Photo: Ant Rozetsky from Unsplash (CC 0) Nicht nur Manager sind gierig und rücksichtlos. Ausbeuten ist nicht etwas, das nur Unternehmer beherrschen. Jüngste Vorkommnisse wie der Bahnstreik geben Anlass, darüber nachzudenken, welche Narrative unsere Debatten prägen und wie zutreffend die eigentlich sind. Selbstbedienungsmentalität können auch Gewerkschaftler Die Menschen drängeln sich. Dicht an dicht stehen und sitzen sie für Stunden auf engstem Raum zusammen. Die hochansteckende Delta-Variante des Coronavirus findet paradiesische Zustände vor. Bis vor kurzem wäre jede Kultur- oder Gastroeinrichtung, die so etwas zulässt, sofort geschlossen und mit hohen Bußgeldern belegt worden. Neun Tage lang wurden jetzt Millionen Menschen immer wieder in eine solche Lage gebracht – und das in einer Zeit
Topics:
Clemens Schneider considers the following as important: blog
This could be interesting, too:
Clemens Schneider writes Kurt Zube
Clemens Schneider writes Substack-Empfehlung: Zeitsprung
Clemens Schneider writes VW in Potemkin-Land
Clemens Schneider writes Gunther Schnabl wird Nachfolger von Thomas Mayer
Photo: Ant Rozetsky from Unsplash (CC 0)
Nicht nur Manager sind gierig und rücksichtlos. Ausbeuten ist nicht etwas, das nur Unternehmer beherrschen. Jüngste Vorkommnisse wie der Bahnstreik geben Anlass, darüber nachzudenken, welche Narrative unsere Debatten prägen und wie zutreffend die eigentlich sind.
Selbstbedienungsmentalität können auch Gewerkschaftler
Die Menschen drängeln sich. Dicht an dicht stehen und sitzen sie für Stunden auf engstem Raum zusammen. Die hochansteckende Delta-Variante des Coronavirus findet paradiesische Zustände vor. Bis vor kurzem wäre jede Kultur- oder Gastroeinrichtung, die so etwas zulässt, sofort geschlossen und mit hohen Bußgeldern belegt worden. Neun Tage lang wurden jetzt Millionen Menschen immer wieder in eine solche Lage gebracht – und das in einer Zeit steigender Virus-Inzidenzen und stagnierender Impfbereitschaft. Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als man für das Tragen einer OP- anstatt einer FFP2-Maske Blicke erntete, als ob man unmittelbar an der Tötung mehrerer älterer Mitbürgerinnen beteiligt sei? Als junge Menschen, die nach über einem Jahr des Weggesperrt-Seins einen lauen Frühlingsabend im Park genießen wollten, von aufgeregten Journalisten zu Superspreadern stilisiert wurden? Sprechen wir doch mal darüber, welches Ausmaß an Rücksichtslosigkeit die Entscheidung der GDL offenbart, in der derzeitigen Ausnahmesituation einen erheblichen Teil des Bahnverkehrs lahmzulegen.
Aber ging es denn nicht darum, eine gerechtere Behandlung der Bahnangestellten zu erreichen? Zumindest ein Inflationsausgleich wäre doch gerade derzeit durchaus angemessen. Zu den Forderungen, die für die neue Tarifrunde im Oktober vergangenen Jahres erhoben wurden, gehörte aber unter anderem auch eine einmalige Sonderzahlung aufgrund der Pandemie in Höhe von 1.300 Euro. Die ist zwar inzwischen auf 600 Euro hinunter verhandelt worden. Aber auch bei dieser Summe stellt sich noch die Frage, wie eine solche Zahlung berechtigt sein kann für Berufsgruppen, deren Mehrbelastung hauptsächlich darin besteht, im Dienst eine Maske tragen zu müssen (tragen Lokführer Masken?). Während Hunderttausende Selbständige Sorge um ihre Existenz und die Zukunft ihrer Mitarbeiter haben. Während Millionen Menschen in Kurzarbeit sind. Wie nennt man so eine Forderung in Klassenkampf-Sprech? Selbstbedienungsmentalität? Manche Forderungen in den Tarifverhandlungen sind gewiss sehr nachvollziehbar. Doch die Form und Diktion, in der das Gesamtpaket in einer solchen Ausnahmezeit vorgetragen wird, ist nicht anders als dreist.
Benachteiligte sind nicht immer die besseren Menschen
Die Stereotypen sitzen tief und sind in unser kulturelles Gedächtnis eingebrannt: Kaufleute werfen für den Profit ohne Zögern ihr Gewissen über Bord und anschließend Menschen hinterher. Arme sind hingegen schon in den Texten der Bibel meist die Guten und auch in Hollywood-Blockbustern unserer Tage tritt in Charles Dickens-Manier die arme Frau als moralische Heldin auf. Wir haben es hier mit einer Art ästhetischem Klassenkampf zu tun. Es geht gar nicht mehr darum, dass die eine Klasse sich dessen bemächtigen will, was ihr die andere Klasse weggenommen hat. Es geht um eine Abgrenzung von der anderen Klasse, um dadurch Besitzansprüche geltend zu machen. Der GDL-Chef ist kein prekär lebender Arbeiterführer, und die Lokführer, für die er sich einsetzt, verdienen etwa so viel wie der durchschnittliche Deutsche (einschließlich einer Job-Sicherheit, von der Selbständige noch nicht einmal zu träumen wagen). Aber sie nutzen Vokabular und Bilder des Frühkapitalismus, um ihren Anspruch moralisch zu überhöhen. Die Klassen, die hier aufeinander prallen, sind nicht durch Machtunterschiede voneinander zu unterscheiden, sondern fast nur noch durch Narrative.
Ein nicht unwesentlicher Haken in all diesen Narrativen liegt gerade im Anspruch, auf der moralisch wertvolleren, guten Seite zu stehen. Generell sind wir Menschen Lebewesen, die an einem möglichst glänzend polierten äußeren Erscheinungsbild interessiert sind, und die gleichzeitig möglichst wenig Aufwand dafür betreiben wollen. Also eine Art Mischung aus Pfau und Panda. Und wir scheinen umso heller, je dunkler die anderen erscheinen. Der Aufwand ist überschaubar, den man betreiben muss, um den anderen als finsteren Gesellen zu zeichnen, der uns an den Kragen will, das Angst-Schüren und Feindbild-Errichten. Dagegen: Argumente sortieren und stärken; Kompromisse aushandeln; auch mal nachgeben; zuhören, um das große Ganze besser zu verstehen – das sind alles Unterfangen, die unserem gemütlichen inneren Panda viel zu schwer erscheinen. Und darum ist der ästhetische Klassenkampf so ein praktisches Mittel. Man kann sich auf bereits voreingestellte Rollenverteilungen verlassen und muss die Klaviatur-Tasten nur ganz kurz anschlagen. Dabei gerät dann freilich nicht nur die Darstellung der anderen Seite gehörig in Schieflage, sondern auch das Selbstbild, das man zeichnet und womöglich sogar für zutreffend hält.
Die ehrbaren Kaufleute entstauben
Gier, Rücksichtslosigkeit, Heimtücke, Protzen und sogar Ausbeutung sind Unarten, die sich nicht nur bei Managern und Unternehmerinnen finden, sondern auch bei gefühlt oder tatsächlich armen und benachteiligten Menschen. Und natürlich werden nicht wenige Menschen in vorteilhaften Positionen gelandet sein, weil sie ihre Ellenbogen ungehemmt zum Einsatz bringen. Nicht wenige „da oben“ werden durch Macht und Wohlstand auch korrumpiert worden sein. Doch selbst wenn ein Großteil der Reichen und Mächtigen, der Wirtschaftsbosse und Unternehmerinnen von zweifelhafter moralischer Qualität wären, würde das nicht zugleich den Wert der anderen Menschen heben. Tugend ist nicht eine begrenzte Ressource, die dem einen fehlt, wenn der andere sie hat. Anstand ist kein Nullsummenspiel.
Die Versuchung ist da, den Spieß einmal umzudrehen. „Gierige Gewerkschaftsbosse“ – das ist nicht ganz ohne Komik. Aber so würde man am Ende nur die Spirale weiterdrehen aus gruppenbezogener Diskriminierung. Denn, ja, genau das betreiben Menschen wie der GDL-Chef. Es ist bemerkenswert, mit welcher Ruhe und Freundlichkeit die zuständigen Bahn-Mitarbeiter auf die Hetztiraden aus jener Ecke ohnehin schon reagieren. Man kann ihnen gewiss nicht nachsagen, dass sie es eskalieren ließen. Was lässt sich also noch tun? Sprechen wir mehr über Menschen, die Verantwortung übernehmen – ob in der Selbständigkeit oder als Angestellte in Führungspositionen. Hören wir einander aufmerksamer zu und versuchen zu verstehen, was diese Menschen bewegt, wo sie ihren Platz in der Gesellschaft sehen, welche Sorgen sie umtreiben und welche Hoffnungen sie haben. Statt weiter Hass und Spaltung in eine Gesellschaft zu tragen, die sich ohnehin schon als zerrissen empfindet, sollten wir uns zu freundlicher Neugier und Offenheit erziehen. Und diejenigen, denen Gier und Rücksichtslosigkeit unterstellt werden, sollten sich auch trauen, offensiv ihre Motive und Werte zu kommunizieren. Das Bild von den ehrbaren Kaufleuten muss entstaubt werden und zum erneuerten Selbstanspruch werden, der auch nach außen kommuniziert wird. Nehmen wir den ästhetischen Klassenkämpfern den Wind aus den Segeln!