Lange galten die wachsenden Targetsalden in erster Linie als Indikator divergenter Entwicklungen innerhalb der Eurozone. Im Falle eines Austritts eines Euro-Mitglieds oder gar einem Zerfall der Währungsunion gewännen die Targetsalden jedoch augenblicklich an politischer Brisanz. Nachdem der Streit um den deutschen Targetsaldo zwischenzeitlich eskaliert war, ist mittlerweile weitgehende Einigkeit unter den Ökonomen über diese Frage erzielt worden. Dazu hat wesentlich eine Diskussion unter den Hauptkontrahenten beigetragen, die auf einer von Carl Christian von Weizsäcker geschaffenen E-Mail-Plattform für makroökonomische Grundsatzfragen geführt wurde. Im Folgenden fasse ich die wesentlichen Ergebnisse und Zusammenhänge anhand eines vereinfachten Beispiels zusammen, welches auch bei
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Lange galten die wachsenden Targetsalden in erster Linie als Indikator divergenter Entwicklungen innerhalb der Eurozone. Im Falle eines Austritts eines Euro-Mitglieds oder gar einem Zerfall der Währungsunion gewännen die Targetsalden jedoch augenblicklich an politischer Brisanz.
Nachdem der Streit um den deutschen Targetsaldo zwischenzeitlich eskaliert war, ist mittlerweile weitgehende Einigkeit unter den Ökonomen über diese Frage erzielt worden. Dazu hat wesentlich eine Diskussion unter den Hauptkontrahenten beigetragen, die auf einer von Carl Christian von Weizsäcker geschaffenen E-Mail-Plattform für makroökonomische Grundsatzfragen geführt wurde. Im Folgenden fasse ich die wesentlichen Ergebnisse und Zusammenhänge anhand eines vereinfachten Beispiels zusammen, welches auch bei der internen Klärung eine wichtige Rolle gespielt hat.
Targetsalden im Regelfall: Symptom wirtschaftlicher Ungleichgewichte
Stellen wir uns zwei Inseln vor, die miteinander Handel treiben und anfangs noch getrennte Währungen haben. Zur Veranschaulichung nennen wir sie Lummerland und Kummerland, in Anlehnung an das bekannte Kinderbuch „Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende.
Wenn die Handelsbilanz zwischen den beiden Inseln ausgeglichen ist, gibt es kein Problem. Kaufen dagegen die Kummerländer mehr in Lummerland ein als umgekehrt, verschulden sie sich entsprechend gegenüber den Bewohnern der Nachbarinsel. Dies kann entweder in Form formeller Kredite oder durch die Überweisung von Kummerland-Geld nach Lummerland geschehen. Im letzterem Fall entsteht eine Kreditbeziehung in Form von Devisenreserven. Denn Kummerland-Geld kann nicht direkt in Lummerland verwendet werden, sondern stellt nur einen Anspruch auf Kummerland-Güter dar. Solange die Lummerländer die Devisen halten, also nicht für Käufe auf der Nachbarinsel verwenden, geben sie damit den Kummerländern einen entsprechenden Kredit.
Nun mögen die beiden Inseln eine Währungsunion eingehen, wobei aber – wie im Euroraum – beide ihre jeweiligen Zentralbanken behalten. Jetzt kann also jede Insel im Prinzip nahezu kostenlos Geld drucken, mit dem ihre Bewohner dann unmittelbar reale Güter und Vermögenswerte wie z.B. Immobilien auf der Nachbarinsel erwerben können. Es entsteht also nicht nur ein Geldschöpfungsgewinn wie bei jeder Geldmengenvermehrung, sondern dieser kann nun gezielt zur Schädigung der jeweils anderen Insel eingesetzt werden. Ohne entsprechende Regeln würde dies offenbar zu gegenseitiger Ausbeutung und letztlich heilloser Inflation führen. Die Targetsalden sind nun nichts anderes als ein Teil der Versicherungsmechanismen gegen solchen Missbrauch der nationalen Notenbanken:
- Nehmen wir zunächst wieder an, Kummerland weise ein Leistungsbilanzdefizit gegenüber Lummerland auf. Solange dies z.B. durch Bankkredite finanziert wird, gibt es kein Problem und es entstehen auch keine Targetsalden. Begleichen die Kummerländer dagegen das Defizit mit direkten Geldüberweisungen (in der jetzt gemeinsamen Währung), so wird Lummerland ein entsprechender Targetsaldo gutgeschrieben, während in Kummerland ein negativer Targetsaldo entsteht. Zu Targetsalden kommt es also immer nur bei direkten Geldflüssen zwischen den beiden Inseln, wobei lediglich der Nettobetrag (eben der Saldo) zu verbuchen ist. Sie ersetzen insoweit die bei getrennten Währungen entstehenden Devisenreserven
- Das gilt auch für den Fall einer Kapitalflucht. Nehmen wir etwa an, dass die Kummerländer ihr Geld vermehrt auf die Nachbarinsel bringen und dort damit z.B. Immobilien erwerben. Bei getrennten Währungen würde dadurch wiederum ein Devisenschatz der Lummerländer entstehen. In der Währungsunion fließt ihnen dagegen nur Geld zu, das sie sich auch selbst drucken könnten. Deshalb wird ihnen als Ausgleich wiederum ein entsprechendes Targetguthaben gutgeschrieben, während in Kummerland ein negativer Targetsaldo entsteht.
Gelegentlich wurde argumentiert, ein solcher Ausgleich sei überflüssig. Denn schließlich müsse ja jeder Kummerländer seine Einkäufe in Lummerland mit Geld bezahlen, das er selbst wiederum erst einmal verdienen oder leihen muss. Das ist richtig, übersieht aber den bei der Schaffung dieses Geldes entstehenden Geldschöpfungsgewinn. Nur wenn die Seignorage unabhängig vom Ort ihres Entstehens unter den beiden Inseln geteilt wird, ist der Einwand korrekt, jedenfalls solange die Währungsunion auf Dauer bestehen bleibt. Verbleibt die Seignorage dagegen bei der Insel-Zentralbank, von der das Geld geschaffen wurde, entsteht ein Verteilungsproblem: Der einzelne Kummerländer zahlt zwar dann korrekt, aber über den Geldschöpfungsgewinn fließt den Kummerländern insgesamt wieder genau der Betrag zu, den sie für die Einkäufe in Lummerland verausgabt haben. Der Effekt wäre ähnlich wie im Falle eines perfekten Geldfälschers: Er erwirbt scheinbar legal, in Wahrheit aber praktisch kostenlos Güter anderer Leute und bereichert sich somit, während die Verkäufer (über den dabei entstehenden Inflationseffekt) quasi geräuschlos enteignet werden.
Was passiert bei einem Euro-Austritt?
Da in der EWU der Geldschöpfungsgewinn gemäß den Kapitalquoten an der EZB auf alle Mitgliedsländer verteilt wird, tritt dieser Effekt hier grundsätzlich erst einmal nicht auf. Insoweit sind deshalb auch die Targetsalden zunächst einmal reine Buchungsposten ohne besondere ökonomische Brisanz. Allerdings gilt dies nur, solange auch wirklich alle Länder in der Währungsunion verbleiben. Schert dagegen ein Land aus oder zerbricht gar die ganze Währungsunion, werden die Targetsalden dagegen sofort relevant:
Nehmen wir etwa an, Kummerland tritt aus der Währungsunion aus und führt wieder eine eigene Währung ein. Vorher haben die Kummerländer aber noch kräftig in Lummerland eingekauft und ihre Bestände an gemeinsamer Währung gegen Güter und Immobilien eingetauscht. Dann würden die Lummerländer als Gegenleistung auf einem Geldbetrag sitzenbleiben, für den sie in Kummerland nichts mehr kaufen können. Die Kummerländer dagegen hätten die Güter und obendrein ihre neue Währung mit dem dazugehörigen Geldschöpfungsgewinn. Deshalb müssten sie spätestens jetzt ihre Targetverbindlichkeit glattstellen, z.B. durch Übertragung von Gold oder Wertpapieren. Erst dadurch würden die Lummerländer für ihre Güter und Immobilien eine reale Gegenleistung erhalten, analog zu den Devisenbeständen bei getrennten Währungen.
Allerdings gibt es in der Eurozone keine explizite rechtliche Verpflichtung zum Ausgleich der Targetsalden, nicht einmal für den Fall eines Austritts aus der Währungsunion. Die Targetsalden sind zudem mittlerweile so hoch, dass die Reserven etwa der Bianca d´Italia gar nicht mehr ausreichend für einen Ausgleich wären. Umstritten ist allerdings, wie wahrscheinlich der Austritt eines Landes – etwa Italiens - aus der Währungsunion überhaupt ist. Einige Ökonomen argumentieren zudem, dass in einem solchen Fall die Targetsalden nur eines von vielen, wahrscheinlich viel größeren Problemen seien.
Zudem gibt es noch andere Missbrauchsmöglichkeiten in einer Währungsunion als die Nicht-Einlösung von Targetsalden. So könnte die Kummerländer Zentralbank z.B. Geld gegen unzureichende Sicherheiten an ihre Bürger und ihre Regierung verleihen. Damit würde selbst ein im Prinzip gemeinsamer Geldschöpfungsgewinn faktisch zulasten der Nachbarinsel an die eigene Regierung oder an die eigenen Banken verschoben. Viele Ökonomen sehen hier – etwa in Bezug auf die sogenannten ELA-Kredite – ein noch größeres Problem der EWU als in den Targetsalden. Allgemein anerkannt ist allerdings inzwischen, dass spätestens beim Austritt eines Landes die Targetsalden zu echten Forderungen werden, deren Nicht-Einlösung reale Verluste für die Gläubigerländer bedeuten würde.
Es wird manchmal argumentiert, eine „echte“ Währungsunion ohne Fortbestand der nationalen Zentralbanken wäre vielleicht die bessere Idee gewesen. In diesem Fall gäbe es ja keine nationalen Geldschöpfungsgewinne mehr, und somit bräuchte man auch keine Targetsalden. (Deshalb gab und gibt es diese ja auch z.B. nicht zwischen NRW und Bayern.) Es ist allerdings zu fragen, ob eine solche, zentralistische Währungsunion zwischen souveränen Staaten sinnvoll bzw. durchsetzbar wäre. Immerhin würde sie die Übertragung nicht nur aller geldpolitischen Kompetenzen, sondern auch aller nationalen Gold- und Währungsreserven allein auf die EZB bedeuten. Für Deutschland handelt es sich dabei um einen Betrag, der noch weit über dem aktuellen Targetsaldo von ca. 1 Billion € liegen würde.
Die vorläufige Quintessenz der Diskussion lautet: Solange der Euroraum Bestand hat, sind Targetsalden eher ein Symptom für wirtschaftliche Ungleichgewichte als ein eigenständiges Problem. Tritt allerdings ein Land aus oder zerbricht gar die gesamte Währungsunion, müssten die Targetsalden nach inzwischen weitgehend einhelliger Auffassung ausgeglichen werden, um eine Bereicherung der Schuldnerländer auf Kosten der Gläubigerländer zu vermeiden. Andererseits ist dies aber nur ein Teilproblem der EWU, die noch viele andere Möglichkeiten eröffnet, sich auf Kosten der anderen Mitglieder nationale Vorteile zu verschaffen.
©KOF ETH Zürich, 12. Feb. 2019