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Lauter Strafen in der AHV

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Monika Bütler Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 22. Februar unter dem Titel „Das ständige Gefühl zu kurz zu kommen“. Auf den ersten Blick scheint alles klar. Ein Paar in „wilder Ehe“, wie es früher so schön hiess, bekommt oft mehr Altersrente als ein verheiratetes Paar – dies bei gleichen Beiträgen. Wenn das keine Strafe fürs Heiraten ist! Der für Ungleichheiten geschärfte zweite Blick findet eine Reihe weiterer Strafen in der AHV. Eine Alleinstehenden-Strafe: Vor allem männliche Singles haben nicht nur eine kürzere Lebenserwartung, sondern auch keine Familienangehörigen, die von ihren Einzahlungen profitieren könnten wie Verheiratete. Eine Mütterstrafe: Anders als späte Väter erhalten Mütter aus biologischen Gründen kaum je die grosszügig bemessenen AHV-Kinderrenten für ihren Nachwuchs. Eine Vielkinderstrafe im Allgemeinen und eine Mehrlingselternstrafe im Besonderen: Betreuungsgutschriften gibt es nicht pro Kind, sondern nur bis das jüngste Kind 16 Jahre alt ist. Vierlings-Eltern erhalten genau gleich viel Gutschrift wie Einzelkind-Eltern. Absurd? Nein, nur zu Ende gedacht, was passiert, wenn jeder die AHV durch die Ich-komme-zu-kurz–Lupe analysiert. Dass Gefühl, zu kurz zu kommen ist verbreitet: Dies zeigt zum Beispiel das Sorgenbarometer der CS: Für 51 Prozent der Befragten tut der Staat generell zu viel.

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Monika Bütler

Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 22. Februar unter dem Titel „Das ständige Gefühl zu kurz zu kommen“.

Auf den ersten Blick scheint alles klar. Ein Paar in „wilder Ehe“, wie es früher so schön hiess, bekommt oft mehr Altersrente als ein verheiratetes Paar – dies bei gleichen Beiträgen. Wenn das keine Strafe fürs Heiraten ist!

Der für Ungleichheiten geschärfte zweite Blick findet eine Reihe weiterer Strafen in der AHV. Eine Alleinstehenden-Strafe: Vor allem männliche Singles haben nicht nur eine kürzere Lebenserwartung, sondern auch keine Familienangehörigen, die von ihren Einzahlungen profitieren könnten wie Verheiratete. Eine Mütterstrafe: Anders als späte Väter erhalten Mütter aus biologischen Gründen kaum je die grosszügig bemessenen AHV-Kinderrenten für ihren Nachwuchs. Eine Vielkinderstrafe im Allgemeinen und eine Mehrlingselternstrafe im Besonderen: Betreuungsgutschriften gibt es nicht pro Kind, sondern nur bis das jüngste Kind 16 Jahre alt ist. Vierlings-Eltern erhalten genau gleich viel Gutschrift wie Einzelkind-Eltern.

Absurd? Nein, nur zu Ende gedacht, was passiert, wenn jeder die AHV durch die Ich-komme-zu-kurz–Lupe analysiert. Dass Gefühl, zu kurz zu kommen ist verbreitet: Dies zeigt zum Beispiel das Sorgenbarometer der CS: Für 51 Prozent der Befragten tut der Staat generell zu viel. Dennoch sind 65 Prozent überzeugt, dass sie selber zu wenig vom Staat erhalten. Nur 39 Prozent sind umgekehrt der Meinung, die Andern kämen zu kurz.

Der Blick auf den eigenen Bauchnabel lässt die tragenden Pfeiler der AHV vergessen. So zum Beispiel, dass die Umverteilung zwischen den Einkommensgruppen in der AHV im internationalen Vergleich aussergewöhnlich hoch ist. Die AHV nimmt es von den Lebendigen: Viele Erwerbstätige zahlen ein Vielfaches dessen ein, was sie später an Rente beziehen – ob verheiratet oder nicht.

Noch wichtiger: Wir scheinen vergessen zu haben, welche Rolle die AHV im Sozialversicherungssystem spielen soll. Schon bei ihrer Gründung ging es in erster Linie um Armutsvermeidung und um die Sicherung eines bescheidenen Einkommens im Alter und bei Tod des Ernährers. Dank Betreuungsgutschriften und Splitting sind heute auch Geschiedene einigermassen abgesichert. Für alles, was über ein Grundeinkommen im Alter hinausgeht, gibt es die beruflichen Vorsorge und das private Sparen.

Wenn man schon genauer hinschaut, sollte man nach Lücken forschen und nicht nach Strafen. Wer ist denn heute im Alter armutsgefährdet? Nicht die Ehepaare und Witwen, sondern die alleinstehenden Frauen und Männer. Die Witwenarmut, historisch und in meisten Ländern ein gravierendes Problem, gibt es in der Schweiz kaum mehr. Im Gegenteil: die Monatsrenten der Witwen sind im Durchschnitt 300 Franken höher als die Renten lediger Frauen und Männer. Die Maximalrente beziehen 43 Prozent der Witwen, aber nur 13 Prozent der Ledigen. Was den Ehepaaren in guten Tagen durch die Plafonierung der Rente sozusagen vorenthalten wird, erhalten sie in schlechten Tagen wieder zurück.

Bei aller Kritik an der AHV ist es der Versicherung gelungen, zwischen reich und arm, zwischen Familien und Alleinstehenden und – weniger gut – zwischen jung und alt einen Ausgleich zu schaffen. Dadurch blieben die Prämien im internationalen Vergleich relativ tief. Eine Beseitigung angeblicher Strafen ginge auf Kosten eher armutsgefährdeter Rentner. Und vor allem der Jungen, die ohnehin schon zu stark belastet sind.

Traurig: Auf die Probe gestellt wird die Solidarität in der AHV heute nicht nur durch die finanzielle Schieflage, sondern auch durch einen immer engeren Blick auf eigene Vorteile oder eingebildete Nachteile.

Monika Bütler
Professorin für Volkswirtschaft und geschäftsführende Direktorin des Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung (SEW) an der Universität St. Gallen (HSG), Vorstand der Volkswirtschaftlichen Abteilung der HSG. Lizentiat in Mathematik/Physik, mehrjährige Tätigkeiten am Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos und bei der damaligen Swissair. Zweitstudium und Doktorat in Volkswirtschaftslehre, danach Assistenzprofessur in Tilburg (Niederlande) und Professur an der HEC Lausanne. Forschungsschwerpunkte: Sozialversicherungen, Arbeitsmarkt, politische Ökonomie und Informationsökonomik.

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