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Ist die Liquiditätspräferenztheorie von Keynes mit Wicksells Zinsspannentheorie vereinbar?

Summary:
Knut Wicksells Definition eines natürlichen Zins stieß bei John Maynard Keynes auf Kritik, der dessen natürlichen Zinssatz durch seine sogenannte Liquiditätspräferenztheorie ersetzte. Allerdings lagen die beiden bei der Einschätzung, was im Fall von Niedrigzinsen und ungenügender Kreditvergabe zu tun sei, relativ nahe beieinander: Beide plädierten für die Übernahme der Versorgung der Haushalte und Unternehmen mit Krediten durch den Staat. Auch wer eine rhetorische Frage stellt, mag eine Antwort erhalten. In diesem Sinne möchte ich die Frage von Gerald Braunberger[ a ] beantworten, mit der er seinen Artikel zu Geld und Zins beendete und die ich hier als Überschrift benutzt habe. Die dort besprochene Zinsspannentheorie von Knut Wicksell entstammt seinem Werk "Geldzins und

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Knut Wicksells Definition eines natürlichen Zins stieß bei John Maynard Keynes auf Kritik, der dessen natürlichen Zinssatz durch seine sogenannte Liquiditätspräferenztheorie ersetzte. Allerdings lagen die beiden bei der Einschätzung, was im Fall von Niedrigzinsen und ungenügender Kreditvergabe zu tun sei, relativ nahe beieinander: Beide plädierten für die Übernahme der Versorgung der Haushalte und Unternehmen mit Krediten durch den Staat.

Auch wer eine rhetorische Frage stellt, mag eine Antwort erhalten. In diesem Sinne möchte ich die Frage von Gerald Braunberger[ a ] beantworten, mit der er seinen Artikel zu Geld und Zins beendete und die ich hier als Überschrift benutzt habe. Die dort besprochene Zinsspannentheorie von Knut Wicksell entstammt seinem Werk "Geldzins und Güterpreise" von 1898, die Keynes’sche Liquiditätspräferenztheorie der "Allgemeinen Theorie" aus dem Jahr 1936. Da Wicksell 1926 verstarb ist von ihm keine Antwort zu bekommen. Keynes allerdings hat sich in seiner "Allgemeinen Theorie" zur Zinsspannentheorie geäußert. Gegen Ende des 17. Kapitels schreibt er in aller Deutlichkeit:

"I am now no longer of the opinion that the concept of a "natural" rate of interest, which previously seemed to me a most promising idea, has anything very useful or significant to contribute to our analysis. It is merely the rate of interest which will preserve the status quo; and, in general, we have no predominant interest in the status quo as such."

Was ist nun der natürliche Zins bei Wicksell und warum hat Keynes kein Interesse an diesem? Der natürliche Zins ist der, welcher zu der Höhe von Investitionen führt, so dass die Inflationsrate genau null beträgt. Das Preisniveau bleibt also stabil. Wicksell unterscheidet zwischen Marktzins und natürlichem Zins. Der Marktzins ergibt sich durch die Zinssetzung der Banken, der natürliche Zins ist – wie bereits beschrieben – rein theoretischer Natur.

Marktzins vs. natürlicher Zins

Wicksell unterscheidet drei Fälle. Liegt der Marktzins über dem natürlichen Zins, sind die Investitionen zu niedrig und damit ist die Nachfrage zu schwach, um das Preisniveau zu stabilisieren. Es resultiert Deflation bzw. Disinflation (sinkende Inflationsraten). Liegt der Marktzins unter dem natürlichen Zins, dann wird zu viel investiert – die erhöhte Nachfrage treibt die Inflationsrate nach oben. Der dritte Fall ist dann das Gleichgewicht von Marktzins und natürlichem Zins: Die Inflationsrate verändert sich nicht.

Wicksell nimmt also an, dass es eine verlässliche Beziehung gibt zwischen Höhe des Marktzinses und Höhe der (kreditfinanzierten) Investition. So hätte eine moderne Zentralbank leichtes Spiel, über Veränderungen des Zinssatzes die Kreditmenge zu verändern und damit die Inflationsrate. In der Realität sehen wir allerdings, dass der Zusammenhang zwischen Zinsen und Investitionen nicht so einfach ist. Trotz Nullzinsen will in der Eurozone kein starker Aufschwung einsetzen. Es bleibt offen, was die Geldpolitik in der nächsten Rezession noch ausrichten soll.

Keynes gefällt der natürliche Zins nicht, weil dieser nicht mit Vollbeschäftigung korreliert. Wer in der Wirtschaftspolitik das Ziel Vollbeschäftigung verfolgt, der ist nicht daran interessiert, Situationen von Unterbeschäftigung zu stabilisieren. Daher verwirft Keynes das Konzept des natürlichen Zinses. Aber auch Wicksell war durchaus skeptisch, ob speziell niedrige Zinsen zu einer erwünschten Ausweitung der Menge an Krediten führen würden. Gegen Ende seines Buchs schrieb er zum Thema Niedrigzinsen:

"The objection that a further reduction in rates of interest cannot be to the advantage of the banks may possibly in itself be perfectly correct. A fall in rates of interest may diminish the banks' margin of profit more than it is likely to increase the extent of their business. I should like then in all humility to call attention to the fact that the bank’s prime duty is not to earn a great deal of money but to provide the public with a medium of exchange – and to provide this medium in adequate measure, to aim at stability of prices. In any case, their obligations to society are enormously more important than their private obligations, and if they are ultimately unable to fulfill their obligations to society along the lines of private enterprise – which I very much doubt – then they would provide a worthy activity for the State."

Wicksell vermutet hier, dass im Fall von Niedrigzinsen die Kreditvergabe nicht wie gewünscht zunimmt, weil die Banken ihr Kreditgeschäft nicht ausreichend ausweiten. Für diesen Fall plädiert Wicksell für die Übernahme der Versorgung der Haushalte und Unternehmen mit Krediten durch den Staat. Dies ist schon sehr nah an der keynesianischen Idee, dass der Staat durch erhöhte Kreditaufnahme selbst höhere Ausgaben tätigt[ b ]. Insofern liegen Wicksell und Keynes doch näher beieinander als man vielleicht vermuten würde. Eine Wicksell-Connection lässt sich auch in die jüngere Ideengeschichte verfolgen, u. a. zu Jacques Le Bourva oder auch zur "Modern Monetary Theory[ c ]".

Den natürlichen Zins ersetzt Keynes dann mit seiner Liquiditätspräferenztheorie. In Kapitel 13 weist er darauf hin, dass sich Individuen Gedanken machen, wie viel von ihrem Einkommen sie verausgaben. Weiter folgt dann:

"But this decision having been made, there is a further decision which awaits him, namely, in what form he will hold the command over future consumption which he has reserved, whether out of his current income or from previous savings. Does he want to hold it in the form of immediate, liquid command (i.e. in money or its equivalent)? Or is he prepared to part with immediate command for a specified or indefinite period, leaving it to future market conditions to determine on what terms he can, if necessary, convert deferred command over specific goods into immediate command over goods in general? In other words, what is the degree of his liquidity-preference — where an individual’s liquidity-preference is given by a schedule of the amounts of his resources, valued in terms of money or of wage-units, which he will wish to retain in the form of money in different sets of circumstances?"

Da Keynes eine kurzfristig konstante, aber über die Geldpolitik veränderbare Geldmenge annimmt, führt eine erhöhte Präferenz für Liquidität – das Halten von Bargeld – beim Publikum zu steigenden Zinsen im Geldsystem. In einer Krise, wenn also Haushalte und Unternehmen mehr Bargeld halten, stehen für die Banken zudem weniger Zentralbankguthaben zur Verfügung, da diese in Bargeld umgetauscht werden können. Die zusätzliche Nachfrage nach Bargeld wird zumindest teilweise befriedigt, allerdings brauchen die Banken Zentralbankgeld, um Überweisungen ihrer Kunden an andere Banken zu finanzieren, wenn es im Interbankenmarkt keine Kredite mehr gibt. Dies kann zu Illiquidität der Banken und dann zum "bank run" führen, wenn die Kunden der Bank daran zweifeln, dass sie ihre Bankeinlagen noch in Bargeld ausgezahlt bekommen oder per Überweisung zu solideren Banken senden können.

In einem modernen Geldsystem schießen die Zentralbanken automatisch Zentralbankgeld ins Bankensystem, um ein Ansteigen des Zinses auf dem Interbankenmarkt zu vermeiden. Dies ist eine Folge der Lektionen aus der Großen Depression, als die Zentralbanken dies nicht taten bzw. in zu geringem Ausmaß und es zu massenhaften Bankenpleiten in den USA und anderswo kam. Bei der großen Finanzkrise von 2008/09 kam es zu einem "bank run" beim "repo", den Wiederverkaufsvereinbarungen (repurchase agreements). Die Banken hatten sich gegen Sicherheiten untereinander Zahlungen in Zentralbankgeld gestundet, und in der Krise verloren die Sicherheiten an wert. Die Banken verlangten also bei gleicher Kreditsumme mehr Sicherheiten. Banken, denen die Sicherheiten ausgingen, waren so gezwungen, einen Teil ihrer Forderungen zu verkaufen. Dies führte zu sinkenden Vermögenspreisen auf breiter Front, insbesondere bei Aktien und Immobilien.

Die Liquiditätspräferenz und die Zinsspannentheorie betreffen also zwei unterschiedliche Bereiche der Wirtschaft. Wenn man die Liquiditätspräferenz auf den Interbankenmarkt anwendet und die Zinsspannentheorie auf den Bereich der Bankkredite an den privaten Sektor, dann sind sie beide miteinander vereinbar. In der Realität wurde auch nach beiden gehandelt. Auf dem Interbankenmarkt haben Zentralbanken die Liquidität in der Krise stark erhöht, um massenhafte Bankenpleiten zu verhindern. Bezüglich der Kreditvergabe an Unternehmen und Haushalte wurden die Leitzinsen auf null reduziert, um diese anzukurbeln und damit die Inflationsraten wieder zu stabilisieren. Beide Theorien sind also in der Praxis sehr beliebt.

©KOF ETH Zürich, 26. Okt. 2017

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