Photo: Wikimedia Commons (CC 0) Es ächzt und knirscht wieder im europäischen Gebälk. Die EU-Kommission und der deutsch-französische „Motor“ versuchen zu stabilisieren, wo es nur geht. Eine wichtige Stellschraube ist aber die Frage, wie wir über Europa sprechen und welche Erwartungen wir wecken. Da kann vieles gehörig schief gehen. Das „Wir“ aus dem Nichts Am Anfang stand die Französische Revolution. Bis dahin war man Bewohner des elsässischen Weisseburch gewesen und Untertan des französischen Königs. Man verkaufte seine Töpferwaren an der neugegründeten Residenz des Landgrafen von Hessen-Darmstadt in Pirmasens, zog zur Weinlese durchs Vorderösterreichische in das Gebiet der Freien Reichstadt Offenburg und bezog Stoffe vom Markt im badischen Karlsruhe, die dort über den Rhein aus Flandern
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Es ächzt und knirscht wieder im europäischen Gebälk. Die EU-Kommission und der deutsch-französische „Motor“ versuchen zu stabilisieren, wo es nur geht. Eine wichtige Stellschraube ist aber die Frage, wie wir über Europa sprechen und welche Erwartungen wir wecken. Da kann vieles gehörig schief gehen.
Das „Wir“ aus dem Nichts
Am Anfang stand die Französische Revolution. Bis dahin war man Bewohner des elsässischen Weisseburch gewesen und Untertan des französischen Königs. Man verkaufte seine Töpferwaren an der neugegründeten Residenz des Landgrafen von Hessen-Darmstadt in Pirmasens, zog zur Weinlese durchs Vorderösterreichische in das Gebiet der Freien Reichstadt Offenburg und bezog Stoffe vom Markt im badischen Karlsruhe, die dort über den Rhein aus Flandern gekommen waren. Kaum hatten die Revolutionäre den König geköpft, wurde aus dem Weisseburcher plötzlich ein Franzose. Sein Sohn wurde gezwungen, mit Napoleon gegen die „Deutschen“ auf der anderen Rheinseite zu kämpfen, mit denen sein Vater eben noch Wein geerntet hatte. Er marschierte mit Leuten aus Brest und Toulouse zusammen Richtung Moskau, mit denen er nicht einmal dieselbe Sprache teilte.
Der Nationalstaat schuf aus dem Nichts ein Wir. Plötzlich befand man sich in einer Schicksalsgemeinschaft und einer „Familie“ mit wildfremden Menschen. Man sollte mit ihnen teilen und im Zweifel für sie sterben. Zugleich wurde einem suggeriert, dass es „die Anderen“ gebe, die einem womöglich feindlich gesonnen seien, mit denen man aber zumindest auf keinen Fall teilen werde. Fortan gab es zwei unterschiedliche Fremde: den potentiellen Feind und den, für den ich mein Leben aufs Spiel setzen solle. Diese unheilvolle Ideologie, die in der Konsequenz Europa vielfach verwüstet hat, ist leider nicht so leicht auszurotten, sondern kehrt in neuem Gewand immer wieder. In jüngster Zeit auch immer häufiger auf europäischer Ebene.
Mehr Nüchternheit! Mehr Ehrlichkeit!
Europäische Solidarität! Diese Vorstellung, die für viele Menschen sehr positiv klingt, erstrebenswert und löblich, hat ihre Wurzeln in ebenjener Ideologie, die Menschen aufgrund von geographischen Umständen einem Kollektiv zuteilt. Wovon leitet sich der Anspruch ab, dass die Bewohner von Saragossa, Salerno und Saloniki durch diejenigen von Groningen, Göteborg und Görlitz unterstützt werden sollten? Warum sollte die alleinerziehende kroatische Altenpflegerin de facto die Konsequenzen des Frühverrentungs-Systems der französischen Eisenbahn mittragen? Der einzige Grund, der dafür in der Regel angeführt wird, ist die Idee des Europäertums. Ausgeschlossen werden da freilich diejenigen, die nicht mitspielen wollen (Schweiz, Großbritannien, Norwegen), nicht mitspielen dürfen (Montenegro, Mazedonien, Ukraine) oder nicht mitspielen können (alle Länder, die nicht zufällig auf dem Westausleger des eurasischen Kontinents liegen). Nicht nur die Gefahr der euro-nationalistischen Abschottung nach außen ist sehr groß. Auch die Fliehkräfte innerhalb Europas werden durch mehr „Solidarität“ immer größer werden.
Wir brauchen ein anderes Narrativ für das, was wir in der EU machen. Ein nüchterneres. Und ein ehrlicheres. (Im Ernst: der Anspruch der Solidarität ist auch sehr unehrlich. Wer außerhalb einer gewissen intellektuellen Blase empfindet denn das Bedürfnis, solidarisch zu sein?) Europa ist noch viel weniger als Rumänien oder Finnland eine „Familie“. Europa ist ein Raum mit einem verhältnismäßig großen gemeinsamen kulturellen Erbe. Das ist wichtig, denn das hilft, um einander zu verstehen – im weiteren Sinne: Wir kennen die Bilder, die wir in der Kommunikation verwenden, hören Subtexte, teilen grundlegende Weltsichten. Und wir haben immer besser gelernt, miteinander zu leben – nicht nur der Töpfer aus Weissburch und seine Handelspartnerin in Pirmasens, sondern auch die „Herrscher“ oder wie man heute formulieren würde: die Verantwortlichen in der Politik. All das konstituiert Verständnis und friedliches Miteinander, all das ermöglicht breiten Wohlstand. Das Wort von der Völkerfreundschaft, das bezeichnenderweise dem Vokabular der Sowjetunion entstammt, trifft das europäische Wunder eben nicht. Freundschaft und familiäre Bindungen sind ebenso wie Solidarität nur durch ein Individuum zu verwirklichen, nie durch Kollektive.
Der Segen des Abstrakten
Welches Narrativ wir wählen, um über das Miteinander in der EU zu sprechen, hat auch erheblichen Einfluss darauf, was politisch machbar erscheint und realisiert wird. Wenn man jahrzehntelang von Solidarität spricht, darf man sich nicht wundern, wenn auch sehr starke Gefühle entstehen, wenn sie (scheinbar) nicht oder unzureichend gewährt wird. Die Emotionen in vielen südeuropäischen Staaten sind völlig nachvollziehbar, wenn man die Erwartungen bedenkt, die durch die Politik, auch in Brüssel und den Geberländern, immer wieder geweckt wurden. Diese Emotionen gefährden das grandiose europäische Projekt vielleicht ebenso sehr wie dessen unmittelbare Gegner. Denn das Gefühl der Enttäuschung kann tiefe, irreparable Wunden hinterlassen. Um Europas Willen müssen wir nüchterner werden!
Das Narrativ, das sich anbietet, arbeitet nicht mit so emotionalen Motiven wie Zusammengehörigkeit. Es spendet nicht Nestwärme, sondern erinnert an die knallharten und doch so segensreichen Fakten. Nicht Strukturfonds und Sozialtransfers haben die Menschen in Europa in den letzten Jahrzehnten zu beispiellosem Wohlstand und Lebensqualität geführt, sondern das Wirken offener Märkte. Dass immer mehr Menschen die Möglichkeit bekommen haben, ihre Fähigkeiten ungehindert von Zöllen und Schranken für andere nützlich zu machen, ist die einzigartige Errungenschaft der Europäischen Union. Das ist auch die Basis, auf der wir uns aus der gegenwärtigen Krise herausarbeiten können: ob in Porto, Sofia oder Riga. Ein entscheidender Punkt ist aber, dass wir unsere Narrative grundlegend ändern: Die EU ist keine Mutter, die Gemeinschaft stiftet und für alle sorgt. Die EU ist ein abstraktes System offener Märkte, das für mehr, schnelleren und nachhaltigeren Wohlstand sorgt als das irgendein fürsorgender Akteur jemals könnte. Wir müssen die EU lieben für das, was sie uns tatsächlich beschert, nicht für die schönen Geschichten, die uns erzählt werden.
In dieser nüchternen Haltung müssen wir uns dann auch der Frage stellen, was man in einer Krise wie der jetzigen tun kann und muss. Vielleicht ist es angebracht, Mittel freizuschaufeln oder den EU-Haushalt aufzustocken? Vielleicht sind auch strengere Auflagen oder harte Reformen das Mittel der Wahl? Es wird viel zu überlegen und auszubalancieren geben die nächsten Monate und Jahre. Aber all das wird sehr viel besser funktionieren, wenn wir uns verabschieden von der kollektivistischen Rhetorik des Nationalstaats: Solidarität ist eine individuelle Leistung. Es geht in Europa nicht um Geborgenheit und Fürsorge. So etwas kann kein Kollektiv und kein Staat leisten. Es geht in Europa um das Wohl und die Chancen jedes einzelnen Bürgers. Wo die Politik die Finger von emotionaler Daseinsvorsorge gelassen hat und sich um solche nüchternen Dinge wie offene Märkte gekümmert hat, sind die Menschen immer noch am besten weggekommen.