Studien zeigen: Die gemessene Inflation übersteigt die wahre Inflation um knapp 1 Prozentpunkt. Dass in der Folge auch Realzinsen sowie Wirtschafts- und Lohnwachstum systematisch unterschätzt werden, geht oft vergessen. Vor nicht allzu langer Zeit war es noch selbstverständlich, Preisstabilität als Zustand zu definieren, in der die Teuerungsrate null beträgt. In der jüngeren Zeit jedoch ist es üblich geworden, eine Inflationsrate grösser als null mit Preisstabilität zu identifizieren. Fast alle Zentralbanken folgen heute einer solchen (vom Wortlaut her eigentlich paradoxen) Linie. Die Schweizerische Nationalbank etwa versteht Preisstabilität als Inflation zwischen 0 und 2 Prozent (im Mittel also rund 1 Prozent), die Europäische Zentralbank als Inflation von knapp unter 2 Prozent,
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Studien zeigen: Die gemessene Inflation übersteigt die wahre Inflation um knapp 1 Prozentpunkt. Dass in der Folge auch Realzinsen sowie Wirtschafts- und Lohnwachstum systematisch unterschätzt werden, geht oft vergessen.
Vor nicht allzu langer Zeit war es noch selbstverständlich, Preisstabilität als Zustand zu definieren, in der die Teuerungsrate null beträgt. In der jüngeren Zeit jedoch ist es üblich geworden, eine Inflationsrate grösser als null mit Preisstabilität zu identifizieren. Fast alle Zentralbanken folgen heute einer solchen (vom Wortlaut her eigentlich paradoxen) Linie. Die Schweizerische Nationalbank etwa versteht Preisstabilität als Inflation zwischen 0 und 2 Prozent (im Mittel also rund 1 Prozent), die Europäische Zentralbank als Inflation von knapp unter 2 Prozent, ähnlich das US Federal Reserve.
Überschätzte Inflation
Die häufigste Rechtfertigung für diese Praxis beruht auf einem Messfehlerargument für die Inflation. Zentral dabei ist die Feststellung, dass viele Güter ihre Natur über die Zeit stark verändert haben. Automobile oder Fernsehgeräte von heute etwa sind, wie eine Vielzahl anderer Produkte, enorm viel leistungsfähiger und komplexer geworden als ihre Vorgänger vor 30 oder gar 50 Jahren. Sie sind in mancherlei Hinsicht eigentlich neue Produkte. Es ist ein konzeptuell und statistisch schwieriges Unterfangen, in diesen Fällen Qualitätsänderungen und Preissteigerungen präzis auseinanderzuhalten.
Gemäss einer von Ökonomen häufig vertretenen Sicht werden aus diesem Grund Erhöhungen des Preisniveaus im Durchschnitt überschätzt; sie reflektieren zum Teil Qualitätsverbesserungen, die nicht korrekt erfasst worden sind. So hat bereits 1996 eine von der US Regierung eingesetzte Expertengruppe, die Boskin Commission, argumentiert. Vor kurzem hat ein internationales Team von Wissenschaftlern um den Ökonomen Philippe Aghion erneut solche Ergebnisse vorgelegt.
Die gemessene Inflation übertrifft nach diesem Argument die effektive («wahre») Inflation, nach üblichen Schätzungen um (etwas aufgerundet) knapp 1 Prozentpunkt. Man mag über solche Schätzungen streiten. Sie liefern aber das wichtigste Argument dafür – das einzig ökonomisch respektable, das ich kenne – dass praktisch alle Zentralbanken heute eine (gemessene) Inflationsrate grösser als null faktisch mit Preisstabilität gleichsetzen.
Mir geht es in diesem Beitrag nicht um das Für und Wider dieses Argumentes. Darüber kann man debattieren. Mein Punkt hier ist allein, dass wir alle seine Konsequenzen beachten sollten, wenn wir es schon benutzen. Wenn wir nämlich das Argument akzeptieren, dass die gemessene Inflation die tatsächliche Inflation um schätzungsweise 1 Prozentpunkt überschätzt, heisst das gleichzeitig, dass wir das Wachstum der Realwerte (der Kaufkraft) der Löhne, des Sozialprodukts, und auch der Wertpapierpreise entsprechend unterschätzen.
Unterschätzte Realzinsen und Wachstumsraten als Folge?
Diese Grössen werden ja konstruiert, indem wir ihre beobachtbaren Nominalwerte um die (gemessene) Preisentwicklung korrigieren. Auf diese meines Erachtens wichtige Konsequenz wird seltsamerweise auch in der wissenschaftlichen Diskussion kaum je hingewiesen. Eine Anpassung der Nominallöhne im Ausmass der (gemessenen) Inflation wird regelmässig als Bewahrung eines unveränderten Reallohns verstanden. In Wirklichkeit aber nimmt der Reallohn, d.h. die Kaufkraft des nominalen Lohns, dann um 1 Prozent zu, sofern das Messfehlerargument bezüglich der Inflation stimmt.
Ebenso wichtig ist – und ebenfalls kaum je zur Kenntnis genommen wird –, dass auch die realen Zinsen in dem Ausmass unterschätzt werden, in welchem wir die wahre Inflation überschätzen. Sie werden ja berechnet, indem wir die (gemessene) Inflation von der (beobachtbaren) Nominalverzinsung subtrahieren. Ein Nominalzins von null kombiniert mit einer gemessenen Nullinflation etwa bedeutet einen Realertrag von 1 Prozent, wenn wir die (wahre) Inflation um 1 Prozentpunkt überschätzen.
Kurzfristig mag eine so kleine Differenz in der Zuwachsrate oder im Zinssatz relativ bedeutungslos erscheinen. Doch für die lange Frist sieht das anders aus. Über 30 Jahre macht eine Wachstumsdifferenz von 1 Prozentpunkt eine Steigerung um rund 35 Prozent aus, über 50 Jahre um fast 65 Prozent. Wir sollten an das Messfehlerargument für die Inflation deshalb auch denken, wenn wir uns darüber wundern, dass das reale Lohn- und Wirtschaftswachstum in den Industriestaaten über die letzten 30 oder 50 Jahre nur so mässig ausgefallen ist, obwohl doch die Konsummöglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen, ganz offensichtlich immens viel grösser sind als damals.
Wir sollten uns entscheiden: wenn wir das Messfehlerargument bezüglich der Inflation akzeptieren, müssen wir auch alle seine Konsequenzen durchdenken und beachten. Wenn wir es jedoch nicht akzeptieren – oder durch eine adäquatere Messung eliminieren wollen – sollten wir auch damit aufhören, es zur Rechtfertigung eines Inflationsziels grösser als null zu benutzen und dieses mit Preisstabilität gleichzusetzen.
Dieser Beitrag ist am 14. Mai 2019 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
©KOF ETH Zürich, 5. Jun. 2019