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Autonomie und Unterordnung im globalen Kapitalismus

Summary:
Warum votieren die Briten für den Brexit und viele Katalanen für die Abspaltung von Spanien? Warum streben Milliardäre nach politischen Ämtern, statt sich auf ihre ökonomischen Imperien zu konzentrieren? Sind diese Entscheidungen jenseits der ökonomischen Rationalität wirklich bar jeder Vernunft, wie viele Kommentare nahezulegen scheinen? Um diese Fragen zu beantworten, muss man das enge Referenzsystem ökonomischer Modelle verlassen, wie dieser Beitrag zeigt. Ökonomische Modelle behandeln den Markt als zentrales, wenn nicht als einziges Koordinationssystem. Dass dem Markt eine so zentrale Rolle zugeschrieben wird, ergibt sich aus einem liberalen und individualistischen Menschenbild und aus der Leistungsfähigkeit des Marktes in der zuverlässigen spontanen Koordination kurzfristiger

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Warum votieren die Briten für den Brexit und viele Katalanen für die Abspaltung von Spanien? Warum streben Milliardäre nach politischen Ämtern, statt sich auf ihre ökonomischen Imperien zu konzentrieren? Sind diese Entscheidungen jenseits der ökonomischen Rationalität wirklich bar jeder Vernunft, wie viele Kommentare nahezulegen scheinen? Um diese Fragen zu beantworten, muss man das enge Referenzsystem ökonomischer Modelle verlassen, wie dieser Beitrag zeigt.

Ökonomische Modelle behandeln den Markt als zentrales, wenn nicht als einziges Koordinationssystem. Dass dem Markt eine so zentrale Rolle zugeschrieben wird, ergibt sich aus einem liberalen und individualistischen Menschenbild und aus der Leistungsfähigkeit des Marktes in der zuverlässigen spontanen Koordination kurzfristiger menschlicher Entscheidungen. Die neuen populistischen Bewegungen und regionalen Autonomiebestrebungen sind aber möglicherweise auch sichtbarer Ausdruck des Gefühls, dass die Entwicklung der Wohlfahrt nach ökonomischen Maßstäben einerseits und der subjektiv empfundenen Wohlfahrt andererseits zunehmend auseinander fallen.

Während die kapitalistische Entwicklung fortschreitet und der gesellschaftliche Wohlstand zunimmt, haben viele Unterstützer der neuen politischen Bewegungen anscheinend das Gefühl, dass ihre Ziele und Bedürfnisse immer weniger Einfluss auf die Entwicklung haben. Der gesellschaftliche materielle Wohlstand steht nach ihrem Empfinden nicht mehr für die Realisierung ihrer eigenen primären Ziele zur Verfügung, so dass der Eindruck entsteht, zur Wahrung der eigenen Interessen auf machtvolle Institutionen jenseits des Marktes und einer an ökonomischen Maßstäben ausgerichteten Politik zurückgreifen zu müssen.

Die Grenzen des Marktes

Menschen maximieren Wohlstand, um ihre Bedürfnisse befriedigen zu können, vor allem aber, um Sicherheit und Gestaltungsfreiraum zu gewinnen. In diesem Zusammenhang verweist die Ökonomik gerne auf das Prinzip der Konsumentensouveränität und die Macht der Verbraucher. Diese aber beruht lediglich auf der Freiheit der Wahl zwischen vorgegebenen Optionen und ist nicht gleichzusetzen mit allgemeiner Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit. Die auf dem Prinzip der Konsumentensouveränität beruhende Verteidigung der Überlegenheit des Markts in der Koordination von Entscheidungen ignoriert zwei Probleme.

Erstens: Die Fähigkeit, Produktion und Angebot zu beeinflussen, hängt vom individuellem Einkommen ab. Während die Auswirkungen etwa des Flugverkehrs auf die CO2-Konzentration in der Luft und damit auf den Klimawandel letztlich alle Menschen weltweit betrifft, sind nur jene paar Prozent, die überhaupt über die finanziellen Mittel verfügen, Flugreisen zu buchen, in der Lage, die Entwicklung durch ihr Konsumverhalten zu beeinflussen.

Zweitens:  Bedürfnisse sind kontextabhängig und werden durch Entscheidungen von Produzenten und Mitbürgern beeinflusst. Was ein Mensch für ein "gutes Leben" braucht oder zu brauchen glaubt, hängt zu einem hohen Maß davon ab, was andere Personen erzeugen und konsumieren. Diese sozialen Auswirkungen individueller Entscheidungen führen dazu, dass Wünsche bezüglich der eigenen Lebenswelt einerseits und individuelles Handeln andererseits auseinanderfallen können: Ich mag mich zurücksehnen nach der Zeit ohne permanente Verfügbarkeit und allgemeiner digitaler Vernetzung, aber ich ziehe mich daraus nicht zurück, weil mir der Preis der gesellschaftlichen Isolation zu hoch ist.

Allgemein gilt: Die Richtung der Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen wird weitgehend frühzeitig durch Entscheidungen bezüglich grundlegender Investitionen in Infrastrukturen und in Forschung und Entwicklung bestimmt. Danach ist der Markt in seinen großen Zügen durch das Produktionsregime und die darin geschaffenen Fähigkeiten und Kapazitäten festgelegt. Nach Piero Sraffa (1960) setzt die Bestimmung von Produktionsmengen und Preisen dann nicht mehr die zusätzliche Information der Verbrauchernachfrage voraus. Innovationsentscheidungen haben das Potential, das Regime zu durchbrechen, können sich aber nicht auf in Preissignalen geronnene Verbraucherwünsche stützen. Bedürfnisse, die jenseits des Produktionsregimes liegen, lassen sich nicht über den Markt artikulieren; Berücksichtigung finden in der Regel vor allem die Bedürfnisse einflussreicher einkommensstarker Gruppen. Angesichts dieser Probleme wachsen mit fortschreitender Entwicklung im Kontext der Märkte die ökologischen, sozialen und politischen Spannungen. Die Dominanz der Logik des Marktes in der öffentlichen Debatte und in der politischen Entscheidungsfindung hinterlässt dann nicht mehr nur bei den besonders benachteiligten einkommensschwachen Personengruppen ein Gefühl der Ohnmacht.

Koordination jenseits des Marktes 

Die Alternative zur spontanen Koordination über den Markt besteht in der kooperativen Koordination. Kooperative Koordination setzt Absprachen und andere explizite Übereinkünfte voraus. Institutionen der kooperativen Koordination enthalten nach allem was wir wissen immer hierarchische Elemente, weil jede Übereinkunft letztlich abgesichert werden muss. Netzwerke, die oft als Alternative zwischen Markt und Hierarchie gepriesen werden, können aufgrund ihrer hohen Voraussetzungen an Faktoren wie Steuerungsfähigkeit und Vertrauen nicht isoliert von, sondern nur ergänzend zu Märkten und Hierarchien funktionieren.

Hierarchien werden vielfach mit Zwang assoziiert. Der Individualismus als eine der Voraussetzungen für das Entstehen liberaler Gesellschaftsordnungen geht davon aus, dass Menschen Hierarchiebildung vermeiden. Die Tatsache, dass Menschen sich freiwillig Hierarchien unterordnen und es durchaus zu spontanen Organisationsbildungen kommt, gerät darüber leicht aus dem Blickfeld. Der Grund für diese freiwillige Unterordnung liegt darin, dass die Verfügung über ausreichende Ressourcen die Voraussetzung individueller Autonomie ist. Erst wer sich einen gewissen materiellen Puffer erworben hat, kann hoffen, in einer Welt der Bedrohungen, des Wettbewerbs und der Unsicherheit in begrenztem Umfang Handlungsfähigkeit jenseits der Marktzwänge zu entwickeln. In Ermangelung ausreichender eigener Ressourcen ordnen sich Menschen Anderen unter oder kooperieren zumindest langfristig mit ihnen, um kollektive Autonomie zu gewinnen und Ziele gemeinsam erreichen zu können.

Im ausgewachsenen Kapitalismus wird aber die Hoffnung auf die gemeinsame Realisierung von Zielen jenseits des Marktes oft genug frustriert. Die spontane Bildung von Unternehmen gehört zu den Stärken der Marktwirtschaft, weil das gemeinsame sekundäre Ziel der Einkommensmaximierung glaubhaft, universell und gut zu überprüfen ist. Als sehr viel schwieriger erweist sich der Versuch, Ziele jenseits des Marktes durch den freiwilligen Zusammenschluss in entsprechenden Gruppen langfristig zu verfolgen und zu realisieren. Nicht nur ist die Einigung auf gemeinsame primäre Ziele schwieriger als auf das universelle sekundäre Ziel der Einkommensmaximierung. Zusätzlich sehen sich Non-Profit Initiativen angesichts des universellen Wertes des sekundären Ziels der Einkommensmaximierung und seiner guten Meßbarkeit schnell mit dem Verdacht der Ineffizienz konfrontiert. Der Verlust an materiellem Wohlstand lässt sich in der Regel sehr viel einfacher messen als die Annäherung an andere, immaterielle Ziele. Es ist also im Kapitalismus nicht nur schwer bis unmöglich, die Entwicklung des eigenen Umfeldes durch individuelles Handeln zu ändern, sondern es ist auch sehr schwer, Veränderungen durch Prozesse der kooperativen Koordination herbeizuführen. Mit dem sich im Prozess der Öffnung der Märkte verschärfenden Standortwettbewerb trifft das Phänomen des Verlustes an Handlungsfähigkeit jenseits der Marktlogik zunehmend auch staatliche Akteure.

Konsequenzen

Wie gezeigt wurde, büßen die Menschen durch die Fixierung auf die Maximierung der Konsumentensouveränität und den weitgehenden Verzicht auf kooperative Koordination an vielen Stellen kollektive Autonomie oder Gestaltungsfreiheit ein: Es wird immer schwieriger, Ziele jenseits des Marktes, wie die Durchsetzung von humanen Pflegebedingungen oder der Bewahrung kultureller Autonomie, zu realisieren.

Das Bedürfnis, dennoch gestaltend zu wirken, drückt sich in verschiedenen aktuellen Phänomenen aus, die somit keineswegs auf ein vermutliche Irrationalität verweisen: Die einflussreichsten Geschäftsleute ziehen sich aus ihrem Geschäft ganz oder teilweise zurück, um sich  in eigenen, riesigen Non-Profit Imperien oder in der Politik für ihre Ziele einzusetzen; Menschen in Regionen, deren Wohlstand sich auf ihrer Wettbewerbsfähigkeit im globalen Markt gründet, wünschen ihre Grenzen zugunsten stärkerer nationaler Autonomie ganz oder teilweise zu schließen; Gruppen, die aufgrund von historischen oder strukturellen Benachteiligungen nicht hoffen können, sich durch ökonomischen Erfolg eine ausreichende materielle Basis für ein Mindestmaß an Handlungsfreiheit zu erwerben, versuchen, ihr Leben und ihre Lebensform zu schützen, indem sie sich scheinbar starken und autoritären Gruppen und ihren Führern unterordnen.

Eine Wohlfahrtsmessung, die sich alleine am materiellen Wohlstand oder an der Auswahl an vorgegebenen Konsummöglichkeiten und Dienstleistungsangeboten orientiert, verkennt das Bestreben der Menschen nach aktiver Gestaltung ihrer eigenen Lebenswirklichkeit. Eine entsprechende human- und sozialwissenschaftliche Verbreiterung ihres Fundaments würde der Ökonomik helfen, die Bedürfnisse der Menschen besser gegeneinander abzuwägen, statt diejenigen, die sich der Marktlogik entziehen, als irrational abzuqualifizieren. Die ökonomische Wissenschaft könnte dann der gesellschaftlichen Verantwortung besser gerecht werden, die ihr aus ihrem großen Einfluss in Meinungsbildung und Politikberatung zuwächst.

Sraffa, Piero (1960): Production of Commodities by Means of Commodities. Cambridge: Cambridge University Press.

©KOF ETH Zürich, 6. Nov. 2017

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