Erst die Masseneinwanderungsinitiative, dann die Durchsetzungsinitiative. Die in erster Linie gegen Ausländerinnen und Ausländer gerichteten Schweizer Volksbegehren machen ökonomisch keinen Sinn. Dass sie trotzdem auf soviel Zustimmung stossen, scheint einerseits in einer irrationalen Angst vor der Migration, andererseits in einer generellen Risiko-Aversion begründet. Migration ist eine anthropologische Konstante und sie wird das 21. Jahrhundert prägen, wie sie bereits alle vorhergehenden Jahrhunderte in unterschiedlichem Ausmass geprägt hat. Zwei Hauptursachen macht der Migrationsforscher Alexander Betts (2015) für die derzeitige Migrationswelle verantwortlich[ a ]: Fragilität und Mobilität. Die Welt sei fragiler geworden und die Leute deutlich mobiler. Eine weitere Konstante ist die Tatsache, dass Migranten von ärmeren, unsicheren Gebieten in reichere, sichere wandern. So überwog in der Schweiz, wie im Historischen Lexikon[ b ] nachlesbar, ab Mitte des 16. Jahrhunderts die Auswanderung eindeutig. Die ökonomischen Perspektiven waren damals besonders für die arme Landbevölkerung düster. Die Auswanderung kam den zuständigen Obrigkeiten meistens zupass. Doch dabei blieb es nicht. Aus Furcht vor Übervölkerung ergriffen die "eidgenössischen Orte Massnahmen gegen die Einwanderung, und die Kantone führten diese Politik noch bis zur Gründung des Bundesstaats fort".
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Erst die Masseneinwanderungsinitiative, dann die Durchsetzungsinitiative. Die in erster Linie gegen Ausländerinnen und Ausländer gerichteten Schweizer Volksbegehren machen ökonomisch keinen Sinn. Dass sie trotzdem auf soviel Zustimmung stossen, scheint einerseits in einer irrationalen Angst vor der Migration, andererseits in einer generellen Risiko-Aversion begründet.
Migration ist eine anthropologische Konstante und sie wird das 21. Jahrhundert prägen, wie sie bereits alle vorhergehenden Jahrhunderte in unterschiedlichem Ausmass geprägt hat. Zwei Hauptursachen macht der Migrationsforscher Alexander Betts (2015) für die derzeitige Migrationswelle verantwortlich[ a ]: Fragilität und Mobilität. Die Welt sei fragiler geworden und die Leute deutlich mobiler. Eine weitere Konstante ist die Tatsache, dass Migranten von ärmeren, unsicheren Gebieten in reichere, sichere wandern. So überwog in der Schweiz, wie im Historischen Lexikon[ b ] nachlesbar, ab Mitte des 16. Jahrhunderts die Auswanderung eindeutig. Die ökonomischen Perspektiven waren damals besonders für die arme Landbevölkerung düster. Die Auswanderung kam den zuständigen Obrigkeiten meistens zupass. Doch dabei blieb es nicht. Aus Furcht vor Übervölkerung ergriffen die "eidgenössischen Orte Massnahmen gegen die Einwanderung, und die Kantone führten diese Politik noch bis zur Gründung des Bundesstaats fort". Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wendete sich das Blatt. Die günstige Wirtschaftslage und die anziehende Industrialisierung führten dazu, dass die Wirtschaft mehr Arbeitskräfte nachfragte als es in der Schweiz gab.
Schweizer Migrationspolitik
Im 21. Jahrhundert schickt der Bund keine Schweizerinnen und Schweizer ins Ausland. Hingegen wandern tausende Menschen in die Schweiz ein, teilweise weil sie hier eine Arbeit finden und ihr Glück suchen (die Mehrheit), teilweise weil sie vor dem Unglück in ihrer Heimat fliehen (eine Minderheit). Ersteres sind die aufgrund der relativ guten Wirtschaftslage – zumindest bis zum "Frankenschock" – normal zuwandernden Arbeitskräfte, die von den hiesigen Firmen gerufen wurden. Letztere sind Menschen auf der Flucht. Dies bestätigt ein Papier von Timothy J. Hatton (2015), auf das Nobelpreisgewinner Robert Shiller in seiner Bestandesaufnahme "Economists on the Refugee Path[ c ]" hingewiesen hat: Flüchtlinge sind Flüchtlinge, nicht weil sie ihr ökonomisches Glück suchen, sondern weil sie vor politischem Terror und Menschenrechtsverletzungen fliehen.
Die Schweiz hat immer wieder Wellen der Emigration und Immigration erlebt. Wer weiss aber schon, dass unsere Vorfahren, Immigranten aus dem Nahen Osten und dem Balkan, nicht nur den Ackerbau und die Viehzucht nach Zentraleuropa brachten, sondern dass sie uns auch gleich noch die Genmutation, aufgrund derer die meisten Zentral- und Nordeuropäer noch im Erwachsenenalter Milchzucker aufspalten können, d.h. laktosetolerant sind, mitgeliefert haben.
Stärker in Erinnerung sind jüngere Einwanderungswellen. Im Zuge der Balkankriege flohen tausende Menschen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens in die Schweiz. Auch damals wurde Zeter und Mordio gerufen. Doch die Integration der "Jugos", wie die damaligen Flüchtlinge verächtlich genannt wurden, hat funktioniert. Ebenfalls verlief die Integration der Italienerinnen und Italiener nach dem Zweiten Weltkrieg, wie auch die Integration der Deutschen in den 2000er Jahren, letztlich unproblematisch, ganz zu schweigen, von jener der Portugiesen, der drittgrössten Diaspora in der Schweiz nach den Deutschen und den Italienern.
Positive wirtschaftliche Auswirkungen
In den letzten Jahren waren es vor allem Hochqualifizierte, die zuwanderten. Derzeit ändert sich die Zusammensetzung der Zuwanderung aufgrund der Krisenherde in Europas Nachbarschaft wieder. Eine offene Gesellschaft muss mit beiden Formen zurechtkommen und für die Grundlagen der Integration sorgen. Vielleicht ist Integration auch ein zu grosses Wort, da eine Gesellschaft stets im Fluss ist und selber nicht einmal weiss, in was für einen Zustand hinein genau integriert werden soll. Absorption im chemischen Sinn, d.h. eine Vermischung ohne chemische Reaktion, trifft es eventuell besser. Die gute Absorptionsfähigkeit der Schweiz zeigt sich im Speziellen in Wirtschaftszahlen. Es findet sich keine ernstzunehmende Studie (BAK[ d ], Ecoplan[ e ], KOF, SECO[ f ]) der letzten Jahre, die zeigt, dass die hohe Einwanderung negative Effekte auf das Wirtschaftswachstum gehabt hätte.
Selbstverständlich liesse sich argumentieren, dass das theoretisch ausgeschlossen ist, da gemäss neoklassischer Wachstumstheorie eine Ausweitung des Produktionsfaktors Arbeit quasi automatisch zu einer Ausweitung der Produktion führen muss. Doch wäre es auch möglich, dass alle Zugewanderten sofort in den Sozialsystemen verschwinden, womit sie als Produktionsfaktor wegfallen würden. Dies ist in der Schweiz allerdings nicht der Fall, ist doch für eine Mehrheit der Einwanderer eine Stelle die erste Bedingung überhaupt, um in die Schweiz zu kommen.
Die KOF hat im Februar letzten Jahres (Abberger et al. 2015[ g ]) eine umfassende Studie zu den Bilateralen publiziert, die die Effekte des Personenfreizügigkeitsabkommens (FZA) ins Zentrum rückte. Dabei hat sich gezeigt, dass die Schweizer Wirtschaft seit der Einführung der FZA im Jahr 2002 nicht nur stärker gewachsen ist, als die Jahre zuvor, sondern auch pro Kopf ein Wachstum feststellbar war.
Angesichts dieser Erkenntnisse müsste theoretisch jeder an Wachstum und am Überleben der Sozialsysteme, die darauf beruhen, dass das Verhältnis von Bezüger zu Einzahlenden asymmetrisch bleibt, interessierte Schweizer dankbar sein für die zusätzliche Zuwanderung Hochqualifizierter und keine Angst haben vor der Einwanderung von tiefer Qualifizierten, da diese oftmals Arbeit übernehmen, die er selber nicht mehr erledigen will. Aber, wie auch Paul Collier in seiner massgeblichen Migrations-Bestandsaufnahme "Exodus" schreibt: in der Debatte um Zuwanderung basieren die Meinungen für oder wider praktisch immer auf der eigenen Ideologie. Entweder ist man daran interessiert, dass Leute einwandern bzw. man hat zumindest keine Angst davor oder man möchte möglichst unter sich bleiben. Man zieht jene Studie zu Rate, die die eigene These unterstützt. Und wenn man keine Studie zur Hand hat, sagt man einfachheitshalber, die Studien seien falsch, beruhten auf falschen Prämissen, seien verzerrt oder irrelevant. Collier verweist dabei auf den Moralpsychologen Jonathan Haidt. Haidt zeigt in seiner Forschung, dass Menschen sich nicht von einer objektiven Rationalität leiten lassen, sondern sich gerne bei ihren moralischen Entscheidungen von ihren moralischen Emotionen und nicht von ihren moralischen Überlegungen (reasoning) leiten lassen (Haig 2001).
Auch der Autor dieser Zeilen lässt sich von seinen grundlegend positiven Emotionen gegenüber Migration leiten. Generell lassen sich Menschen viel stärker von ihren Emotionen leiten, als sich das der aufgeklärte Mensch zugestehen würde. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman und sein verstorbener Kollege Amos Tversky haben in ihrer sogenannten Prospect Theory (Kahneman und Tversky 1979) gezeigt, dass wir u.a. deshalb einen Hang zur Risiko-Aversion haben, die rational nicht erklärt werden kann. Risiko-avers sein heisst tendenziell auch gegen Einwanderung sein, da wir nicht wissen, was auf uns zukommt. Risiko-Aversion ist auch eher eine Tendenz alternder Gesellschaften. Die körperliche Unsicherheit steigt, die Mobilität sinkt. Ein gutes Beispiel hierfür ist Japan, eines der am schnellsten alternden Länder der Welt. Anstatt die Grenzen zu öffnen und neue Impulse zuzulassen, schottet sich Japan ab. Man muss das nicht als Sklerose bezeichnen, aber zu starker Vitalität führt es vermutlich nicht. Japan hätte mit seinen acht Millionen akiya[ h ] (freistehenden Häusern) eigentlich beste Voraussetzungen, um Leuten Platz zu bieten. Etwas anders mag die Situation in der Schweiz sein. Das Land ist klein, die Zersiedelung stark, die bebaubare Fläche beschränkt. Doch viel davon sind baurechtliche Vorlagen und mentale Einstellungen. Auf der Klaviatur dieser Risiko-Aversion spielt auch die Schweizerische Volkspartei (SVP), die das populistische Spiel mit der Angst perfekt beherrscht. Die restlichen politischen Parteien und Akteure schaffen es nicht, dieser Negativ-Serenade ein positives Narrativ entgegenzustellen.
Status-Quo-Verzerrung- und -Angst
Zudem gibt es eine spezifisch schweizerische und system-immanente Ausprägung der Risiko-Aversion, die auch als Status-quo-Verzerrung bezeichnet werden kann: jene des politischen Systems. In den 1990er Jahren gab es in der Schweiz angesichts der schleppenden Wirtschaftsentwicklung eine stark – und teilweise einseitig – ökonomisch geprägte Kritik an der direkten bzw. halbdirekten Demokratie (siehe Borner et al. 1990, Borner et al. 1994 Borner und Rentsch 1997). Obwohl Teile der Kritik später empirisch widerlegt wurden (u.a. von Feld et al. 1999) kann ein Vorwurf, jener der Status-quo-Verzerrung, nicht gänzlich widerlegt werden. Die meisten angenommenen Initiativen sind Negativ-Projekte, die weniger von einem positiven Gestaltungswillen als eher von einer Regressions-Haltung geprägt sind, mit der ein vermuteter Urzustand hergestellt werden soll. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass Initiativen als Korrektiv zur Politik und als Ventil dienen.
Es gibt aber auch eine andere Theorie für die Abneigung gegenüber der Immigration und für die Unterstützung populistischer Anliegen gegenüber dieser. Martin Wolf hat sie kürzlich in der Financial Times[ i ] so erläutert: "Losers have votes too". Und mit Verlierern meint er vor allem einheimische Männer, die unter die Räder der ausländischen Konkurrenz gekommen sind und gleichzeitig Eliten als Feindbild sehen. Die Migrationsforschung ist sich einig, dass die Immigration Gewinner und Verlierer hervorbringt (wie etwa internationaler Handel auch) – u. a. auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Für die Schweiz lassen sich systematische Verdrängungseffekte – selbst von Subgruppen der Bevölkerung – allerdings nicht nachweisen. Das liegt vielleicht daran, dass die ansässigen und zuwandernden Firmen in starkem Ausmass auf die Zuwanderer angewiesen sind und ohne diese gar nicht auf die Schweiz als Produktionsstandort gesetzt hätten.
Somit bleibt als Erklärung für die politische Stimmung, die derzeit herrscht, eine übertriebene Betonung der möglichen Gefahren, eine übertriebene Sehnsucht nach einem idealisierten Vor-Zustand, ein unmöglicher Abschottungsversuch in einer fluiden Welt. Als Gegennarrativ würde man sich mit dem Soziologen Zygmunt Bauman wünschen, dass Europa und mit ihr die Schweiz ein "Mosaik von Diasporas und eine Ansammlung von überlappenden und sich kreuzenden ethnischen Archipelen" werden könnte (Bauman 2013, S. 191). Was dabei sicherlich nicht hilft, sind xenophobe Initiativen wie jene, über die wir am 28. Februar 2016 abstimmen.
Abberger, K., Y. Abrahamsen, T. Bolli, A. Dibiasi, P. Egger, A. Frick, M. Graff, F. Hälg, D. Iselin, S. Sarferaz, J. Schläpfer, M. Siegenthaler, B. Simmons-Süer, J.-E. Sturm und M. Tarlea (2015): Der bilaterale Weg – eine ökonomische Bestandsaufnahme[ g ], KOF Studien, 58, Zürich, Februar 2015.
BAK Basel (2015): Die mittel- und langfristigen Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I auf die Schweizerische Volkswirtschaft[ j ], Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO, November 2015.
Bauman, Zygmunt und Leonidas Donskis (2013): Moral Blindness: The Loss of Sensitiviy in Liquid Modernity.
Betts, Alexander (2015): Human migration will be a defining issue of this century. How best to cope?[ a ], The Guardian, 20. September
Borner, Silvio, Aymo Brunetti und Thomas Straubhaar (1990): Schweiz AG: Vom Sonderfall zum Sanierungsfall?, Zürich.
Borner, Silvio, Aymo Brunetti und Thomas Straubhaar (1994): Die Schweiz im Alleingang, Zürich.
Borner, Silvio und Hans Rentsch (Hrsg.) (1997): Wieviel direkte Demokratie verträgt die Schweiz? Beiträge zur aktuellen Reformdebatte.
Collier, Paul (2013): Exodus. How Migration Is Changing Our World. Oxford University Press.
Ecoplan (2015): Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I. Analyse mit einem Mehrländergleichgewichtsmodell.[ k ] Im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft.
Feld, Lars P., Gebhard Kirchgässner und Marcel R. Savioz (1999): Die direkte Demokratie. Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig.
Hatton, Timothy J. (2015): Refugees, Asylum Seekers and Policy in OECD Countries[ l ], American Economic Association.
Kahneman, Daniel und A. Tversky (1979): Prospect theory: An analysis of decision under risk[ m ]. In: Econometrica Band 47, Nr. 2, S. 263–291.
Shiller, Robert (2016): Economists on The Refugee Path[ c ], Project Syndicate, 19. Januar 2016.
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO (2015): Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I.
Wolf, Martin (2016): The economic losers are in revolt against the elites[ i ], Financial Times, 26. Januar 2016.
©KOF ETH Zürich, 4. Feb. 2016
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