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Fehldiagnose “Secular Stagnation”

Summary:
Es ist unklar, ob die Diagnose der säkularen Stagnation zutrifft. Entsprechend bleibt auch die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Therapiemassnahmen umstritten, wie dieser Beitrag zeigt. Alvin Hansen, der "amerikanische Keynes", prophezeite in den 1930er Jahren das Ende des Wachstums in den USA: "Secular Stagnation". Wenig später traten die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg ein und die Wirtschaft boomte. Niemand sprach mehr von Stagnation. Erst 75 Jahre später hat Larry Summers die Diskussion neu belebt, ein akademisches Strohfeuer entfacht und die wirtschaftspolitische Debatte um ein Schlagwort bereichert. Summers ursprünglicher Artikel von 2014 enthält keine präzise Definition des Begriffs "Secular Stagnation". Stattdessen diagnostiziert er einen grundlegenden Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Finanzstabilität: Vor der Krise habe das Wachstum auf wackligen finanziellen Füssen gestanden und nach der Krise sei die höhere Finanzstabilität durch tiefere Wachstumsaussichten erkauft worden. Ursächlich für den verschärften Konflikt seien strukturelle Veränderungen beim Angebot an Ersparnis und der Nachfrage nach Investitionen, die sich nicht zuletzt in tiefen Realzinsen spiegelten.

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Es ist unklar, ob die Diagnose der säkularen Stagnation zutrifft. Entsprechend bleibt auch die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Therapiemassnahmen umstritten, wie dieser Beitrag zeigt.

Alvin Hansen, der "amerikanische Keynes", prophezeite in den 1930er Jahren das Ende des Wachstums in den USA: "Secular Stagnation". Wenig später traten die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg ein und die Wirtschaft boomte. Niemand sprach mehr von Stagnation. Erst 75 Jahre später hat Larry Summers die Diskussion neu belebt, ein akademisches Strohfeuer entfacht und die wirtschaftspolitische Debatte um ein Schlagwort bereichert.

Summers ursprünglicher Artikel von 2014 enthält keine präzise Definition des Begriffs "Secular Stagnation". Stattdessen diagnostiziert er einen grundlegenden Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Finanzstabilität: Vor der Krise habe das Wachstum auf wackligen finanziellen Füssen gestanden und nach der Krise sei die höhere Finanzstabilität durch tiefere Wachstumsaussichten erkauft worden. Ursächlich für den verschärften Konflikt seien strukturelle Veränderungen beim Angebot an Ersparnis und der Nachfrage nach Investitionen, die sich nicht zuletzt in tiefen Realzinsen spiegelten.

Gemäss Summers haben verschiedenste Faktoren zu diesen strukturellen Veränderungen beigetragen: Angefangen bei der hohen Verschuldung, dem tieferen Bevölkerungswachstum und schwächeren Einkommenszuwächsen ärmerer Bevölkerungsschichten bis hin zur höheren Nachfrage nach Zentralbankreserven und tieferem Produktivitätswachstum. Die Zentralbanken befänden sich zudem in einem Dilemma. Wo die Zinsuntergrenze nicht ohnehin den geldpolitischen Spielraum einschränke, riskierten sie mit loser Geldpolitik riskante Anlageentscheide von Investoren und in der Konsequenz neue Instabilität. Soweit die Diagnose.

Dass die Liste der Einflussfaktoren nicht nur im Fluss ist sondern sich auch wie ein "Who is who" der wirtschaftspolitischen Problembereiche liest, macht Summers Erklärungsansatz gerade für Praktiker interessant. "Secular Stagnation" als einheitlicher Symptombeschrieb scheint einen ganzheitlichen Ansatz zur Diskussion vielfältiger tagesaktueller Themen zu bieten.

Doch die Diagnose wirkt aus mehreren Gründen überzogen. Erstens ist es unplausibel, dass "die Nachfrage" längerfristig unter "das Angebot" fällt, selbst wenn die massive Aufblähung der Geldmengen die Märkte durcheinandergewirbelt haben mag. Mittel- und längerfristig werden die höheren Geldmengen dem Wirtschaftskreislauf wieder entzogen werden oder aber die Inflation wird anziehen. Flexible relative Preise werden dafür sorgen, dass sich Angebot und Nachfrage auf den Märkten die Waage halten.

Zweitens stellt langsameres Bevölkerungswachstum aus theoretischer Sicht keine überzeugende Begründung für die beschriebenen Symptome dar. Grundlegende makroökonomische Theorien lassen vielmehr den Schluss zu, dass der langfristige Realzins entweder überhaupt nicht vom Bevölkerungswachstum beeinflusst wird oder aber, falls die demographische Struktur sich auf den Zins auswirkt, dieser in keinem unmittelbaren Bezug zum Wirtschaftswachstum pro Kopf steht. Das häufig zu hörende Argument, langsameres Bevölkerungswachstum führe zu tieferen Realzinsen und schwächerem Wohlstandswachstum, ist theoretisch schwach untermauert.

Technologische Entwicklung entscheidend

Im Gegensatz hierzu ist der Produktivitätsfortschritt für die wirtschaftliche Entwicklung ohne Zweifel von grösster Bedeutung. Ob sich dieser Fortschritt aber beschleunigen oder verlangsamen wird ist, drittens, keineswegs ausgemacht. Einzelne akademische Analysen bieten Anlass zu Pessimismus, andere nicht. Niemand weiss auch nur mit annähernder Gewissheit, wie die technologische Entwicklung in den kommenden Jahrzehnten verlaufen und sich auf den Wohlstand auswirken wird.

Schliesslich stützen auch die Daten Summers Diagnose nur bedingt. Der lang anhaltende Rückgang der Realzinsen begann schon vor dreissig Jahren. Er hielt auch zu Zeiten an, in denen sich niemand um "Nachfragelücken" sorgte, und er dürfte neben nationalen Einflüssen auch massgeblich durch internationale Faktoren bestimmt gewesen sein. Zudem misst die "Secular Stagnation"-Hypothese den Folgen der schweren Finanzkrise sowie den Konsequenzen der dadurch ausgelösten Regulierungswelle ebenso ein vergleichsweise geringes Gewicht bei wie der veränderten Partizipationsrate einzelner Bevölkerungsgruppen am amerikanischen Arbeitsmarkt, die sich seit der Jahrtausendwende abzeichnet.

Summers Strategien

Vor dem Hintergrund seiner Diagnose kontrastiert Summers drei grundlegende wirtschaftspolitische Strategien. Erstens eine Strategie des Abwartens, die er mit den Entwicklungen in Japan assoziiert und ablehnt. Zweitens geldpolitische Strategien zur Zinssenkung, die nach seiner Einschätzung aber neue Risiken im Finanzsektor schaffen. Und schliesslich eine Strategie, die auf fiskalischen Stimulus und insbesondere staatliche Investitionen setzt.

Doch Summers Ablehnung der Strategie des Abwartens ist nicht überzeugend. Selbst wenn mit Sicherheit feststünde, dass das Wachstum abflaut, liesse sich daraus keine unmittelbare wirtschaftspolitische Handlungsempfehlung ableiten. Ob und gegebenenfalls welche staatlichen Interventionen sinnvoll sind, lässt sich nicht allein an der Höhe einer Wachstumsrate oder eines Zinssatzes ablesen. Entscheidend ist vielmehr, ob sich Formen von Marktversagen abzeichnen und die Aussicht besteht, diese mit staatlichen Eingriffen effizient beheben zu können. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich "Trends" durchaus als kurzlebig erweisen können. Wer weiss schon, ob China weiterhin in hohem Masse im Ausland investieren kann und will oder wie stark sich die Sparquoten in den USA und Westeuropa aufgrund der demographischen Entwicklung verändern werden.

Einfacher zu teilen ist Summers verhaltene Skepsis gegenüber weiteren expansiven geldpolitischen Massnahmen. Zinssenkungen verbilligen zwar den Konsum in der Gegenwart relativ zur Zukunft, aber sie verteuern auch die Lebenshaltung in späteren Jahren. Wie stark die kurzfristigen stimulierenden Effekte auf die Konjunktur ausfallen, hängt davon ab, welcher der beiden Effekte überwiegt. Wenn darüber hinaus Sorgen um die Finanzierung des Ruhestandes gegenüber der Freude über vergünstigte Kredite in den Vordergrund treten, dann verliert die Geldpolitik an Effektivität — auch wenn sie selber überhaupt keinen Einfluss auf die langfristigen Realzinsen und die Stabilität der Alterssicherungssysteme hat.

Summers Argumente für fiskalische Interventionen sind ausgewogener als zuweilen dargestellt. Neben ausgabenseitigen Massnahmen betont er auch angebotsseitige Aspekte wie mögliche negative Auswirkungen von Regulierung, nachlassendem Vertrauen angesichts hoher Schuldenquoten oder hoher Besteuerung. Gleichzeitig scheint er aber die Augen davor zu verschliessen, dass tiefe Zinsen und "billige" öffentliche Investitionsprojekte nicht zwingend darauf hindeuten, dass Staaten mehr investieren sollten. Eine alternative Interpretation könnte tiefe Realzinsen zum Beispiel als Folge privater Investitionshemmnisse deuten und vor diesem Hintergrund die Empfehlung abgeben, solche privaten Hemmnisse zu beseitigen anstatt sie durch eine Ausweitung des Staatssektors möglicherweise zu vergrössern.

Abgesehen davon bleibt aus operativen und polit-ökonomischen Überlegungen grundsätzliche Skepsis gegenüber Investitionsprogrammen zur Konjunkturbelebung angebracht. Diese Skepsis galt unter Ökonomen bis vor kurzem als Allgemeingut. Nun, da geldpolitische Alternativen an Attraktivität eingebüsst haben, hat sich dies geändert. Doch Zweifel am Nutzen einer Behandlung sind nicht aus der Welt geschafft, nur weil alternative Behandlungen keinen Erfolg mehr versprechen.

©KOF ETH Zürich, 24. Nov. 2016

Dirk Niepelt
Dirk Niepelt is Director of the Study Center Gerzensee and Professor at the University of Bern. A research fellow at the Centre for Economic Policy Research (CEPR, London), CESifo (Munich) research network member and member of the macroeconomic committee of the Verein für Socialpolitik, he served on the board of the Swiss Society of Economics and Statistics and was an invited professor at the University of Lausanne as well as a visiting professor at the Institute for International Economic Studies (IIES) at Stockholm University.

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