Die Regierung des Vereinigten Königreichs erwartet von der EU Zugeständnisse. Sonst kann sie ihrem Volk nicht glaubhaft empfehlen, die Mitgliedschaft in der EU fortzuführen, wie dieser Beitrag zeigt. Dabei lassen sich die Verhandlungen in fünf verschiedene "Verhandlungskörbe" unterteilen. Englands Bindungen zum europäischen Kontinent verlaufen zyklisch. 1946, nach dem Sieg über Deutschland, unterbreitete Winston Churchill in seiner Zürcher Rede die Vision der Vereinigten Staaten von Europa. Selbstredend meinte er damit ein Europa ohne das Vereinigte Königreich. Denn er argumentierte aus einer Position der Stärke. Doch schon nach wenigen Jahren geriet Britanniens Macht ins Wanken: Das Kolonialreich brach zusammen, die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich, Verstaatlichungen, Streiks, Inflation, Arbeitslosigkeit und Zahlungsbilanzkrisen zerrten das Land von einer Krise in die andere. Umgekehrt verbesserte sich die wirtschaftliche Lage auf dem Kontinent durch die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und die durch sie ausgelöste Wettbewerbspolitik. Widrige Umstände brachten London dazu, Verhandlungen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aufzunehmen. Am 1. Januar 1973 wurden das Vereinigte Königreich, Dänemark und Irland Mitglied der EWG. Die neuen Bindungen an Europa forderten Grossbritanniens Wettbewerbsfähigkeit heraus.
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Die Regierung des Vereinigten Königreichs erwartet von der EU Zugeständnisse. Sonst kann sie ihrem Volk nicht glaubhaft empfehlen, die Mitgliedschaft in der EU fortzuführen, wie dieser Beitrag zeigt. Dabei lassen sich die Verhandlungen in fünf verschiedene "Verhandlungskörbe" unterteilen.
Englands Bindungen zum europäischen Kontinent verlaufen zyklisch. 1946, nach dem Sieg über Deutschland, unterbreitete Winston Churchill in seiner Zürcher Rede die Vision der Vereinigten Staaten von Europa. Selbstredend meinte er damit ein Europa ohne das Vereinigte Königreich. Denn er argumentierte aus einer Position der Stärke.
Doch schon nach wenigen Jahren geriet Britanniens Macht ins Wanken: Das Kolonialreich brach zusammen, die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich, Verstaatlichungen, Streiks, Inflation, Arbeitslosigkeit und Zahlungsbilanzkrisen zerrten das Land von einer Krise in die andere. Umgekehrt verbesserte sich die wirtschaftliche Lage auf dem Kontinent durch die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und die durch sie ausgelöste Wettbewerbspolitik.
Widrige Umstände brachten London dazu, Verhandlungen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aufzunehmen. Am 1. Januar 1973 wurden das Vereinigte Königreich, Dänemark und Irland Mitglied der EWG. Die neuen Bindungen an Europa forderten Grossbritanniens Wettbewerbsfähigkeit heraus. Margaret Thatcher wurde 1979 Premierministerin. Sie setzte längst fällige Reformen durch. Telekommunikation, Verkehr und Energie wurden privatisiert. Wilde Streiks wurden verboten. Neoliberale Prinzipien erzwangen einen Strukturwandel im ganzen Land. Handwerk und Industrie schrumpften, während die Wertschöpfung im Dienstleistungsbereich, besonders in den Banken, zunahm.
Gegen Frankreichs "Finalité"
Die Londoner City wurde zu einem Wachstumskern, der heute 22% des britischen BIP erwirtschaftet. Prosperität erfasste das ganze Land. Kurz unterbrochen wurde Grossbritanniens Aufstieg nur durch die Bankenkrise der Jahre 2007 und 2008. Doch bereits 2014 waren die Wachstumsverluste aufgeholt. Das britische Selbstvertrauen wuchs. Derzeit strotzt das Vereinigte Königreich vor Wirtschaftskraft. Bis 2030 will Grossbritannien Deutschland an Wertschöpfung überholen und die grösste Volkswirtschaft Europas werden. Gegenläufig verlief die Entwicklung auf dem Kontinent. Der Euro zieht die Eurostaaten von Krise zu Krise. Daher fragen sich die Briten von heute: Brauchen wir die EU noch?
Es ist deshalb nicht zufällig, dass die Briten derzeit erwägen, sich von den Bindungen an die EU zu lösen. Die Regierung David Camerons hat eine Volksabstimmung über den weiteren Verbleib Grossbritanniens in der EU auf voraussichtlich 2017 angesetzt. Derweil versucht Cameron, in Brüssel bessere Vertragsbedingungen für das Vereinigte Königreich auszuhandeln. Dadurch hat er sich selbst unter Druck gesetzt. Nur wenn er in den Verhandlungen Erfolg hat, kann er seinen Wählern ein glaubwürdiges Ja zum Verbleib in der EU empfehlen. Im Fall eines gemischten Ergebnisses wirkt eine Ja-Parole nicht überzeugend. Der Austritt Grossbritanniens aus der EU könnte dann schon bald Realität werden.
Diese Verhandlungen zwischen Grossbritannien und der EU gliedern sich in fünf "Verhandlungskörbe".
Korb eins betrifft den Zweck der EU. Gemeint ist die von Frankreich schon im Gründungsvertrag von 1957 durchgesetzte "Finalité". Erst allmählich wurde klar, was Frankreich unter diesem schillernden Begriff verstand. 1962 gelang es Frankreich, im Rahmen der Landwirtschaftsordnung die Mittel an Land zu ziehen, die die anderen in den gemeinsamen Agrarfonds einzahlten. Im Rahmen der Währungsunion von 1999 bedeutet "Finalité " aus französischer Sicht, dass jeder Mitgliedstaat aus dem gemeinsamen Pool die gewünschten Kredite erhält, ohne für sie haften zu müssen. So entstand ein Schlaraffenland für die einen auf Kosten der anderen. Die Briten hatten der französischen "Finalité" 1971 in ihrer Schwäche zugestimmt. Heute lehnen sie sie ab und bestehen auf Reziprozität. Ob aber die Franzosen ihr Lieblingskind fallen lassen, scheint unsicher.
In Korb zwei möchte Cameron durchsetzen, dass bedürftige Einwanderer aus anderen EU-Staaten während der ersten vier Jahre von der Sozialhilfe in Grossbritannien ausgeschlossen bleiben. Dieses Ziel dürfte ebenfalls schwer erreichbar sein. Unter den Labour-Reformen von 1945 hatten die Briten für sich den Beverage-Plan angenommen, wonach die Gewährung von Sozialhilfe allein von der Bedürftigkeit eines Einwohners abhängt (und nicht von seinen zuvor geleisteten Versicherungsbeiträgen). Mit der Ausdehnung der Niederlassungsfreiheit auf alle EU-Bürger konnten sich auch nicht britische Staatsangehörige im Königreich niederlassen und bei Bedürftigkeit Sozialhilfe erhalten. Dieses Recht möchte Cameron den EU-Ausländern entziehen, was andere EU-Regierungen als Diskriminierung auffassen.
Korb drei bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Euro- und Nicht-Eurostaaten. Es soll verhindert werden, dass Beschlüsse, die im Kreis der 17 Eurostaaten gefällt werden, sich automatisch auf die Gesamtheit der 28 EU-Staaten erstrecken. Beispielsweise gehört die Bankenregulierung in den EU-Bereich, ist aber der EZB zugeschlagen worden, worüber die Eurogruppe entscheidet. Ein solches Ausgreifen der Eurobeschlüsse droht ferner im Bereich einer Wirtschaftsregierung, die Frankreich anstrebt. In einer Wirtschaftsregierung sollen z. B. Körperschafts- und Mehrwertsteuern dezentral aufgebracht werden und dann (gemäss "Finalité") in den gemeinsamen Topf fliessen und von dort verteilt werden.
Korb vier betrifft Grossbritanniens Souveränität. Schon der Lissabon-Vertrag erlaubt einem Drittel der nationalen Parlamente, die "gelbe Karte" zu erheben und ein suspensives Veto einzulegen, wenn eine EU-Verordnung in der Zentralisierung zu weit geht und ihrer Meinung nach das Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 5 des EU-Vertrags verletzt. Die Kommission muss zur gerügten Verordnung Stellung nehmen und diese gegebenenfalls dem Europäischen Gerichtshof vorlegen. Dem Prinzip der "gelben Karte" hat die Kommission schon 2009 im Vertrag von Lissabon zugestimmt (wahrscheinlich weil sie zu Recht annahm, dass es nie eine grosse Bedeutung erlangen würde).
Cameron möchte das Prinzip der "gelben Karte" durch das Prinzip der "roten Karte" ersetzen. Danach soll ein Drittel der nationalen Parlamente ein verbindliches Veto einlegen können, wenn eine EU-Verordnung ihrer Meinung nach das Subsidiaritätsprinzip verletzt. Dieser Wunsch scheint schon eher wirksam, weil er die Macht der Kommission bricht. Doch gerade deswegen scheint seine Annahme ungewiss.
In Korb fünf wünscht sich Cameron mehr handelspolitische Offenheit gegenüber Drittstaaten wie China, Indien oder in Südamerika. Diese Staaten werden im Aussenhandel der EU immer wichtiger. Die EU könnte bspw. den gemeinsamen Zolltarif abändern, was mit qualifizierter Mehrheit des Rates möglich ist.
Im Sinn der Schweiz
Aus der Sicht der Schweiz sind Camerons Wünsche im Ganzen zu begrüssen. EU-Kommission und -Rat wären gezwungen, die Festungstore ihres Protektionismus etwas zu öffnen. Das wäre höchst erfreulich. Doch kürzlich haben die Präsidenten Tusk, Juncker, Dijsselbloem, Draghi und Schulz in ihrem "Fünf-Präsidenten-Bericht" auf Camerons Vorschläge mit einer neuen Serie von Zentralisierungsvorhaben geantwortet. Sie scheinen die Austrittsabsichten Londons nicht richtig ernst zu nehmen oder glauben, auf Grossbritannien nicht angewiesen zu sein.
Es bleibt die Frage: Was geschieht, wenn Grossbritannien aus der EU austritt? Eine völlige Trennung wird es wohl nicht geben. Denkbar wäre, dass die EU und Grossbritannien zusammen den Europäischen Wirtschaftsraum reaktivieren. Mit diesem Modell erhielte auch die Schweiz eine zweite Chance, den zunächst abgelehnten EWR-Vertrag doch noch anzunehmen.
©KOF ETH Zürich, 1. Feb. 2016