Angesichts der Individualität und Unberechenbarkeit der Menschen ist eine immer gültige Aussage zum Funktionieren der Wirtschaft kaum möglich. Entsprechend behutsam sollten Ökonominnen und Ökonomen bei der Vermittlung ökonomischen «Wissens» vorgehen. «Give me a one-handed Economist. All my economists say 'on the one hand ... on the other'...»[ 1 ] , soll Harry Truman einmal ausgerufen haben. Trumans Frustration ist gewiss verständlich angesichts der für Laien kaum überschaubaren Vielfalt ökonomischer Analysen, Schlussfolgerungen und Empfehlungen zu faktisch jedem Thema, sei es die EZB-Politik, Mindestlohn, Globalisierung, Privatisierungen, Steuern, Wohnungsbau usw. Im Vergleich dazu ist die Landung auf der Rückseite des Mondes eine geradezu einfache, oder genauer, eine relativ
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Angesichts der Individualität und Unberechenbarkeit der Menschen ist eine immer gültige Aussage zum Funktionieren der Wirtschaft kaum möglich. Entsprechend behutsam sollten Ökonominnen und Ökonomen bei der Vermittlung ökonomischen «Wissens» vorgehen.
«Give me a one-handed Economist. All my economists say 'on the one hand ... on the other'...»[ 1 ] , soll Harry Truman einmal ausgerufen haben. Trumans Frustration ist gewiss verständlich angesichts der für Laien kaum überschaubaren Vielfalt ökonomischer Analysen, Schlussfolgerungen und Empfehlungen zu faktisch jedem Thema, sei es die EZB-Politik, Mindestlohn, Globalisierung, Privatisierungen, Steuern, Wohnungsbau usw. Im Vergleich dazu ist die Landung auf der Rückseite des Mondes eine geradezu einfache, oder genauer, eine relativ eindeutige Angelegenheit, bei der die Experten wohl kaum 'on the one hand ... on the other' argumentiert haben dürften.
Truman ist längst Vergangenheit, doch der Wunsch nach eindeutigen Aussagen von Ökonominnen und Ökonomen bleibt ebenso aktuell wie unerfüllt.[ 2 ] Davon zeugen auch die immer wieder aufflammende Auseinandersetzung über die Orthodoxie in der Volkswirtschaftslehre.[ 3 ]
Dabei ist der Versuch, eine richtige oder «wahre» Aussage über die Wirtschaft zu treffen, von Beginn weg zum Scheitern verurteilt, denn die Wirtschaft selbst ist das Ergebnis individuellen menschlichen Handelns und wir nehmen vernünftigerweise an, dass die Menschen tatsächlich einzigartig, phantasiebegabt und kreativ sind.[ 4 ] Wäre es möglich, menschliches Handeln hinreichend genau zu modellieren, könnten wir die Wirtschaft den Computern und Robotern überlassen, ja wir könnten sogar die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine komplett aufgeben.[ 5 ]
Die Erkenntnis, dass wir im Grunde nichts wissen über die Wirtschaft ist ebenfalls nicht neu. Von Keynes (1937) stammt bekanntlich der Ausspruch «we simply don`t know» mit dem er auf den Unterschied zwischen stochastischen Aussagen und der unvermeidlichen, echten oder «fundamentalen» Unsicherheit im Wirtschaftsgeschehen hinwies.
Interessant ist nun jedoch, wie Volkswirte mit dem Wissen, dass es kein «richtiges» Wissen in der Ökonomie geben kann, umgehen. Grundsätzlich gibt es, zumindest in den führenden akademischen Zeitschriften, zwei wesentliche Tendenzen. Einerseits eine theoretisch getriebene Welt der Modellierung der Wirtschaft, deren «empirischer» Teil mit Hilfe von dynamischen stochastischen Gleichgewichtsmodellen in zahllosen Varianten, so genannten DSGE-Modellen, versucht, die Wirtschaft zu erklären und zum Teil auch Vorhersagen abzuleiten. Zum anderen sind das ökonometrische Analysen mit vorwiegend beschreibendem Charakter und oft rudimentärem theoretischen Unterbau. Letztere werden vor allem getrieben durch den immer besseren Zugang zu spannenden Daten, teilweise auf Mikroebene, und den Fortschritten in der theoretischen Ökonometrie.
Diesen beiden Antworten ist zweierlei gemein und sie unterscheiden sich ein einem wesentlichen anderen Punkt. Der wichtige Unterschied zwischen beiden ist das Erkenntnisobjekt. Wie Romer (2016) deutlich macht, ist das Erkenntnisobjekt der DSGE-Welt das Modell selbst und bestenfalls lediglich mittelbar die Welt der Wirtschaft. Der empirische Zweig versucht dagegen, gültige Aussagen über die Wirtschaft abzuleiten. Er ist in diesen Aussagen aber aufgrund der geringen Abstraktion beschränkt, weil kaum Verallgemeinerungen möglich und Widersprüche je nach Stichprobe und Methodik häufig sind. Teilweise ist es aufgrund der spezialisierten Datensätze überhaupt unmöglich, getroffene Aussagen unabhängig zu überprüfen.
Ein Gemeinsames beider Ansätze ist, dass sie letztlich die Wirtschaft, entweder mittelbar oder unmittelbar, als Puzzles ansehen, die mit jedem Fortschritt in der Forschung neu zusammengesetzt werden. Mit anderen Worten, die Wirtschaft ist nicht ein fix gegebener Mond, dessen Rückseite auf einen Besuch wartet, sondern ein Konstrukt, das seine Form und seine inneren Zusammenhänge ständig ändert. Nur so lässt sich erklären, dass es wissenschaftlich akzeptiert ist, gleichzeitig «quantitative easing» der EZB abzulehnen oder zu empfehlen, mehr öffentliche Investitionen zu fordern oder Schuldenabbau zu priorisieren usw. Das heisst einander ausschliessende Politikempfehlungen koexistieren in der Wissenschaft. So etwas wäre undenkbar in der Raumfahrt, denn kein Kosmonaut würde in eine Rakete steigen, bei der die Treibstoffladung mit den monatlichen «Erkenntnissen» über die Erdanziehungskraft schwankt.
In der volkswirtschaftlichen Forschungspraxis sind widersprechende Forschungsergebnisse jedoch völlig selbstverständlich, was sich anhand der DSGE-Modelle etwa daran ablesen lässt, wenn das «wahre» Modell beständigem Wandel unterworfen wird, während den Wirtschaftssubjekten unterstellt wird, diesen Wandel der Modelle zu ignorieren, so dass einander widersprechende Wirklichkeiten parallel existieren. Folglich gibt es jeweils mehrere «wahre» Modelle, die alle verschiedenen Puzzles der Wirtschaft entsprechen.[ 6 ]
Ausgehend von der Individualität der Menschen und ihrer Kreativität ist diese Vielfalt der «Wahrheit» und des «Wissens» über die Wirtschaft unausweichlich. Es ist eben gerade nicht möglich, eine immer gültige Antwort auf die Frage nach dem Funktionieren der Wirtschaft zu geben, so wie wir es von den Gesetzen der Planetenbewegung kennen. Darum ist es vergleichsweise geradezu simpel, ein Rezept für den Besuch des Mondes im Jahr 2119 auszustellen.
Doch so wie Physiker den Kosmonauten helfen, den Weg ins All zu finden (und wieder zurück), wollen auch Volkswirte Entscheidungshilfen geben. Entscheidungen in der Wirtschaft müssen allerdings in einer fundamental unsicheren Welt getroffen werden. Entsprechend müssen diese Entscheidungshilfen geeignet sein für eine Welt der Unsicherheit, und gleichzeitig sind Volkswirte Teil dieser Welt der Unsicherheit. Diese Beobachtung führt zur zweiten Gemeinsamkeit der beiden Tendenzen, die sie auch mit allen anderen Zweigen der Volkswirtschaft teilen.
Diese zweite Gemeinsamkeit besteht darin, einen Weg aus mehreren möglichen Wegen gewählt zu haben, um in der Welt fundamentaler Unsicherheit Orientierung zu geben. Erinnern wir uns, eindeutig «richtige» Lösungen sind in der Regel nicht möglich; «Wissen» existiert in dem Sinne nicht, sondern nur das Wissen über die gewählte Entscheidungsregel. Folglich müssen Entscheidungen «passend», «angemessen» oder schlicht «existent» sein. Das heisst, es braucht erstens überhaupt Entscheidungen und zweitens müssen Entscheidungen irgendwie begründet sein.
Dieses «irgendwie» ist zurzeit in aller Regel gleichbedeutend mit «rational». In einer Welt der Unsicherheit ist dieses Kriterium jedoch höchst fraglich, denn seine Anwendung setzt voraus, dass die «richtige» Antwort bekannt ist, damit beobachtete Entscheidungen bzw. Entscheidungsregeln als «rational» angesehen werden können. Mit anderen Worten, «rationale» Entscheidungsprinzipien existieren bisher bestenfalls im Labor und in der geschlossenen Welt der Modelle.
Aus dieser Beobachtung folgt unvermeidlich, dass bei gleichem Informationsstand tradierte Methoden wie vorausschauende Erwartungen keineswegs bzw. nicht ohne weiteres a priori überlegen sind gegenüber konkurrierenden Verfahren wie autoregressiven Ansätzen, Daumenregeln u.ä.
Es folgt ausserdem, dass Volkswirte eher einen Schritt zurücktreten sollten um zunächst unvoreingenommen zu prüfen, ob und in welchem Ausmass welche Entscheidungsregel welchen anderen Regeln unter den Bedingungen der (fundamentalen) Unsicherheit überlegen ist. Spannend an dieser Frage ist dabei unter anderem mit welchen Mitteln ein solcher Vergleich vorgenommen werden könnte.
Eine naheliegende Vermutung für das zu erwartende Ergebnis eines solchen Vergleichs ist, dass es nur in wenigen Fällen möglich sein dürfte, klare Rangfolgen anzugeben. Das würde zugleich ein neues Licht auf so genannte «biases» und «irrationale» Entscheidungen werfen.
Eine populäre Variante zur Entscheidungsfindung unter Unsicherheit besteht etwa darin, die Unsicherheit auszublenden. Dazu wird etwa Unsicherheit durch stochastische Verteilungsfunktionen ersetzt und somit konsistente, optimale Lösungen für ein simplifiziertes System abgeleitet. Diesen Ansatz verfolgen im Wesentlichen DSGE-Modelle aber auch viele Arbeiten in der Finanzmarktanalyse.[ 7 ] Häufig genügen diese Entscheidungsregeln, doch wie der Untergang von Long-Term-Capital und die Finanzmarktkrise gezeigt haben, sind sie nicht universell tauglich.
Andere Entscheidungsregeln mögen aus Erfahrungen abgeleitet werden, also im Wesentlichen rückwärtsschauend sein, wieder andere mögen moralischen oder religiösen Prinzipien folgen oder Heuristik anwenden, also nicht im üblichen Sinne «rational» sein. Aufgrund der «fundamentalen» Unsicherheit in der Wirtschaft ist es jedoch, wie bereits gesagt, derzeit nicht möglich, irgendeinen der genannten scheinbar «irrationalen» Ansätze abzulehnen, da diese Ablehnung ein überlegenes «Wissen» voraussetzen würde, das angesichts eben dieser Unsicherheit einfach nicht existiert.
Dass exzellente Volkswirte nicht unbedingt automatisch exzellente Wissensvermittler sind, dürfte auf der Hand liegen. Weniger offensichtlich ist jedoch, dass das, was manch ein Volkswirt (oder Politiker) als «Wissen» vermittelt sehen möchte, lediglich ein temporäres Konstrukt einer Wirklichkeit ist, die sich nicht abschliessend beschreiben lässt. Volkswirte sollten diese Tatsache als akademische Herausforderung verstehen, mit der man durchaus auch einen U.S. Präsidenten frustrieren darf.
Levrero, E. (2019). «The Natural Rate of Interes is Anything But», INET, 28. Januar 2019, https://www.ineteconomics.org/perspectives/blog/the-natural-rate-of-interest-is-anything-but[ a ].
Müller, C. (2019). «Uncertainty and Economics: A Paradigmatic Perspective», Routledge 2019. (https://www.routledge.com/Uncertainty-and-Economics-A-Paradigmatic-Perspective/Muller-Kademann/p/book/9780367076030[ b ])
Keynes, J. M. (1937). «The General Theory of Employment», The Quarterly Journal of Economics, 51(2): 209 – 223.
Romer, P. (2016). «The Trouble With Macroeconomics», https://paulromer.net/wp-content/uploads/2016/09/WP-Trouble.pdf.
©KOF ETH Zürich, 5. Feb. 2019