Prof. Reiner Eichenberger, Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der Universität Fribourg, sprach am 19. November im Rahmen des Liberalen Gesprächskreises an der Universität Zürich zum Thema «Wie viel Migration verträgt die Schweiz?» Das Thema bewegt offensichtlich: Dies war nicht nur am breiten Interesse am Vortrag des Referenten an diesem Abend zu beobachten, sondern auch an der engagiert geführten Diskussion im Plenum. Ausgangsthese zur Zuwanderung Eichenberger stellte zu Beginn die kontroverse These auf, dass die Personenfreizügigkeit mit der EU die grundsätzlich hohe Schweizer Standortattraktivität gemindert habe. Die Personenfreizügigkeit habe namentlich dazu geführt, dass die relative Immobilität und die Knappheit der Produktionsfaktoren Arbeit und Boden nachhaltig verändert worden
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Prof. Reiner Eichenberger, Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der Universität Fribourg, sprach am 19. November im Rahmen des Liberalen Gesprächskreises an der Universität Zürich zum Thema «Wie viel Migration verträgt die Schweiz?» Das Thema bewegt offensichtlich: Dies war nicht nur am breiten Interesse am Vortrag des Referenten an diesem Abend zu beobachten, sondern auch an der engagiert geführten Diskussion im Plenum.
Ausgangsthese zur Zuwanderung
Eichenberger stellte zu Beginn die kontroverse These auf, dass die Personenfreizügigkeit mit der EU die grundsätzlich hohe Schweizer Standortattraktivität gemindert habe. Die Personenfreizügigkeit habe namentlich dazu geführt, dass die relative Immobilität und die Knappheit der Produktionsfaktoren Arbeit und Boden nachhaltig verändert worden seien. Es finde nun darum ein massives Umverteilungsprogramm von Arbeit zu Boden statt. Die Anziehungskraft der Schweiz für Ausländer schade also insbesondere einheimischen Arbeitnehmern.
Der Referent zeigte mit einer Gleichgewichtsgleichung auf, dass die freie Migration so lange andauere, wie die Einkommen und Lebenshaltungskosten in der Schweiz («Lebensqualität») sowie die Wanderungskosten über der Lebensqualität im Ausland liegen: Lebensqualität CH = Lebensqualität EU + Wanderungskosten.
Durch die Zuwanderung seien jedoch die Lebenshaltungskosten (für Wohnraum, Energie, Verkehr etc.) in der Schweiz angestiegen, die Produktivität habe jedoch nicht zwangsläufig den gleichen Schub erlebt. Real resultiere also kein Wachstum — weder gesamtwirtschaftlich noch auf Ebene des Einzelnen. Damit greift Eichenberger frontal die breit vertretene Gegenthese an, dass Zuwanderung netto ein volkswirtschaftlicher Gewinn darstellt. Aus seiner Sicht seien positive Externalitäten der Zuwanderung nur vereinzelt festzustellen, beispielsweise in Branchen, wo Schweizer Nachwuchs grundsätzlich mangelhaft sei, und in solchen, die eine hohe internationale Ausrichtung aufwiesen.
Einfluss auf die Löhne...
Eichenberger rechnete vor, dass aufgrund der anhaltend hohen Einwanderung in die Schweiz das Einkommen pro Kopf nicht zugenommen habe, sondern real gleich geblieben sei. Eine solche Entwicklung sei bei gleichzeitig steigenden Lebenshaltungskosten mit der Abnahme der Lebensqualität zu vergleichen, wobei diese natürlich subjektiv unterschiedlich wahrgenommen wird. Als Folge müssten sich die Reallöhne in der Schweiz an diejenige im EU-Raum angleichen, das heisst, sie sinken. Die unterschiedlichen Lebensqualitäten gleichen sich nach Auffassung des Referenten solange an, bis sich ein neues Gleichgewicht eingestellt habe: Realeinkommen CH = Realeinkommen EU.
Die Zuwanderung löse also einen breiten Lohndruck aus. Der Nettonutzen der Personenfreizügigkeit für inländische Arbeitnehmer sei also negativ. Wir spüren die Konsequenzen dieser Entwicklung nur (noch) nicht, weil unser Arbeitsmarkt genügend flexibel, mit anderen Worten verhältnismässig liberal sei.
...und Einfluss auf die Bodenpreise
Die Zuwanderung habe den Preis der Arbeit gemindert, der Wert des Bodens hingegen sei infolge massiv angestiegen. Das «Hydraproblem» führe dazu, dass sich mit zusätzlicher Einwanderung der Boden zusätzlich verknappen müsse. Zu den zuwanderungsbedingten steigenden Bodenpreisen treten ferner die oft politisch motivierten künstlichen Verknappungen des Bodens, wie sie beispielsweise durch Bau-, Raumplanungs- und Umweltvorschriften entstehen. Der Boden sei also knapp, vor allem in gewissen Gemeinden, was sich in ausserordentlich hohen Miet- und Bodenpreisen ausdrückt («Zugisierung»).
Interessant war die Aussage des Referenten, dass die Wahl des Wohnortes entgegen unserer Erfahrung grundsätzlich nur eine untergeordnete Rolle für die finanzielle Gesamtbelastung einer Person spiele. Ob jemand Zug oder Solothurn wähle, sei irrelevant. An die Stelle hoher Bodenpreise treten die höhere Verschuldung der Wohnsitzgemeinde und des Kantons, die (mittel- und langfristig) höhere Steuerbelastung und die höheren Krankenkassenprämien. Diese Kosten stecken sozusagen «verdeckt» im Grund und Boden einer vermeintlich günstigeren Wohnsitzgemeinde.
Diese Entwicklung bringe jedoch auch Gewinner hervor, wie natürlich die Zuwanderer selber, aber auch Grossgrundbesitzer, geschützte Branchen und die Politik. Die Hauptkonsequenz anhaltender Einwanderung: Der Bildungsstand des Einzelnen werde immer wichtiger, um im internationalen Arbeitskräftewettbewerb bestehen zu können — mit Ausnahme der «schweizspezifischen» Jobs. In den Worten des Referenten entwickeln wir uns darum zu einem «Volk von Juristen und Polizisten» — sicherlich eine sinnvolle Berufswahl für einen jungen Menschen, der bei der Wahl seine komparativen Vorteile bedenkt.
«Liberale Denkfallen»?
Eichenberger hat anschliessend die aus seiner Sicht verbreitetsten «Denkfallen» in der Migrationsthematik angesprochen, die er teilweise auch als «liberale Denkfallen» bezeichnet. Liberale gingen nach Meinung des Referenten zu oft davon aus, dass Zuwanderung eine höhere Produktivität schaffe, was allen in Form günstigerer Preise zugute komme.
Beispielsweise entgegnete er der Annahme, dass Zuwanderung neue Arbeitsstellen bringen, indem er darlegte, dass das derzeitige Beschäftigungswachstum primär exogen, also zuwanderungsgetrieben sei. Unter dem Strich generiere es keinen volkswirtschaftlichen Mehrwert, da auch die dadurch verursachten Kosten anstiegen. Zudem sei die Qualität der bleibenden Zuwanderung viel tiefer als allgemein angenommen. Gerade die Hochqualifizierten seien nicht so sehr an die Schweiz gebunden und in der Regel nur für kurze Zeit ansässig. Zudem sei im Allgemeinen das Bildungsniveau der Schweizer vergleichbar mit den ausländischen Top-Leuten. Mit der Zuwanderung seien darum nicht selten negative fiskalische Effekte verbunden; die Konsequenzen seien ein aufgeblähter Sozialstaat und flankierende Eingriffe in den Arbeits- und Wohnungsmarkt. Diese Interventionen lösten zudem ihrerseits oft einen weiteren Zuwanderungssog aus, indem sie die Schweiz künstlich attraktiver machten. Die Folgen dieser Eingriffe in den Markt verkennten insbesondere die Sozialdemokraten, wenn sie für «offene Grenzen» einstünden, gleichzeitig aber ihre Klientel mit Antidoten aus dem sozialistischen Giftschrank vor den Folgen der Einwanderung schützen wollten. Ausserdem würden viele Folgen der Zuwanderung wegen der anhaltend tiefen Zinspolitik der Notenbanken erst in Zukunft sichtbar. Nach einer Erhöhung dürften die Mieten steigen, so der Referent. Schliesslich geht eine zentrale liberale These davon aus, dass Freihandel für die Beteiligten nützlich ist. Anders als Freihandel sei laut Eichenberger der Nutzen der Personenfreizügigkeit nur unter speziellen Bedingungen umverteilbar, weil er ausschliesslich kapitalisiert im Boden stecke.
Gibt es einen Königsweg?
Wenn wir über Lösungen der Migrationsthematik nachdenken, haben wir die spezifische Situation der Schweiz zu berücksichtigen. Die Schweiz habe eine vergleichbar tiefe Verschuldung, explizit und implizit. Die Wirtschaft könne sehr hohe Löhne zahlen; im Vergleich zu Deutschland seien die nominellen Einkommen über 90% höher. Die Sprachenvielfalt mache das Land zudem für mehrere Nationalitäten interessant. Dies macht uns zum attraktivsten Einwanderungsland nach Luxemburg in Europa.
Wir sollten viele unserer Probleme nicht durch Migrationspolitik angehen, sondern durch kluge Wirtschaftspolitik. Zum Beispiel sei die künstliche Verbilligung des Verkehrs durch Einzelmassnahmen in diesen Bereich, wie beispielsweise ein Mobility Pricing, zu lösen. «Schweizersteuern» wie die Wehrpflicht seien durch eine freiwillige Miliz abzulösen. Zudem sollten langjährige Einwohner Bildungskapital erhalten.
Hingegen könnten Anwesenheitspreise ein griffiges Modell darstellen. Eichenberger plädiert für eine Abgabe, die grundsätzlich Zuwanderer und Einwohner trifft, die in Abhängigkeit der Verzinsung des Mehrfachen des BIPs ausgestaltet ist (z.B. 200% BIP + 3% Verzinsung pro Jahr = 39 Mrd./Jahr Steuervorteil = ca. 4800 CHF pro Kopf pro Jahr). Inländer würden die einer Kopfsteuer ähnelnde Abgabe als «Dividende» zurückerhalten. Die Wanderungsgewinne würden also zugunsten der Einheimischen umverteilt werden. Denkbar wäre auch, die Abgabe auf fünf Jahre zu beschränken, um Einwanderer mit längerfristiger Niederlassungsabsicht anzuziehen. Der freie Personenverkehr mit der EU bliebe erhalten, wobei die Attraktivität der Schweiz durch den Anwesenheitspreis gezielt abnehmen würde. An die Stelle von Mengenbeschränkungen, wie sie in der Zuwanderungsinitiative vorgesehen sind, würden Beschränkungen der Zuwanderung über den Preis treten. Zudem sei dieser Vorschlag, so Eichenberger, mit dem «Schweizervorrang» vereinbar. Auch sei der Vorschlag mit Kontingenten als ultimative flankierende Massnahme umsetzbar. Insgesamt würde ein solches Modell einen starken Anreiz für die Politik setzen, eine möglichst gute Standortpolitik zu vertreten. Singapur habe ein ähnliches (jedoch illiberales) Modell genutzt, als es den knappen Wohnraum verstaatlicht habe, um ihn anschliessend den Einheimischen zuzuteilen. Ausländer müssen sich im Stadtstaat in den Wohnungsmarkt «einkaufen». Klar wird damit auch, dass jede Beschränkung der Zuwanderung mit einer Diskriminierung einhergeht. Weitaus diskriminierender seien jedoch, so Eichenberger, Kontingente oder der flankierende Schutz des Arbeits- und Mietmarktes. Im Plenum wurde Eichenbergers Vorschlag relativ offen aufgenommen, insbesondere weil er tatsächlich weniger weit geht als eine schädliche Kontingentierung des Arbeitsmarktes. In Frage gestellt wurde, ob zwingend der Staat die Abgabe erheben müsse und auf welchem Weg die «Dividende» an die Einheimischen auszuschütten wäre. In Bezug auf letztere wären Steuersenkungen denkbar, insbesondere der Unternehmenssteuern. Wichtig sei laut dem Referent, die Einnahmen nicht gleich dem Konsum zuzuführen, sondern «anzusparen», ansonsten die Zuwanderungsgewinne kurzsichtig von den langfristigen Lasten der Zuwanderung entkoppelt würden. Der Vorteil einer einfachen Kopfsteuer sei zudem, dass der Arbeitsanreiz nicht genommen würde und auch Leute erfasst würden, welche zwar die Infrastruktur nutzten, jedoch hierzulande nicht arbeiteten. Gegenüber einer Abgabe, welche nur die Zuwanderer trifft, spreche der in den Bilateralen mit der EU vorgesehene Gleichbehandlungsgrundsatz von In- und Ausländern.Modellvorschlag: Anwesenheitsabgabe für Zuwanderer
Diskussion
21. November 2015