn-Debatte führen müssen

Summary:
50 Jahre nach dem „Wirtschaftswunder“ und nachdem sich die Produktivität noch einmal verdreifacht hat, führt Deutschland unter dem Stichwort Hartz-IV eine Hungerlohndebatte. Da ist etwas gründlich schiefgelaufen. Vermutlich ist alles eine Frage der Perspektive und des Jahrgangs. Der Autor dieser Zeilen hat sein Studium der Ökonomie Ende der 1960er Jahre in Basel absolviert - mitten in den „30 Goldenen Jahren“. Damals lernten wir, dass der Charme der Marktwirtschaft darin liegt, dass der Wettbewerb die Unternehmen zwingt, unsere Bedürfnisse mit einem möglichst geringen Einsatz der Produktionsmittel Arbeit, Kapital und Boden zu befriedigen. So war es denn auch: In Deutschland sind die Produktivität und die realen Stundenlöhne von 1950 bis 1980 Im Gleichschritt etwa um den Faktor 4.5

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50 Jahre nach dem „Wirtschaftswunder“ und nachdem sich die Produktivität noch einmal verdreifacht hat, führt Deutschland unter dem Stichwort Hartz-IV eine Hungerlohndebatte. Da ist etwas gründlich schiefgelaufen.

Vermutlich ist alles eine Frage der Perspektive und des Jahrgangs. Der Autor dieser Zeilen hat sein Studium der Ökonomie Ende der 1960er Jahre in Basel absolviert - mitten in den „30 Goldenen Jahren“. Damals lernten wir, dass der Charme der Marktwirtschaft darin liegt, dass der Wettbewerb die Unternehmen zwingt, unsere Bedürfnisse mit einem möglichst geringen Einsatz der Produktionsmittel Arbeit, Kapital und Boden zu befriedigen. So war es denn auch: In Deutschland sind die Produktivität und die realen Stundenlöhne von 1950 bis 1980 Im Gleichschritt etwa um den Faktor 4.5 bzw. um jährlich 5% gestiegen. Gleichzeitig purzelten die Arbeitszeiten förmlich nach unten. Statt anfänglich zwei, gab’s 1980 schon 6 Wochen Ferien, Mitte der 1960er Jahre wurden in der Druck- und in der Metallindustrie schon die 40-Stundenwochen eingeführt.

Arbeit: Vom Kostenfaktor zum «Produkt»

Auch das entsprach dem Lehrbuch. Danach wägt das Wirtschaftssubjekt – ganz die individuelle Nutzenmaximiererin – das Leid der Arbeit gegen den sinkenden Grenznutzen des zusätzlichen Konsums und optimiert so seinen Mix von Konsum und Freizeit. Die Arbeit war sowohl aus Sicht der Arbeitnehmer als auch der Unternehmen ein Kostenfaktor. Der Politik blieb nur noch die Aufgabe, konjunkturelle Schwankungen – die etwa durch Investitionszyklen ausgelöst wurden – durch entsprechende Schwankungen des Staatskonsums zu glätten.

Dann geriet diese wundersame Maschine ins Stocken. Der Anstieg der Löhne stockte, die Verteilung wurde ungleicher, es gab keine nennenswerten Reduktionen der Arbeitszeiten mehr und den Konjunkturprogrammen gelang es immer weniger, die Vollbeschäftigung wiederherzustellen. Dann versuchte man es anders: Man verbilligte die Arbeit und drückte die Löhne, dann begann der Staat die Arbeit zu bezuschussen, so dass die Unternehmen die Löhne unter das Existenzminimum drücken konnten. Auf diese Weise schuf man Arbeit, die sonst mangels Rentabilität nicht gemacht worden wäre.

Menschen in Arbeit zu bringen, wurde zum Gebot der Stunde, und zur Hauptaufgabe der Unternehmen. Hatte man diese in den Jahren des Wirtschaftswunders noch dafür geschätzt, dass sie Autos, Fernseher, Hähnchen und Schuhe produzierten, preist man sie heute dafür, dass sie „Arbeit schaffen“ oder zumindest an den eigenen Standort verlagern. Die Arbeit war zumindest aus volkswirtschaftlicher Sicht zum Produkt geworden. Aus betrieblicher Optik blieb sie ein Kostenfaktor. Doch während Unternehmen damals Arbeitskosten nur durch effizientere Produktionstechniken sparen konnten, gibt ihnen der Standortwettbewerb die Möglichkeit die Arbeit dorthin zu verlagern, wo sie am billigsten ist.

Kurz: wir reden heute von einer komplett anderen Wirtschaft – bloss die Theorie vom Allgemeinen Gleichgewicht hat sich im Kern nicht verändert. Der Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch hat einmal gesagt: Ökonomische Gesetze gelten nur so lange, bis sich die Voraussetzungen ändern auf denen sie beruhen. Doch das merkt man leider meist viel zu spät.“ Der Schwachpunkt des Gleichgewichtmodells ist zweifellos das Vorzeichen der Arbeit als Kostenfaktor. Die Menschheit hätte nicht überlebt, hätten wir Arbeit nur als Mühsal empfunden und nicht auch unseren Spass am Gemeinschaftserlebnis der Jagd (heute Arbeit) gehabt.

Unter den Modellbedingungen des Allgemeinen Gleichgewichts[ a ] muss sich der Arbeitnehmer immer nur zwischen ein wenig mehr oder weniger Arbeit entscheiden. Und bei steigender Produktivität kann er sogar weniger Arbeit mit mehr Lohn kombinieren. Diese Voraussetzungen waren in den 30 goldenen Jahren gegeben.  Es gab kollektive Lohn- und Arbeitszeitverhandlungen und ein soziales Sicherheitsnetz. Den allwissenden individuellen Nutzenmaximierer des Gleichgewichtsmodells gab es zwar nie, aber er wurde durch die Spielregeln der damaligen sozialen Marktwirtschaft hinreichend simuliert. Das Modell war zwar falsch, aber tauglich.

Heute geht es ums Ganze. Job oder kein Job. Wer aus der Arbeit fällt, fällt aus der Arbeitsgesellschaft. Kein Wunder sind heute viele bereit, auch zu einem Lohn zu arbeiten, der nicht einmal die Reproduktionskosten deckt. Damit hat der einstige Kostenfaktor Arbeit gleichsam das Vorzeichen gewechselt und ist zum Konsumgut geworden. Das wichtigste Bedürfnis, das wir heute mit der Arbeit befriedigen ist die Arbeit selbst, bzw. die damit verbundene gesellschaftliche Teilhabe. Die politische Antwort auf diese Herausforderung ist der Versuch, Arbeit zu schaffen in dem man sie billiger macht und staatlich verbilligt. Teilweise mit Erfolg. Der Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeiten hat sich seit 2000 von jährlich 0,8 auf 0,4 Prozent halbiert. Gleichzeitig hat sich das Produktivitätswachstum von 2,5 auf 1 % verringert. Dadurch sind – rein rechnerisch – gut 10 Millionen Jobs geschaffen, bzw. nicht wegrationalisiert worden.

«Gute» Jobs werden seltener

Woher kommt die durch Verbilligung erhaltene bezahlte Arbeit? Die Antwort gibt die leider nur sehr sporadisch erhobene Statistik der Zeitverwendung[ b ]. Danach ist die Zahl der unbezahlten Arbeitsstunden zwischen 1992 und 2013 von 102 auf 89 Milliarden Stunden geschrumpft. Destatis nennt dafür folgende Gründe: Erstens die gestiegene Erwerbsbeteiligung der Frauen. Zweitens der Rückgang der Zahl der Kinder unter 12 Jahren von 10,6 auf 8,3 Millionen. Und drittens: „Der Trend, Hausarbeit zu substituieren: durch den Einsatz vorgefertigter Nahrungsmittel und die Inanspruchnahme von externen Dienstleistungen, wie Haushaltshilfen und Kinderbetreuungseinrichtungen.“ Bei der nächsten Pressemitteilung wird man auch noch die inzwischen allgegenwärtigen Kurier-Dienste erwähnen müssen.

Dass die bezahlte Arbeit dennoch geschrumpft ist, wenn auch bloss von 69 auf 66 Milliarden Stunden, hängt auch damit zusammen, dass Leute, die auf Hartz-5-Niveau verdienen, mit ihrem Konsum nur wenig Arbeit schaffen. Kein Auto, keine Gaststätten, kein Urlaub im Hotel, ja oft fehlt sogar das Geld für den Arzt oder Zahnarzt. Das ist allerdings nicht der Grund, warum zurzeit heftig darüber diskutiert wird, wie das System der staatlichen Lohnbezuschussung verfeinert werden könnte, (etwa durch ein höheres Kindergeld, mit einem Freibetrag für Sozialbeiträge etc.), aber immer unter der Voraussetzung, dass der Anreiz zur Aufnahme eine Beschäftigung nicht geschmälert werde.

Einer hat sich allerdings nicht an diese Regel gehalten. Ingmar Kumpmann schlägt  in seinem Beitrag eine deutlich höhere Grundsicherung vor (ein vom Staat garantiertes Existenzminimum) – ohne Rücksicht auf die Beschäftigung. Diese sei schliesslich kein Selbstzweck. Das ist richtig. Kein Mensch braucht eine bezahlte Beschäftigung. Kinder, Rentner und junge Mütter fühlen sich meist auch ohne Jobs wohl. 99% aller Menschengenerationen sind ohne bezahlte Arbeit ausgekommen. Was jedoch weiterhin alle zu ihrem Glück brauchen, ist gesellschaftliche Teilhabe und ein Auskommen.

Ein guter Job erfüllt beide Voraussetzungen. Doch im Zeitalter der flexibilisierten Arbeitsmärkte sind gute Jobs Mangelware geworden. Immer mehr bezahlte Arbeit bietet weder eine befriedigende soziale Teilhabe noch ein Einkommen mit dem Mann oder Frau eine Familie über die Runden bringen könnte. Spätestens im Alter sind externe, nicht selbst erarbeitete Einkommensquelle inzwischen schon fast die Regel.

Unbezahlte Arbeit auf Gegenseitigkeit ist immer noch für die allermeisten die wichtigste Form der sozialen Einbindung. Und auch heute noch findet der (in Stunden gemessene) weitaus grösste Teil (in Deutschland rund 60%) unser produktiven und reproduktiven Tätigkeiten in Familie, Nachbarschaft und Vereinen statt. Sie sind sozusagen die Betriebsstätten dessen, was wir hier Bedarfswirtschaft auf Gegenseitigkeit nennen wollen. In ihr kann man zwar heute nicht mehr den ganzen Lebensunterhalt bestreiten, aber man kann den Finanzbedarf deutlich reduzieren – die Axt im Haus erspart den Zimmermann.

Soziale Einbindung und materielle Versorgung als Ziel

In den goldenen 30 Jahren nach dem 2. Weltkrieg herrschte zwischen dem Markt und der Bedarfswirtschaft noch friedliche Koexistenz – die allerdings weitgehend auf dem Ausschluss der Mütter aus der Erwerbsarbeit beruhte. Die bezahlte Arbeit wurde so organisiert, dass die nicht bezahlte darunter nicht litt. Die Ökonomen (und noch wenigen Ökonominnen) konnten deshalb getrost alle nicht bezahlten Tätigkeiten voll aus ihrem Blickwinkel verbannen, ohne, dass die praktische Brauchbarkeit ihrer Theorien darunter gelitten hätte. Heute ist das anders: Die flexiblen Arbeitsmärkte haben die Betriebsstätten der Bedarfswirtschaft massiv geschwächt. Die beiden Ökonomien kollidieren heftig, doch die Ökonominnen und Ökonomen sehen und hören nicht, dass eben eine weitere Voraussetzung, auf der ihre „Gesetze“ beruhen, krachend unter ihnen zusammenbricht.

Die Theorie von Allgemeinen Gleichgewicht hat uns in eine intellektuelle Sackgasse geführt, in der wir die Wirtschaft bloss noch als einen vom Geld gesteuerten Produktionsprozess sehen – und leider entsprechend zu organisieren versuchen. Mit Folge, dass wir nach 70 Jahren Wachstum wieder über Hungerlöhne reden müssen. Aus dieser Sackgasse kommen wir nur heraus, wenn wir den Blick wieder weiten und erkennen, dass es neben dem Markt auch eine Gegenseitigkeitsökonomie gibt, die ebenfalls gepflegt werden muss.

Aus dieser erweiterten Perspektive stellt sich das Problem der Arbeitslosigkeit ganz anders dar. Es geht jetzt nämlich darum, bezahlte und unbezahlte Arbeit plus externe Einkommensteile so zu kombinieren, dass eine optimale soziale Einbindung und materielle Versorgung möglich wird. Wie das in Einzelnen aussehen wird, muss noch ausdiskutiert und ausprobiert werden. Doch die Chance, dass wir auf diese Weise bessere Lösungen finden als bei bisherigen – ausschliesslich auf die bezahlte Arbeit konzentrierten – Ansatz, ist riesig.

©KOF ETH Zürich, 24. Jun. 2019

Werner Vontobel
Ökonom und Wirtschaftsjournalist

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