Vieles ist heute in den westlichen Industrieländern besser als früher, das zeigen diverse Statistiken zum materiellen Wohlstand. Dennoch besteht – wie diverse Wahlen der jüngeren Vergangenheit in der westlichen Welt gezeigt haben – ein Unbehagen grosser Bevölkerungsteile. Dieser Beitrag erklärt dieses Unbehagen damit, dass die Erfolge ungleich bei den Einzelnen angekommen seien. Jene haben recht, die mit Freude und Genugtuung auf die Erfolge verweisen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte errungen worden sind: Im Schnitt ist die Lebensdauer gestiegen, die Kindersterblichkeit zurückgegangen und der materielle Wohlstand hat zugenommen.[ 1 ] Die Liste lässt sich beliebig verlängern und wir haben allen Grund, uns über diese Erfolge zu freuen. Dies auch dann, wenn wir in Rechnung
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Vieles ist heute in den westlichen Industrieländern besser als früher, das zeigen diverse Statistiken zum materiellen Wohlstand. Dennoch besteht – wie diverse Wahlen der jüngeren Vergangenheit in der westlichen Welt gezeigt haben – ein Unbehagen grosser Bevölkerungsteile. Dieser Beitrag erklärt dieses Unbehagen damit, dass die Erfolge ungleich bei den Einzelnen angekommen seien.
Jene haben recht, die mit Freude und Genugtuung auf die Erfolge verweisen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte errungen worden sind: Im Schnitt ist die Lebensdauer gestiegen, die Kindersterblichkeit zurückgegangen und der materielle Wohlstand hat zugenommen.[ 1 ] Die Liste lässt sich beliebig verlängern und wir haben allen Grund, uns über diese Erfolge zu freuen. Dies auch dann, wenn wir in Rechnung setzen müssen, dass ein Teil dieser Erfolge Kosten gezeitigt hat, die von kommenden Generationen getragen werden müssen. Der Klimawandel und die ungeklärte "Endlagerung" von Nuklearabfällen mögen hier als Stichworte genügen.
Wenn nun aber richtig ist, dass die Freude über das Erreichte berechtigt ist, dann stellt sich die Frage, woher das Unbehagen, ja, die Animosität jener kommt, die mit den herrschenden Zuständen unzufrieden sind, ja, selbst dann das "kapitalistische System" oder die politische Ordnung ablehnen und bekämpfen wollen, wenn sie deren Erfolge nicht glaubhaft leugnen können.
Die Antwort auf diese Frage ist einfach und folgenreich: Auch dann, wenn insgesamt dieses "System" Erfolge vorweisen kann, so ist doch festzustellen, dass einige mehr als andere an den Erfolgen des "Systems" partizipieren. Ja, es gibt Menschen und Gruppen, die befürchten, in einer insgesamt erfolgreichen Gesellschaft zu den Verlierern zu gehören, abgehängt zu werden. Will sagen: Eine insgesamt erfolgreiche Gesellschaft mag deshalb kritisiert, im Zweifel abgelehnt und bekämpft werden, weil die Erfolge ungleich bei den Einzelnen ankommen, gar der gesamtgesellschaftliche Erfolg durch das Scheitern Einzelner ermöglicht wird.
Problematisch werden diese Ungleichheiten dann, wenn sie sich perpetuieren, also gilt: Weil Du heute arm bist, werden Du oder Deine Kinder es morgen auch sein; und: Weil Du heute reich bist, werden Du oder Deine Kinder es morgen auch sein können. Man kann es auch so sagen: Nicht die sozioökonomische Ungleichheit ist das Problem, sondern die erstarrte, die gleichsam versteinerte Ungleichheit.
Nun mag man darüber streiten, in welchem Masse die Ungleichheit erstarrt ist, also der Weg von unten nach oben für mehr oder weniger viele mehr oder weniger steinig, gar versperrt ist. Unbestreitbar ist, dass die Verhältnisse von vielen so gesehen und erlebt werden. Ist dem aber so, dann ist es nicht verwunderlich, dass jene, denen der Weg nach oben versperrt ist, wenn sie denn nicht in antriebslose Apathie verfallen, zur mehr oder weniger aggressiven Ablehnung der bestehenden Verhältnisse neigen.
Unbehagen ernst nehmen
Man mag versucht sein, dies zu bagatellisieren, im Zweifel mit polizeilichen Methoden zu bekämpfen, doch ist es nützlicher, das Unbehagen jener, die sich "abgehängt" fühlen, ernst zu nehmen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Umstürze der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte hier ihren Ursprung hatten: 1789 stürmten die Franzosen die Bastille nicht deshalb, weil sie Rousseau und Diderot gelesen hatten, sondern weil sie Hunger hatten und keine Aussicht auf Besserung bestand. Auch haben die Russen 1917 ihren Zaren nicht deshalb gestürzt, weil sie Marx und Engels gelesen hatten, sondern weil die Ungleichheit der Lebensverhältnisse zu gross und zu erstarrt war; und die Deutschen haben 1933 die nationalsozialistische Revolution nicht deshalb johlend begrüsst, weil sie Hitlers "Mein Kampf" gelesen hatten, sondern weil ihnen versprochen worden ist, endlich wieder "dabei" zu sein, mitgenommen zu werden.
Mit gutem Grund wird man an dieser Stelle einwenden, dass gegenwärtig zumindest in Deutschland von vorrevolutionärer Stimmung nicht die Rede sein kann. Abgesehen davon, dass Ludwig XVI und der Zar Nikolaus auch nicht gesehen hatten, was sich da an gesellschaftlichem Sprengstoff anhäuft, ist man dennoch gut beraten, in dem Heraufkommen von rechtslastigen Parteien und Bewegungen den Ausdruck eines aggressiven Unbehagens an einer Gesellschaft erkennen. Ein US-Präsident wie Donald Trump wäre wohl dann nicht denkbar, wenn nicht jene, die "unten" sind, befürchten müssten, unten bleiben zu müssen, ja, weiter abzusteigen. Auch der teils gewalttätige Protest auf dem G20 Gipfel in Hamburg mag eine Folge dieser Ängste gewesen sein.
Gerade die USA sind ein Negativbeispiel dafür, was geschieht, wenn die Politik auf wirtschaftsliberalen Grundsätzen wie "Jeder ist seines Glückes Schmid" und der These des "Trickle-Down Growth" aufgebaut ist, nach der Einkommens- und Vermögenswachstum bei der ohnehin gut situierten Bevölkerung auch ohne wohlfahrtsstaatliche Unterstützung bei der Bildung, Gesundheit und Sozialtransfers eher früher als später in der breiten Bevölkerung ankommt. Sie tut es nicht.[ 2 ] De-Industrialisierung und Outsourcing von Jobs der ehemaligen Mittelschicht in den USA haben dazu geführt, dass seit den 1980er Jahren die weisse, männliche Mittelschicht mittleren Alters nicht nur keine realen Einkommenszuwächse mehr verzeichnen konnte, sondern zunehmend prekäre Beschäftigungsverhältnisse annehmen musste und die Ausbildung ihrer Kinder nicht mehr ausreichend finanzieren kann.[ 3 ] Wie der Nobelpreisträger Angus Deaton mit seiner Frau Ann Case gezeigt hat, ist in den letzten zwei Jahrzehnten als stressbedingte Folge dieser Entwicklungen die Sterblichkeit dieser Gruppe aufgrund vermehrten Suizids sowie Alkohol- und Schmerzmittelmissbrauchs in erheblicher Weise angestiegen.[ 4 ]
Aufstiegschancen in den USA geringer als in Europa
Ironischerweise sind trotz der oft bemühten Karikatur "vom Tellerwäscher zum Millionär" die Aufstiegschancen von Kindern aus ärmeren Familien in den USA so gering wie nirgends sonst in der westlichen Welt. Gemäss einer kürzlich veröffentlichten Studie haben ca. 60 Prozent der heute 30-Jährigen geringere Einkommen als ihre Väter im gleichen Alter.[ 5 ] Auch in Deutschland spüren die Menschen, dass es trotz allgemeinen Wirtschaftswachstums längst nicht mehr sicher ist, dass es der Mehrheit der Kinder so gut oder bessergehen wird als ihren Eltern.
Empirische Befunde legen nahe, dass eine hohe Einkommens- und Vermögensungleichheit die Chancengleichheit einschränkt und leistungsfeindlich ist.[ 6 ] In Deutschland sind noch keine amerikanischen Verhältnisse erreicht, aber auch hier besitzen die reichsten 10% über drei Fünftel des Vermögens. Bereits heute ist – mit stark steigender Tendenz – etwa die Hälfte dieses Vermögens geerbt worden, also ist nicht auf eigene Arbeitsleistung bzw. eigene Ersparnis zurückzuführen.[ 7 ] Indes steigen nicht nur in Deutschland bereits seit Jahrzehnten die Mieten und Wohnungspreise in erheblicher Weise – vor allem in Städten, wo junge Menschen Jobs finden.[ 8 ] Ohne reiche Eltern stellt dies für viele zunehmend ein Problem dar und verstärkt tendenziell die Ungleichheit. Durch die in Zukunft anfallenden Erbschaften enormen Ausmasses wird sich die Gesellschaft weiter spalten. Viele werden auch bei grösstem Engagement auf dem Arbeitsmarkt im Alter auf Renten angewiesen sein, die aller Voraussicht nach unter denen ihrer Eltern liegen. Sie werden in vielerlei Hinsicht nicht in die Nähe der gleichaltrigen Erben kommen, die einfach Glück hatten, in die richtige Familie hineingeboren zu sein. Sie erhalten anders als diese keine Nachhilfe bei schulischen Problemen, keinen Musikunterricht und keinen durch den Vater vermittelten Praktikumsplatz in London. Eine solch mangelnde Chancengleichheit ist leistungsfeindlich und sozialer Sprengstoff zugleich.
Umso erstaunlicher ist es, dass viele selbsternannte Liberale in Medien und Politik darin kein Problem sehen und, anstatt als Anwalt für die Entfaltung der Einzelnen aufzutreten, mit Verweis auf Eigentumsrechtschutz die Partikularinteressen Vermögender schützen. Mit derselben Argumentation könnte man auch ablehnen, dass jemand, der mit 100 Stundenkilometer durch die Innenstadt fährt, dafür ein Bussgeld zahlen muss. Das wäre gemäss der angeführten Logik ebenfalls ein Eingriff in die Eigentumsrechte. Das Gefährden anderer Verkehrsteilnehmer ist nicht unbedingt schlimmer als die Chancengleichheit zu gefährden; siehe das Beispiel der abnehmenden Lebenserwartung amerikanischer Globalisierungsverlierer. Man könnte auch sagen: Das Privateigentum ist um der einzelnen Menschen willen da; nicht aber diese um der Eigentumsrechte willen.
Private Stiftungen nicht als Lösung, sondern Ergänzung
Dies scheint auch der eine oder andere reiche Eigentümer zu denken, der Millionen, gar Milliarden der Förderung gesellschaftspolitischer Anliegen widmet. Die Schenkungen und Stiftungsgründungen, die hier getätigt werden, sind hoch zu loben. Doch auch dann, wenn man den Stiftern seinen Respekt nicht versagt, bleibt ein ungutes Gefühl; der Grund: Hier werden gesellschaftspolitisch relevante Entscheidungen von reichen, also potenten privaten Personen getroffen. Nun setzt aber eine liberale Gesellschaft voraus, dass die wirtschafts- und gesellschaftspolitisch relevanten Entscheidungen von allen Bürgern, nicht aber von einigen wenigen getroffen werden. Mögen die Stiftungen etwa von Warren Buffet, Mark Zuckerberg, Bill Gates hoch willkommen sein, so ersetzen sie nicht eine Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik, die der Willensausdruck aller freien und gleichen Bürger ist.
So liesse sich auf kommunaler Ebene durch bessere Jugend- und Sozialarbeit, intensiver Betreuung von Kindern aus ärmeren Familien, mehr soziale Durchmischung in Wohngegenden oder Ausbau des öffentlichen Verkehrs auch ausserhalb grosser Städte viel mehr zur Förderung von Chancengleichheit erreichen als durch grosse Stiftungen. Die Finanzierung sollten diejenigen tragen, die von sozialer Kohäsion und geringer Eigentumskriminalität am meisten profitieren: die Eigentümer grosser Vermögen.
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©KOF ETH Zürich, 20. Okt. 2017