Der Brexit steht symptomatisch für das Unbehagen vieler BürgerInnen gegenüber der EU. Allerdings bietet er auch eine Chance, die EU weiterzuentwickeln, wie dieser Beitrag zeigt. Die meisten Interpretationen, einschließlich des bis heute besten politischen Narrativs dafür warum das Vereinigte Königreich für den Brexit gestimmt hat, schreiben das Ergebnis des britischen Referendums britischen Besonderheiten und Eigenarten zu.[ 1 ] Dazu zählen eine seit langem bestehende Ambivalenz gegenüber der EU, interne Streitigkeiten der regierenden Conservative Party und der Zerfall der Labour Party (Shipman, 2016). Aber ist der Brexit auch symptomatisch für ein grundlegendes Problem der EU? Ist er nur eine Manifestation des europaweiten populistischen Aufbegehrens? Wenn ja, wie sollte damit umgegangen werden? Skepsis oder Feindseligkeit gegenüber der EU lässt sich in den meisten EU-Staaten finden, wobei das Vereinigte Königreich besonders euroskeptisch ist (vgl. Abbildung 1). Personen, die sich selbst zu den höheren sozialen Schichten zählen, halten in den meisten Ländern die EU-Mitgliedschaft eher für etwas Positives als ihre weniger privilegierten Mitmenschen. Dies gilt jedoch nicht im Vereinigten Königreich, wo sich der Brexit schon 2015 im Eurobarometer klar abzeichnete. Auch in Italien und Polen zeigen sich leicht abweichende Ergebnisse.
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Der Brexit steht symptomatisch für das Unbehagen vieler BürgerInnen gegenüber der EU. Allerdings bietet er auch eine Chance, die EU weiterzuentwickeln, wie dieser Beitrag zeigt.
Die meisten Interpretationen, einschließlich des bis heute besten politischen Narrativs dafür warum das Vereinigte Königreich für den Brexit gestimmt hat, schreiben das Ergebnis des britischen Referendums britischen Besonderheiten und Eigenarten zu.[ 1 ] Dazu zählen eine seit langem bestehende Ambivalenz gegenüber der EU, interne Streitigkeiten der regierenden Conservative Party und der Zerfall der Labour Party (Shipman, 2016). Aber ist der Brexit auch symptomatisch für ein grundlegendes Problem der EU? Ist er nur eine Manifestation des europaweiten populistischen Aufbegehrens? Wenn ja, wie sollte damit umgegangen werden?
Skepsis oder Feindseligkeit gegenüber der EU lässt sich in den meisten EU-Staaten finden, wobei das Vereinigte Königreich besonders euroskeptisch ist (vgl. Abbildung 1). Personen, die sich selbst zu den höheren sozialen Schichten zählen, halten in den meisten Ländern die EU-Mitgliedschaft eher für etwas Positives als ihre weniger privilegierten Mitmenschen. Dies gilt jedoch nicht im Vereinigten Königreich, wo sich der Brexit schon 2015 im Eurobarometer klar abzeichnete. Auch in Italien und Polen zeigen sich leicht abweichende Ergebnisse.
Abbildung 1
Die Einstellungen zur EU unterscheiden sich zwischen den sozialen Schichten innerhalb eines Landes ähnlich stark, wie die Mittelwerte zwischen den Ländern. Befragte der Mittelschicht aus Frankreich, Italien, Schweden und Deutschland schätzen ihre EU-Zugehörigkeit genauso wie Spanier, Polen, Portugiesen und Dänen aus der Arbeiterschicht, obwohl ihre Landsleute aus der Arbeiterschicht der EU-Mitgliedschaft viel weniger begeistert gegenüberstehen.
Brexit als Chance für die EU?
Könnte der Brexit eine Chance für die EU sein sich zu erneuern und effektiver mit den zahlreichen politischen Herausforderungen umzugehen sowie erfolgreicher bei der Gewinnung der Unterstützung ihrer Bürger zu sein? Einerseits scheint das aktuelle politische Klima, selbst ohne weitere Austritte, unfreundlich gegenüber weiterer Integration zu sein. Andererseits beseitigt der Brexit einen mächtigen Gegner europäischer Integration.
Zum Beispiel wurden Pläne zu einer verbesserten Kooperation zwischen EU-Ländern in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik (einem klaren öffentlichen Gut auf europäischer Ebene) von der Kommission, aus Angst davor damit negative Stimmung in Großbritannien zu fördern, bis auf die Zeit nach dem Brexit-Referendum verschoben. Die Opposition Großbritanniens war ein Hauptgrund dafür, dass frühere Initiativen in diese Richtung (zuletzt 2011 durch das französisch-deutsch-polnische “Weimarer Dreieck”) gescheitert sind. Angesichts der Notwendigkeit, die europäische Verteidigungspolitik aufgrund von Donald Trumps Distanzierung von der NATO zu reorganisieren, werden vom Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik beim Treffen von Verteidigungs- und Außenministern Vorschläge zur stärkeren Kooperation in der Verteidigung gemacht.
Da der Brexit außerdem Hindernisse für eine weitere fiskalische Integration in der EU beseitigt, sehen ihn Länder, die in der Vergangenheit tiefergreifende fiskalische Integration und mehr Transfers forderten, als Chance größeren Einfluss auszuüben. Weil sich Europa keinen weiteren Austritt leisten kann, stärkt der Präzedenzfall Großbritanniens faktisch die Position anderer potentieller Austrittskandidaten. Portugal und Spanien haben bereits Sanktionen für die Verletzung des Fiskalpakts – größtenteils wegen der vom Brexit verursachten Unsicherheiten – entgehen können. Das vielleicht anfälligste Land ist Italien, mit Frankreich und Deutschland eines der größten EU-Länder, und eines, das eine größere Rolle bei den zwischenstaatlichen Abkommen spielen möchte (dies betonte der ehemalige Premierminister Renzi beim Dreiertreffen zum Neustart Europas nach dem Brexit auf der symbolisch bedeutsamen Insel Ventotene – Altiero Spinellii hat hier als Gefangener der Faschisten das europäische föderalistische Manifest mitverfasst). Die italienische Regierung ist von einer ihrer Meinung nach eklatanten Nichtbeachtung ihrer Ansichten bei der Revision der Flüchtlings- und Fiskalpolitik zutiefst enttäuscht und drohte sogar mit einem Veto bei den Verhandlungen zum EU-Haushalt.
Der europäische Integrationsprozess der Nachkriegszeit sollte eine weit gefasste und politisch tragfähige Union Gleichgestellter schaffen, in der Frankreich und Deutschland auf eine mühseligere, aber dafür konstruktivere Art und Weise an ihrer Beziehung arbeiten können als durch Kriege, die nicht zuletzt auf Grund britischer Einmischungen seit Jahrhunderten keinen klaren Eroberer und damit größeren, einheitlichen, kontinentaleuropäischen Staat hervorbrachten. Über das letzte Jahrzehnt haben europäische Entscheidungsprozesse – möglicherweise durch die Erweiterung und sicherlich als Folge der Eurokrise – gegenüber den nationalen Politikinteressen eine untergeordnete Rolle eingenommen.
Leider können zwischenstaatliche Vereinbarungen nicht so vorausschauend und umfassend sein, wie man sich die EU idealerweise vorstellt. Sie können auf gleiche Art und Weise flexibler sein, wie Speed-Dating flexibler ist als eine Ehe mit ihren mühseligen Entscheidungsprozessen und komplizierten Scheidungsprozeduren. Flexibilität bietet kurzfristige Vorteile, aber mangelnde Selbstverpflichtung macht es schwierig Pläne zu koordinieren, die vonnöten sind um langfristige Ziele zu erreichen. Ein Versprechen in guten wie in schlechten Zeiten zusammenzubleiben kann glaubwürdig sein, wenn eine Scheidung schwierig ist. Es fördert Solidarität und schafft Anreize, Unstimmigkeiten zu beseitigen und in zukunftsorientierte Projekte zu investieren.
Zwischenstaatliche politische Verhandlungen sind nützlich, wenn Krisen sofortige Handlungen erfordern. Jedoch ist ihre Wirkung allgemein stärker in einem von Populismus geprägten politischen Umfeld, das auf direkte eigennützige Vorteile abzielt, ohne deren Nebeneffekte und letztendliche Konsequenzen zu beachten. Außerdem regeln die Abmachungen zwischen Staatsoberhäuptern die Machtverhältnisse auf eine konfliktreiche Art und Weise und können in kleineren Ländern Missgunst gegenüber der EU zur Folge haben: Wenn die Handlungen der EU als Ergebnis von Verhandlungen französischer und deutscher Staatsoberhäupter wahrgenommen werden, kann das von der italienischen oder holländischen Öffentlichkeit nicht einfach so hingenommen werden.
Kompromisse sind notwendig
In jeder integrierten Volkswirtschaft müssen beständige und konstruktive Kompromisse gefunden werden, die die gegensätzlichen Ansichten zur Lenkung der Wirtschaft miteinander vereinbaren. Können effektive staatliche Eingriffe ausreichend kontrolliert und überwacht werden, um sicherzustellen, dass sie keinen Nährboden für Korruption und Ineffizienz bieten? Auf welche Weise kann der private Sektor miteinbezogen werden? Es gibt eindeutig wichtige, öffentliche Güter, die geschaffen und Gewinne, die eingestrichen werden könnten.
Ein offensichtliches Projekt ist die Integration des Zuflusses an Flüchtlingen. In diesem Bereich gibt es Präzedenzfälle in Momenten tiefer Krisen, wie zum Beispiel in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, oder in Frankreich nach der Dekolonisierung, als Millionen von Neuankömmlingen Wohlstand und Tatendrang erzeugten. Ein weiteres, wahrhaft europäisches Projekt wäre der Aufbau einer Infrastruktur, die lokale und nationale Energiesysteme verbindet. Diese weisen aktuell inkompatible Strukturen in der Preisfestsetzung auf. In diesem Bereich lassen sich durch Integration Wohlstandsgewinne erzielen: Je größer die Angebotsvielfalt und je mehr Marktalternativen existieren (inklusive verschiedener Arten von Energie), desto widerstandsfähiger wird die Energiewirtschaft gegenüber unerwarteten Ereignissen, einschließlich Versuchen die Endverbraucher zu erpressen.
In der Vergangenheit hat die EU Krisen häufig als Chance genutzt, um sich weiterzuentwickeln und Widersprüche aufzulösen. Im Gegensatz dazu haben in letzter Zeit finanzielle Probleme zur Rückführung von Vermögen und Schulden sowie einer Renationalisierung des Bankensystems geführt. Fortschritte zur Lösung des Problems werden vor allem von Deutschlands Widerstand gegenüber einer supranationalen Bankenaufsicht für seinen gesamten Bankensektor und der Vermutung, dass jede Einlagenversicherung Ressourcentransfers impliziert, behindert. Diese Haltung ist in Anbetracht der symmetrischen Tendenz anderer Länder sich aus gemeinsamen Geldern zu bedienen nachvollziehbar. Die daraus resultierende Politikgestaltung ist jedoch eindeutig nicht weitsichtig genug, um die Union auf der sicheren Seite des Abgrunds zu halten. Europa muss liefern. Es braucht sicherlich eine klare Vision, die es effektiv kommunizieren kann. Ebenso wichtig ist es jedoch zu zeigen, dass diese Vision auch zu Ergebnissen führt.
Litertatur
Shipman, T. (2016), All Out War: The Full Story of How Brexit Sank Britain’s Political Class, Collins, London.
- 1 Diese Kolumne ist eine Übersetzung der im englischen erschienenen Kurzfassung zum Artikel: Andersen, Torben M., Giuseppe Bertola, John Driffill, Clemens Fuest, Harold James, Jan-Egbert Sturm und Branko Uroševic, Chapter 3: Britain and EUexit – The People Versus the EU, EEAG Report on the European Economy 2017, CESifo, München 2017, S. 67–81.
©KOF ETH Zürich, 9. Mär. 2017