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Geringes Wachstum der Arbeitsproduktivität in der Schweiz: ein Problem?

Summary:
Die Arbeitsproduktivität in der Schweiz hinkt beinahe traditionell jener in Ländern wie Belgien, Deutschland, Frankreich oder der Niederlande hinterher. Gleichzeitig liegt das BIP pro Kopf höher als in fast allen europäischen Vergleichsländern. Dieser Beitrag stellt die Frage, wie ein auf den ersten Blick unproduktives Land wie die Schweiz so wohlhabend sein kann. Betrachten wir die wirtschaftliche Entwicklung seit Beginn der siebziger Jahre, dann weist die Schweiz im Vergleich zu anderen Industrieländern das schwächste Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität auf. Diese Tatsache hat man beim Staatssekre­tariat für Wirtschaft (SECO) vor etwa zwanzig Jahren bemerkt und daraus ein Riesenthema gemacht. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität ist nämlich gemäss SECO "der Pfeiler der Wachstumspolitik" (siehe z.B. SECO, 2003) Also, so lautet seither der Tenor, muss dringend etwas getan werden, um das Wachstum der Produktivität wieder an­zukurbeln. So präsentierte der Bundesrat auch zu Beginn des Jahres 2015 einen Grundlagenbericht für die "Neue Wachstumspolitik", wo die Erhöhung der Arbeitsproduktivität im Zentrum steht (Bundesrat, 2015). Tatsächlich können Länder wie Belgien, Frankreich, die Niederlande oder Deutschland inzwischen aus einer Arbeitsstunde mehr Wertschöpfung herausholen als wir (siehe OECD Productivity Database).

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Die Arbeitsproduktivität in der Schweiz hinkt beinahe traditionell jener in Ländern wie Belgien, Deutschland, Frankreich oder der Niederlande hinterher. Gleichzeitig liegt das BIP pro Kopf höher als in fast allen europäischen Vergleichsländern. Dieser Beitrag stellt die Frage, wie ein auf den ersten Blick unproduktives Land wie die Schweiz so wohlhabend sein kann.

Betrachten wir die wirtschaftliche Entwicklung seit Beginn der siebziger Jahre, dann weist die Schweiz im Vergleich zu anderen Industrieländern das schwächste Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität auf. Diese Tatsache hat man beim Staatssekre­tariat für Wirtschaft (SECO) vor etwa zwanzig Jahren bemerkt und daraus ein Riesenthema gemacht. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität ist nämlich gemäss SECO "der Pfeiler der Wachstumspolitik" (siehe z.B. SECO, 2003) Also, so lautet seither der Tenor, muss dringend etwas getan werden, um das Wachstum der Produktivität wieder an­zukurbeln. So präsentierte der Bundesrat auch zu Beginn des Jahres 2015 einen Grundlagenbericht für die "Neue Wachstumspolitik", wo die Erhöhung der Arbeitsproduktivität im Zentrum steht (Bundesrat, 2015).

Tatsächlich können Länder wie Belgien, Frankreich, die Niederlande oder Deutschland inzwischen aus einer Arbeitsstunde mehr Wertschöpfung herausholen als wir (siehe OECD Productivity Database). Doch obwohl wir bei der Arbeitsproduktivität im Vergleich zu anderen Industriestaaten nur noch Mittelmass sind, weist das Bruttoinlandprodukt pro Kopf weiterhin einen Spitzenwert aus und ist höher als in Belgien, Frankreich, den Niederlanden oder Deutschland. Kaufkraftbereinigt betrug das BIP pro Kopf in der Schweiz gemäss Zahlen des IWF im Jahr 2015 rund 59'000 Dollar, was in Europa hinter den Spezialfällen Luxemburg und Norwegen nach wie vor den höchsten Wert darstellt. Da stellt sich die Frage: Wie kann ein relativ unproduktives Land wie die Schweiz trotzdem einen so hohen Wohlstand haben?

Nenner vs. Zähler

Zunächst muss man sich einmal bewusst sein, dass die Arbeitsproduktivität nichts anderes als ein Verhältnis von zwei Zahlen darstellt. Die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung (BIP) wird dabei durch die Zahl der effektiv geleisteten Arbeitsstunden dividiert. Ein Quotient kann sich aber immer auf zwei Arten erhöhen. Entweder indem der Zähler (Wertschöpfung) tatsächlich grösser wird, und/oder indem der Nenner (Zahl der geleisteten Arbeitsstunden) kleiner wird. Das lässt sich in Belgien erkennen, wo die Arbeitsproduktivität mit etwa 68 USD pro Arbeitsstunde um einiges höher ist als in der Schweiz, wo der Wert etwa 61 USD pro Arbeitsstunde beträgt. Die Belgier verdanken ihre hohe Arbeitsproduktivität aber vor allem einem kleinen Nenner. Erstens arbeiten die Belgier nur rund 37 Stunden pro Woche, während wir uns in der Schweiz im Durchschnitt über vierzig Stunden abmühen. Zweitens liegt die Zahl der Erwerbstätigen in Prozent der Wohnbevölkerung im Erwerbsalter (die sogenannte Erwerbstätigenquote) etwas über sechzig Prozent, während die Schweiz auf über achtzig Prozent kommt. Und drittens findet ein im Vergleich zur Schweiz grösserer Anteil der Erwerbstätigen keine Arbeit und ist deshalb arbeitslos. Die Arbeitslosenquote betrug Ende 2015 rund 8 Prozent und war somit mehr als doppelt so hoch wie in der Schweiz. Die geringe Erwerbstätigenquote, die relativ kurzen Arbeitszeiten und die relativ hohe Arbeitslosigkeit wirken sich positiv auf die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität in Belgien aus, während in der Schweiz das Gegenteil der Fall ist.

Allerdings hat Belgien das Problem, dass der im Vergleich zur Schweiz kleine Teil der arbeitenden Bevölkerung auch diejenigen finanzieren muss, die nicht arbeiten. Das bedingt hohe staatliche Abgaben, welche das verfügbare Einkommen der arbeitenden Bevölkerung erheblich dezimieren. Und wenn man dann das BIP durch die Zahl der Bevölkerung und nicht durch die Zahl der Arbeitsstunden (Arbeitsproduktivität) dividiert, resultiert ein wesentlich kleineres BIP pro Kopf als in der Schweiz. So lässt sich leicht erklären, weshalb die Schweiz mit geringerer Arbeitsproduktivität trotzdem einen höheren Wohlstand (BIP pro Kopf) aufweist. Und darauf kommt es letztlich an. Eine hohe gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität, die mit einer geringen Erwerbstätigenquote und einer hohen Arbeitslosigkeit erkauft wird, macht ökonomisch wenig Sinn.

Hohe Wertschöpfung plus hohe Beschäftigung

Bleibt noch die Frage, wie es die Schweizer Wirtschaft schafft, eine hohe Wertschöpfung mit hoher Beschäftigung zu kombinieren. Hören wir nicht täglich von Arbeitsplatzverlagerungen ins Ausland und einem damit verbundenen Beschäftigungsabbau in der Schweiz? Tatsächlich ist dies der Fall, und für eine Vielzahl von Unternehmen im Industriesektor ist die Schweiz als Produktionsstandort zu teuer geworden. Grosse Teile der Wertschöpfungskette werden ins Ausland verlagert beziehungsweise automatisiert, so dass die Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie langfristig rückläufig ist (Siehe Bundesamt für Statistik, Beschäftigungsstatistik). Gleichzeitig steigt dort aber die Wertschöpfung stark an und hat seit dem Jahr 2000 vor allem dank Branchen wie Pharma, Medizinaltechnik oder Präzisionsinstrumenteherstellung um fast vierzig Prozent zugenommen (Bundesamt für Statistik, Produktion nach Wirtschaftssektor). In diesen Branchen findet sich auch in der Schweiz ein hohes Wachstum der Arbeitsproduktivität (siehe auch Eberli et al., 2015). Aber netto werden im gesamten Industriesektor schon lange keine Arbeitsplätze mehr geschaffen.

Doch neben den hochproduktiven Branchen, zu denen neben den vorhin erwähnten Industriebranchen auch die Finanzbranche und der Handel zählt, gibt es in der Schweiz auch eine Reihe von wenig produktiven, aber beschäftigungsintensiven Branchen. Diese sorgen dafür, dass auch die Beschäftigung weiterhin wächst. Da ist in erster Linie das Gesundheitswesen zu nennen, das in der Schweiz mittlerweile am meisten Menschen beschäftigt. Aber auch Branchen wie das Bildungswesen, der Betrieb von Heimen oder unternehmensbezogene Dienstleistungen haben in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten massiv Arbeitsplätze geschaffen (Bundesamt für Statistik, Beschäftigungsstatistik).

Dank einem erfolgreichen Mix aus hoch­ produktiven, exportorientierten Branchen und relativ wenig produktiven, binnenorientierten Branchen schafft es die Schweiz, das Ziel eines hohen allgemeinen Wohlstandes mit dem Ziel einer hohen Beschäftigung in Einklang zu bringen wie kaum ein anderes Land. Diese Tatsache wird durch die einseitige und falsche Fokussierung auf die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität aber unter den Teppich gekehrt. Mit der Arbeitsproduk­tivität kann man sinnvoll argumentieren, wenn man einzelne Branchen in der Schweiz mit den gleichen Branchen im Ausland vergleicht. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene ist die Arbeitsproduktivität aber eine irreführende Kennzahl, die aus der wirtschaftspolitischen Diskussion verschwinden sollte.

Bundesrat (2015). Grundlagen für die Neue Wachstumspolitik, 21. Januar 2015

Eberli, A., Emmenegger, M., Grass, M., Held, N., Rufer, R. (2015). Beitrag branchenspezifischer Effekte zum Wachstum der Schweizer Arbeitsproduktivität. Strukturberichterstattung Nr. 54/1, SECO, Bern.

SECO [Staatssekretariat für Wirtschaft] (2003). Determinanten des Schweizer Wirtschaftswachstums und Ansatzpunkte für eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik, März 2003, 3. Auflage. Bern.

©KOF ETH Zürich, 9. Feb. 2016

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