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Karl Marx – Nachdenken über den Jahrhundert-Ökonomen des 19. Jahrhunderts

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Am 5. Mai jährt sich der Geburtstag von Karl Marx zum zweihundertsten Mal. Dieser persönliche Beitrag weist auf die anhaltende Bedeutung der Marxschen Kritik und auch deren Limiten hin. Der 200ste Geburtstag von Karl Marx ist Anlass für zahllose Bücher und Kommentare sich mit ihm aktuell auseinanderzusetzen. Ich kann diesem öffentlichen Diskurs auch nicht widerstehen. Allerdings wollen meine paar Zeilen keineswegs den Anspruch erheben, dass ich, wie andere Autoren, die definitive Interpretation seiner Lebensleistung liefern kann. Ich beschränke mich bewusst auf eine sehr persönliche Sicht auf Marx, wie sie sich für mich über viele Jahre hin entwickelt hat. Stand der Studienordnung in Deutschland im Jahr 1968 Was hat mich an Marx in jungen Jahren, um 1968 folgende, als ich mit dem

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Am 5. Mai jährt sich der Geburtstag von Karl Marx zum zweihundertsten Mal. Dieser persönliche Beitrag weist auf die anhaltende Bedeutung der Marxschen Kritik und auch deren Limiten hin.

Der 200ste Geburtstag von Karl Marx ist Anlass für zahllose Bücher und Kommentare sich mit ihm aktuell auseinanderzusetzen. Ich kann diesem öffentlichen Diskurs auch nicht widerstehen. Allerdings wollen meine paar Zeilen keineswegs den Anspruch erheben, dass ich, wie andere Autoren, die definitive Interpretation seiner Lebensleistung liefern kann. Ich beschränke mich bewusst auf eine sehr persönliche Sicht auf Marx, wie sie sich für mich über viele Jahre hin entwickelt hat.

Stand der Studienordnung in Deutschland im Jahr 1968

Was hat mich an Marx in jungen Jahren, um 1968 folgende, als ich mit dem Studium der VWL an der Freien Universität Berlin begann, so sehr fasziniert? Nun, als junger Student war damals mein Studium durch das Absolvieren der Propädeutik, bestehend aus sechs Scheinen für Lineare Algebra, Analysis, Rechnungswesen I(Betriebsbuchhaltung) und II (Finanzbuchhaltung) sowie Statistik I (deskriptive Statistik) und Statistik II (schließende Statistik) geprägt. Wer die sechs Prüfungen bestand, hatte damals sein Grundstudium erfolgreich absolviert. Ein begleitendes Studium der VWL war damals noch nicht existent. Man konnte natürlich zusätzlich Vorlesungen zur Mikro- oder Makroökonomie belegen.

Diese Situation trug wenig dazu bei, um ein Verständnis für den Sinn und Zweck der VWL zu entwickeln. Denn auch in der Mikroökonomie bestand diese im Wesentlichen darin, dass in den Vorlesungen – Diskussionen der Vorlesungsinhalte waren damals weitgehend unerwünscht und wurden vom Dozenten als Störung empfunden – das Prinzip der Nutzenmaximierung, der Grenznutzentheorie, der Kosten- und Gewinnmaximierung und des Ertragsgesetzes analytisch mit eben den Methoden der Analysis einschließlich der Maximierung bzw. Minimierung anhand von Nebenbedingungen an der Tafel in Form von mathematischer Ableitungen demonstriert wurden. Das hatte wohl seinen Ursprung darin, dass damals in Deutschland der Prozess der Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften einsetzte und dazu ein großer Teil von Hochschuldozenten kein Ökonomiestudium, sondern eher ein Mathematik-, Physik- oder auch Ingenieurstudium absolviert hatten. All diesen waren ökonomische Fragestellungen weitgehend fremd. Ökonomie war nur ein Anwendungsfall für ihre mathematisch-statistischen Methoden. Es handelte sich letztendlich nur eine etwas blutleere Form von Ökonomie, die mein Interesse nicht wecken konnte.

Im Gegensatz dazu war damals unter den Studenten und Assistenten die Frage nach den zentralen Problemen der Wirtschaft, wie sie früher noch im Rahmen einer "Politischen Ökonomie" diskutiert worden waren, als Debatte um reale Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft höchst aktuell. Dazu konnte uns die damals gelehrte VWL wenig Antworten liefern. Was hat dies alles mit Marx zu tun?

Die Arbeitswertlehre als Gegenentwurf zur Nutzentheorie

Nun, Marx mit seinem Jahrhundertwerk "Das Kapital" eröffnete einen Diskurs über die gesellschaftspolitische Situation einer kapitalistischen Gesellschaft. Man darf nicht vergessen, dass damals mit der ersten Nachkriegsrezession im Jahr 1967 das deutsche Wirtschaftswunder ein Ende fand. Arbeitslosigkeit war schlagartig als gesellschaftspolitisches Problem wieder in den Fokus der wirtschaftspolitischen Diskussion gerückt worden. Der Mythos eines stetigen gleichgewichtigen Wirtschaftswachstums war damit in Frage gestellt.

Was machte die Arbeitswertlehre der traditionellen politischen Ökonomie von Smith bis Marx so attraktiv, um in der Debatte im Jahr 1968 eine Renaissance erfahren und wieder in den Fokus der akademischen Diskussion zu rücken?

Die Arbeitswertlehre beinhaltete implizit das Thema der sozialen Gerechtigkeit. Bis heute predigen auch die Gewerkschaften das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Arbeit war von den klassischen Ökonomen als konstitutionelles Prinzip von Wirtschaft und Gesellschaft definiert worden. Warum also gab es so massive Lohn- und Gehaltsunterschiede? Ein Thema das bis heute unseren gesellschaftspolitischen Diskurs prägen. Ob gender-pay-gap, schlechte Bezahlung in zahlreichen Berufen der sozialen Dienstleistungen – wie in der Kranken- und Altenpflege – haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Es gibt bis heute ein breites Unbehagen, dass es mit der sozialen Gerechtigkeit bei Arbeitseinkommen in einer kapitalistischen Marktwirtschaft nicht sehr weit her ist. Nimmt man noch die Managergehälter hinzu, dann wird die Tragweite des Themas offensichtlich.

Die Arbeitswertlehre enthält quasi implizit eine verteilungspolitische Fragestellung, für die bis heute keine angemessene Antwort gefunden werden konnte. Die Grenzproduktivitätstheorie der Neoklassik – ein Ankerstein der neoklassischen Theorie – ist als Erklärungsansatz hierfür ungeeignet. Die Gründe hierfür sind vielfältig und sollen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Mithin fühlen sich zahlreiche Studenten und Assistenten damals dazu berufen, diesen Fragen anhand des Studiums des Marxschen Hauptwerkes, Das Kapital, nachzugehen. Die Grenzen zeigten sich dann aber in dem Problem der Wert-Preis-Transformation, das auch Marx nicht befriedigend lösen konnte.

Allerdings wurde dadurch eben die neoklassische Antwort nicht bestätigt, sondern letztendlich scheitern beide Denkansätze an der Erklärung der Realität. Falsifikationen von Theorien liefern ja leider keine positive Antwort, wo denn nun die richtigen Hypothesen und Theorien zu suchen sind. Nicht zufällig werden heute ganz andere Forschungsansätze wie Neuroökonomie und Verhaltensökonomie verfolgt.

Wirtschaftliches Gleichgewicht

Marx Veröffentlichung des ersten Bandes des Kapitals erfolgte vorrangig mit dem Ziel einer Kritik der im 19. Jahrhundert im Wissenschaftsbetrieb noch weitgehend vorherrschenden politischen Ökonomie. Insbesondere der schon von Adam Smith (1723 - 1790) – dem Jahrhundertökonom des 18. Jahrhunderts – propagierte Automatismus der unsichtbaren Hand, die das Gleichgewicht der Märkte garantieren sollte, war Hauptgegenstand seiner Kritik. Im dynamischen Prozess einer kapitalistischen Wirtschaft ist das Gleichgewicht in der Regel die Ausnahme und nicht der Normalzustand. Die Debatte um die Problematik eines Gleichgewichtsdenkens in der bis heute vorherrschenden Wirtschaftstheorie hat seither nicht aufgehört. Marx hatte also durchaus allen Grund, den Finger in diese offene Wunde des Theoriegebäudes der Wirtschaftswissenschaften zu legen.

Bereits der Versuch, mittels eines Marshallschen Angebots- und Nachfragemodells einen Prozess hin zu einem partiellen Marktgleichgewicht abzuleiten, stößt auf zahllose bis heute ungelöste Probleme.[ 1 ]

Noch schwieriger wird es beim Versuch, einen Tâtonnement-Prozess für ein Walrasianisches allgemeines Marktgleichgewicht auch nur mathematisch zu definieren.[ 2 ] Da helfen auch Browerscher oder Kakutanis Fixpunktsätze nicht weiter.

Marx Versuch, das Problem anhand der Reproduktionsschemata eines Zwei-Sektoren-Modell zu lösen, scheiterte letztendlich und so blieb der zweite Band des Kapitals konsequenterweise zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht. Trotzdem ist der Gedanke später in der neoklassischen Wachstumstheorie weiter verfolgt worden. Allerdings sind die Bedingungen für eine mathematisch konsistente Lösung des Problems für die praktische empirische Anwendung untauglich. Auch daran anschließende multisektorale Wachstumsmodelle müssen extrem restriktive Annahmen treffen, um ein gleichgewichtiges multisektorales Wirtschaftswachstum, das sich in der empirischen Wirklichkeit nicht finden lässt, theoretisch zu begründen. Theorie und Empirie finden mithin nicht zueinander.

Dogmengeschichte der Wirtschaftswissenschaften

Eine Folge der Auseinandersetzung mit Marx war auch damals, dass ich die Bedeutung der Dogmengeschichte für die Wirtschaftswissenschaften erkannte. Während man im traditionellen Lehrbetrieb die herrschende neoklassische Theorie quasi als fertiges Resultat vorgesetzt bekam, das aus vorwiegend mathematischen Theoremen bestand, kann man "das Kapital" nicht lesen, ohne sich des ideengeschichtlichen Kontexts von Theorien in den Wirtschaftswissenschaften bewusst zu sein. Marx Kapital entstand schließlich als Kritik an den verschiedenen Theorien, die damals in den Wirtschaftswissenschaften en vogue waren. Mithin, um diese Kritik verstehen zu können, musste man auch die Veröffentlichungen der von ihm kritisierten Autoren zur Kenntnis nehmen.

Weil bereits Marx den Ideologievorwurf gegen die klassische politische Ökonomie und auch die frühen Utilitaristen wie Bentham erhob, war die Kenntnis der Ideengeschichte der Wirtschaftswissenschaften ein wichtiges Element zum Verständnis der eigenen Disziplin.

Wie kam es zum aktuellen Lehrgebäude? Eine Frage, der in den traditionellen Lehrveranstaltungen meist ausgewichen wurde. Marc Blaug[ 3 ] und Werner Hofmann[ 4 ] waren, um diese Lücke zu füllen, notwendige und hilfreiche Lektüre für mich. Theorien und/oder Ideologien fallen ja nicht wie Manna vom Himmel, sondern sind oftmals Teil eines gesellschaftspolitischen Diskurses. Nicht umsonst hat vor einigen Jahren Thomas Piketty[ 5 ] mit seinem Versuch einer Reformulierung des Kapitals von Marx für das 21. Jahrhundert breite Aufmerksamkeit, weit über die akademische Zunft hinaus, hervorgerufen.

Wissenschaftsgeschichte ist, insbesondere in den Sozialwissenschaften, ein wichtiger Bestandteil zum Verständnis der jeweils aktuellen Theorien. Hierzu war für mich das Studium des Kapitals durchaus ein Ausgangspunkt, um eine Leerstelle im traditionellen Lehrbetrieb zu füllen.

Marx als Beobachter und Interpret der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts

Marx war im Gegensatz zu Adam Smith davon überzeugt, dass es einen gesellschaftspolitischen Grundwiderspruch zwischen Arbeit und Kapital gibt. Insbesondere die Erfahrungen in England im Zuge der industriellen Revolution, die Friedrich Engels in seinem Werk "Die Lage der arbeitenden Klasse in England"[ 6 ] , anschaulich beschrieben hatte, zeigte einen fundamentalen Interessenkonflikt zwischen diesen Parteien wegen des Interesses der Kapitalisten, den Reichtum des Produktionsprozesses zu Gunsten des Kapitals zu verteilen. Nicht ein fairer Ausgleich der Früchte der Produktion zwischen Arbeit und Kapital war das Ziel des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, sondern Profitmaximierung zu Lasten der Arbeiter.

Damit war die Tür für Marx zur Analyse der Theorien über den Mehrwert und dessen Verteilung aufgestoßen. Der Mehrwert der Produktion wurde nach Marx‘ Auffassung ausschließlich durch die Kapitalisten angeeignet und die Arbeiter gingen leer aus. Da aber Arbeit durch Kapital ersetzt wurde, d.h. im Zuge der industriellen Revolution ein Substitutionsprozess von Arbeit gegen Kapital sich vollzog, folgerten Marx und Engels daraus, dass es unausweichlich zu einer Verelendung der Arbeiterklasse kommen müsse. Die Möglichkeit, dass die Arbeiter anderswo eine neue Beschäftigung und auch neue und sogar bessere Einkommen finden könnten, wurde aus ihrer Sicht ausgeschlossen.

Wir wissen heute, dass es zur Verelendung bis heute nicht gekommen ist. Zwar gibt es derzeit eine wachsende Zahl von Menschen, die in prekären Lebensverhältnissen – gemessen am heutigen durchschnittlichen Lebensstandard – verharren, aber eine Verelendung der gesamten Arbeiterklasse hat nicht stattgefunden. Damit fehlt eine wesentliche Voraussetzung für eine kommunistische oder sozialistische Revolution. Dies war im Zuge der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert anders. Durch die Industrialisierung waren viele Arbeiter und ihre Familien in ihrer physischen Existenz bedroht. Es bedurfte letztendlich der Verteilungskämpfe bis hin zu Streiks und des Eingreifens des Staates, um diesen Verteilungskonflikt soweit abzuschwächen, dass eine Teilhabe der Arbeiter am Wohlstand der kapitalistischen Wirtschaft stattfinden konnte. Bismarcks Einführung einer Sozialversicherung im Deutschen Reich diente u.a. dem Zweck, in Deutschland eine mögliche Revolution der Arbeiter gegen ihre Ausbeutung aufgrund der sozialen Verhältnisse im Land zu verhindern.

Während Marx und Engels noch darauf bauten, dass es aufgrund der Ausbeutung der Arbeiterklasse und der fortschreitenden Verelendung zu einer sozialen Revolution kommen müsse, wurde ein politisches Verteilungsgleichgewicht durch die Schaffung eines Sozialstaates geschaffen, der diese Entwicklung verhinderte.

Marx verstand, wie David Ricardo[ 7 ] , durchaus die Rolle des Kapitalismus als Treiber für einen rasanten technischen Fortschritt der Wirtschaft. Im Maschinenkapitel des Kapital, in Anlehnung an Ricardo, hebt er seine positive Rolle als Treiber für die Entwicklung der Produktivkräfte hervor. Produktivitätssteigerung der Arbeit führt bei angemessener Verteilungspolitik letztendlich dazu, dass eine Steigerung des Wohlstands nicht nur den Kapitalisten, sondern eben auch den Arbeitern zugute kommt.

Marx unterschätzte klar die Verhandlungsmacht der Arbeiter, die gemeinsam mit dem Staat aus Staatsraison einen Sozialstaat schufen, der eine zunehmende Eskalation der Einkommensunterschiede über die Einkommens- und Vermögensverteilung durch Tarifverträge und die Sozialpolitik verhinderte. Die sozialistische oder kommunistische Revolution – so wie sie Marx und Engels erwarteten – fand daher bis heute nicht statt.

Illusion bedingungsloses Grundeinkommen

Umso bedenklicher sind aktuelle Bestrebungen, den Sozialstaat unter dem Schlagwort bedingungsloses Grundeinkommen abschaffen zu wollen. Das bisherige Transfersystem des Sozialstaates hat sich, dank Bismarck, als wesentlicher Faktor zur Stabilisierung des kapitalistischen Systems erwiesen, und damit die Verteilungskämpfe auf ein nicht-revolutionäres Maß reduziert. Das bedingungslose Grundeinkommen ist auch deshalb unter Vertretern des Silicon-Valley in den USA so populär, weil man im Zuge der derzeitigen technologischen Entwicklung erneut eine massive technologisch bedingte Arbeitslosigkeit erwartet. Erneut soll dieser Ansatz für ein erweitertes Transfersystem dazu dienen, eine Krise durch Massenarbeitslosigkeit aufgrund technologischen Fortschritts beherrschbar zu machen. Wird ein großer Teil der Fähigkeiten der Arbeiter nicht mehr benötigt, weil diese innerhalb des Produktionsprozesses durch Methoden und Verfahren der Künstlichen Intelligenz kostengünstig ersetzt werden können, entsteht natürlich eine Krise der Arbeitsgesellschaft, die für die Menschen neben dem Kapitaleinkommen im Wesentlichen aus Arbeitseinkommen besteht. Ob ein Transfersystem, das eine Existenzsicherung der Arbeitslosen durch ein Grundeinkommen die Lösung darstellt, muss bezweifelt werden. Es bedarf eben eines Gesellschaftsmodells, das Lebensentwürfe anböte, die sich nicht auf Erwerbsarbeit als Lebensgrundlage gründen. Kein so leicht zu lösendes Problem, wie es für die Propagandisten des bedingungslosen Grundeinkommens den Anschein hat. Die Parole – jeder nach seinem Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten – klingt urkommunistisch, quasi die Eroberung des Reichs der Freiheit. Allerdings übersieht dieser Denkansatz, der auch von Vertretern der Linken vertreten wird, dass es weiterhin eine große Gruppe von Menschen geben wird, die qua Vermögen oder hochqualifizierter Arbeit ein wesentlich höheres Einkommen erzielen werden als die Arbeitslosen.

Im Unterschied zu den aktuellen Radikalrefomern damals wie heute vertrat Marx eher einen evolutionären Prozess, der das Ende des Kapitalismus für den Zeitraum kommen sah, wenn aufgrund des technischen Fortschritts die Einkommen quasi naturgemäß auf ein Niveau gesteigert hat, das diese Freiheit zum selbstbestimmten Leben für alle möglich macht.

Damit schlägt er bereits die Richtung ein, die später auch Schumpeter[ 8 ] und Keynes[ 9 ] verfolgt wurde. Noch schwebt über unserer Gesellschaft – um es mit Erich Schneider zu sagen – der kalte Stern der Knappheit. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Bedürfnisse der Menschen keineswegs statisch sind, sondern sich ständig erweitern und verändern. Was vor hundert Jahren einer Mehrheit der Bevölkerung als Befriedigung ihrer sämtlichen Bedürfnisse erschienen wäre, erscheint heute oft als Mangelsituation.

Hinzu kommt die Krise der sozialen Sicherungssysteme, die unter wachsenden Kostendruck stehen. Hier findet auch eine nahezu stetige Inflation der Leistungserwartungen statt. Technischer Fortschritt im Gesundheitswesen, steigende Lebenserwartung, Bedarf an Altenpflege, zunehmende Qualifikationserfordernisse und steigende Ausbildungszeiten hierfür schaffen einen massiven Kostendruck, der an Grenzen der Finanzierung des Sozialstaats stößt.

Hinzu kommt, dass der technische Fortschritt aufgrund seiner Wirkung auf Produktion und Konsum zu einer technologischen Entwertung führt. Was Schumpeter als Akt schöpferischer Zerstörung[ 10 ] kennzeichnete, entwertet zuvor akkumuliertes Kapital und verändert drastisch die Konsumnachfrage. Damit sind nach heutiger Diktion disruptive Innovationen ein wesentlicher Faktor, der der bloßen Akkumulation von Kapital entgegen wirkt.[ 11 ]

Fazit

Aus meiner Erfahrung beim Studium von Marx und seiner Theorie habe ich wichtige Erkenntnisse und Anregungen für mein Verständnis der damaligen Wirtschaftswissenschaften erhalten; allerdings mit der Zeit, aufgrund meiner zunehmenden Kenntnisse, den Glauben daran verloren, dass Marx bereits den Stein des Weisen für die Probleme unserer Wirtschaft und Gesellschaft gefunden haben soll.

Marx war ein glänzender Kritiker der Wirtschaftswissenschaften, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts als herrschende Lehre existierte. Er erkannte zahlreiche fundamentale Schwachstellen in den verschiedenen Theoriegebäuden. Allerdings überschätzte er wohl seine eignen Fähigkeiten, hierauf eine konstruktive Antwort geben zu können.

Seine Prophetie, dass Englands industrielle Revolution das Paradigma für die übrige Welt liefern würde, erwies sich als zutreffend. Ein Naturgesetz ist sie damit jedoch nicht. Wir sehen weltweit eine völlig ungleichzeitige und unterschiedliche Entwicklung.

Wohin zukünftig die Reise gehen wird, ist für mich daher ergebnisoffen. Marx hat zweifellos wichtige Denkanstöße zu Problemen geliefert, die damals wie heute ungelöst geblieben sind. So ist das eben in der Wissenschaft, insbesondere in den Sozialwissenschaften, die aufgrund der bestehenden Komplexität des Geschehens keine endgültigen Perspektiven und Theorien bieten kann.

Trotzdem bin ich Marx als einem meiner wichtigen Lehrmeister zu Dank verpflichtet. Er ist für mich nach Adam Smith der wichtigste Ökonom geblieben, der mit seinen Ideen und Überlegungen am meisten unsere gesellschaftliche Entwicklung beeinflusst hat.

Erst John Maynard Keynes hat im 20. Jahrhundert einen vergleichbaren Einfluss auf das ökonomische Denken ausgeübt. Keynes hat den Staat wieder als zentralen Akteur in die Wirtschaftswissenschaft eingeführt. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 lieferte den konkreten Anlass eine Politik des Laissez-faire seitens des Staates aufzugeben. Damit wurde letztendlich aus der rein mathematischen Betrachtung der Wirtschaft als System effizienter Märkte eine Rückkehr zur politischen Ökonomie vollzogen, die als neue politische Ökonomie seither eine Renaissance erlebt hat.

Nur wenige Marktradikale glauben, dass es eine effiziente Wirtschaft ohne Staat geben könnte. Neben Kapital, d.h. Unternehmern, und Arbeit, d.h. unselbständig Beschäftigten, ist unsere Wirtschaft, ohne den Staat nicht sinnvoll analysierbar. Märkte sind niemals frei von staatlicher Einflussnahme und Regulierung. Damit ist aber das politische Element in der ökonomischen Analyse essentiell. Das hat nicht zuletzt auch für mich die Beschäftigung mit der politischen Ökonomie am Beispiel von Marx so attraktiv gemacht. Die lange Zeit stattfindende Debatte "Staat kontra Markt" ist mithin eine Sackgasse gewesen.

Im 21. Jahrhundert könnte Schumpeter mit seinem Fokus auf die technologische Entwicklung von zentraler Bedeutung sein. Es geht immer mehr vorrangig nicht um Kapitalakkumulation, sondern um Innovationsfähigkeit und Absorptionsvermögen innerhalb einer Gesellschaft. Hier stellen sich dann zentrale Fragen der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft in völlig veränderter Form. Wie werden Innovationsrenten zukünftig in unserer Gesellschaft verteilt? Welche Teilhabe haben Menschen am gesamtgesellschaftlichen Innovationsprozess?


©KOF ETH Zürich, 4. Mai. 2018

Georg Erber
Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Berlin war Georg Erber dort wissenschaftlicher Assistent am Institut für Versicherungsmathematik und Statistik mit dem Schwerpunkt Ökonometrie und Statistik.

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