Gemessen an der Maximierung des BIP ist der Markt sehr effizient. Misst man ihn jedoch an der Befriedigung der Bedürfnisse, schneidet die geldlose Bedarfswirtschaft in vielen Punkten besser ab. Um zu überleben müssen alle Spezies wirtschaften und der Umwelt Energie abgewinnen. Zu diesem Zwecke müssen sie erstens ihre Bedürfnisse erkennen, zweitens ihre produktiven und reproduktiven Tätigkeiten koordinieren und drittens müssen sie die Beute (das Produkt der Arbeit) so teilen, dass alle fit bleiben. Diese Fähigkeiten und Abläufe sind uns von der Evolution ins Gehirn programmiert worden. Alles, was dem Überleben der Spezies dient – Sex, Essen und Trinken, Teilen, gemeinsam etwas unternehmen – wird mit Glückshormonen belohnt. Der wichtigste evolutionäre Trumpf der Menschen ist die
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Gemessen an der Maximierung des BIP ist der Markt sehr effizient. Misst man ihn jedoch an der Befriedigung der Bedürfnisse, schneidet die geldlose Bedarfswirtschaft in vielen Punkten besser ab.
Um zu überleben müssen alle Spezies wirtschaften und der Umwelt Energie abgewinnen. Zu diesem Zwecke müssen sie erstens ihre Bedürfnisse erkennen, zweitens ihre produktiven und reproduktiven Tätigkeiten koordinieren und drittens müssen sie die Beute (das Produkt der Arbeit) so teilen, dass alle fit bleiben. Diese Fähigkeiten und Abläufe sind uns von der Evolution ins Gehirn programmiert worden. Alles, was dem Überleben der Spezies dient – Sex, Essen und Trinken, Teilen, gemeinsam etwas unternehmen – wird mit Glückshormonen belohnt. Der wichtigste evolutionäre Trumpf der Menschen ist die Fähigkeit, dank der stark ausgeprägten Neigung zum Teilen umfangreiche Netze von gegenseitigen Verpflichtungen zu knüpfen. Das setzt räumliche und soziale Nähe voraus. Damit wird auch soziales Vertrauenskapital gebildet. Je mehr Vertrauen, desto weniger Reibungsverluste.
Bedarfs- und Marktwirtschaft
Mit der Erfindung des Geldes haben die Menschen eine völlig neue Form einer sozialen Verpflichtung geschaffen. Damit wurde es uns möglich, die produktiven Tätigkeiten so zu koordinieren, dass man auch Fremde in den Austausch einbeziehen und den Kreis der Zusammenarbeit fast unbegrenzt ausdehnen konnte. Damit verfügt der Mensch als einzige Spezies über zwei Koordinationssysteme: Die traditionelle Bedarfswirtschaft und die – aus evolutionärer Sicht – brandneue Marktwirtschaft. Legt man die Statistik der unbezahlten Arbeit zugrunde, liegt der in Arbeitsstunden gemessene Marktanteil der Marktwirtschaft bei etwa einem Drittel. Tendenz stark steigend.
Was ist nun der optimale Mix von Bedarfs- und Marktwirtschaft? Leider hat die Wirtschaftswissenschaft diese naheliegende Frage nie gestellt. Sie hat sich von den unbestreitbaren Vorteilen des Marktes bei der Organisation der Arbeit (Spezialisierung, Massenproduktion, stetig steigenden Produktivität) derart blenden lassen, dass wir heute den Markt für die ganze Wirtschaft halten. Die Ökonomik ist zu einer Wissenschaft der Maximierung des BIP (Bruttoinlandsprodukt) geworden. Diese Sichtweise hat den Nachteil, dass sie die Schwächen des Marktes unbeachtet lässt. Diese werden jedoch sichtbar, wenn man den Markt mit seinem Konkurrenten, der althergebrachten Bedarfswirtschaft, vergleicht. Dabei zeigt sich, dass der Markt vier grosse Schwächen hat.
- Er hat Mühe, menschliche Bedürfnisse zu erkennen und darauf zu reagieren.
- Er verteilt die Beute extrem ungleich.
- Er verbraucht einen zunehmenden Teil der Ressourcen, um die eigene Komplexität zu bewältigen.
- Er schafft Arbeitslosigkeit indem er das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit kommerzialisiert, mit der perversen Folge, dass sein wichtigster Trumpf – die effiziente Produktion – nicht mehr Freizeit und Wohlstand, sondern Stress und Arbeitslosigkeit generiert.
Erkennen der Bedürfnisse
Die Bedarfswirtschaft reagiert direkt auf die eigenen Bedürfnisse. Die Marktwirtschaft reagiert auf die monetäre Nachfrage von Fremden. Zu diesem Zweck muss sie sich spezialisieren.. Beispielsweise auf die Produktion von Bananen oder Autos. Doch wenn die Gunst des Marktes dreht, bleibt man eine Bananenrepublik oder ein Rust Belt. Ganze Länder und Regionen bleiben unfähig, sich so zu organisieren, dass sie die eigenen Bedürfnisse nach Nahrung, Wohnung, Strassen, Schulen, innere Sicherheit etc. decken können.
Verteilung der Beute
In der Bedarfswirtschaft bilden Bekannte ein enges Netz von nicht bezifferten gegenseitigen Verpflichtungen. Die Werthaltigkeit der „Guthaben“ wird dadurch sichergestellt, dass die „SchuldnerInnen“ ihren Ruf wahren wollen. Im Markt sind die Guthaben beziffert und handelbar und können dank einem aufwändigen institutionellen Apparat auch gegen Unbekannte durchgesetzt werden. Das hat zur Folge, dass der Markt sein Produkt, das BIP, zweimal verteilt: Physisch und finanziell. Physisch durch den gehabten Konsum und finanziell durch die Zuteilung von Geldgutscheinen. Da die künftigen Finanzeinkommen unsicher sind, ist die Versuchung gross, sich eine Geldreserve zu erwirtschaften. Das kann per Definition nicht allen gelingen. Typischerweise fallen heute 50 Prozent aller Geldeinkommen (Löhne, Zinsen, Mieten) und über 90 Prozent der Finanzvermögen beim reichsten Fünftel der Bevölkerung an. Der Konsum hingegen richtet sich weitgehend nach den physischen Bedürfnissen und ist viel gleichmässiger verteilt. Als Folge davon entstehen laufend Guthaben und Schulden, wobei sich der ärmere Teil der Bevölkerung via Staat bei den reichen Haushalten und Unternehmen verschuldet. Damit wird laufend mehr Finanzvermögen gebildet.
Dieses wiederum greift seinerseits in den Verteilungsprozess ein, indem es sich organisiert und seine Macht ausspielt Je länger die Wertschöpfungskette, desto grösser die Chance zur Wertabschöpfung. Der Kapitalmarkt – als „Gewerkschaft“ des Kapitals – entscheidet darüber, ob eine Fabrik hier oder dort gebaut wird und er macht diesen Entscheid u.a. von der Höhe der Löhne oder der Steuern abhängig. Auf ähnliche Weise werden auch die Wohnungssuchenden zur Kasse gebeten. Je mehr Guthaben die Reichen auf diese Weise scheffeln, desto grösser wird die Macht der Finanzmärkte.
Komplexitätskosten des Marktes
Die stetig wachsenden Finanzguthaben sind aber auch ein Kostenfaktor. In der Schweiz etwa beliefen sich die finanziellen Forderungen und Guthaben Ende 2020 auf rund 13'000 Milliarden Franken. Dazu kommen noch rund 4000 Milliarden Franken Handelswert der Immobilien. Insgesamt ist das fast das 40-fache der jährlichen Arbeitseinkommen. Diese Vermögenswerte wollen verwaltet werden. Auf ihre Kursentwicklung laufen Wetten im Wert von mehreren 100 Billionen. Das verschlingt enorme Ressourcen. In der Schweiz beansprucht der Finanzsektor inklusive Vorleistungen rund ein Sechstel des BIP. Zudem schafft der Handel mit den Wertpapieren entscheidende Fehlanreize. Wenn sich die 17'000 Milliarden Verkehrswert pro Tag auch nur um 0,1 Prozent verändern, dann haben die TraderInnen in der Schweiz mehr alte Werte abgeschöpft, als die 4 Millionen „BIP-ArbeiterInnen“ neu geschaffen haben.
Ein weiterer Grund dafür, dass der Markt einen immer grösseren Teil seiner Ressourcen für die Bewältigung der eigenen Komplexität aufwendet, ist aufwändige Umverteilungsbürokratie, mit welcher der Markt seine extrem ungleiche Beuteverteilung korrigieren muss. Zu den vielen Umwegen, auf denen der Markt die Bedürfnisse aus den Augen verliert, gehören auch die Arbeitsmarktbürokratie, die Werbebranche, weite Teile der Transport- und Kurierindustrie, die Immobilienmakler, Patent- und Wirtschaftsanwältinnen, usw. Alles in allem stellen diese KomplexitätsbewältigerInnen schätzungsweise 30 Prozent der Arbeitskräfte, beanspruchen aber einen weit überproportionalen Teil des BIP. So schöpfen etwa die Beschäftigten der Finanz- und Versicherungsbranche pro Stunde mehr als viermal so viele Werte ab, wie die der Gastronomie.
Arbeitslosigkeit und soziale Integration
In der Logik des Marktes dient die Arbeit ausschliesslich der Produktion von Gütern und Dienstleistungen. In der realen Welt befriedigt die Arbeit auch das Bedürfnis nach sozialer Teilhabe und Anerkennung. Doch je flexibler die Arbeitszeiten, je länger die Arbeitswege und je häufiger die Wohnortwechsel, desto weniger Arbeit fällt in der Familie und Nachbarschaft ab und desto weniger kann diese das Bedürfnis nach Gemeinschaft befriedigen. Für immer mehr Leute ist deshalb der Job das Eintrittsticket in die Gesellschaft. Das verleiht denen Macht, die diese Tickets ausstellen. UnternehmerInnen können heute nicht nur ihre Produkte verkaufen, sondern auch die Arbeit die sie entweder geben – oder auslagern.
Der Preis, den die Arbeit-GeberInnen für ihre Eintrittsticket verlangen können, ist sehr hoch, denn die Evolution gewichtet das Bedürfnis nach sozialer Integration fast gleich stark wie Hunger, Durst und Sex. Einsamkeit ist gemäss dieser Meta-Studie[ a ] noch vor Alkohol, Rauchen und Übergewicht das grösste Gesundheitsrisiko. Das – zumindest in den westlichen Marktwirtschaften – wichtigste Bedürfnis, das heute mit bezahlter Arbeit befriedigt wird, ist soziale Integration. Wenn heute das BIP stagniert, befürchten wir nicht in erster Linie Versorgungsengpässe von wichtigen Konsumgütern, sondern Arbeitslosigkeit und sozialen Unfrieden.
Ausgelagerte unbezahlte Arbeit ist meist schlechte Arbeit
Wozu der Versuch führt, Arbeitslosigkeit durch die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu bekämpfen, zeigt ein Bericht[ b ] des deutschen Bundesamts für Statistik betreffend die „Zeitverwendung für unbezahlte Arbeit“ aus dem Jahr 2016. Danach ist die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden zwischen 1992 und 2013 um 4,3% oder 3 Milliarden gesunken. In Anbetracht einer um 31% höheren Produktivität ist das erstaunlich wenig. Der Bericht liefert einen Teil der Erklärung: Im gleichen Zeitraum ist nämlich die unbezahlte Arbeit um nicht weniger als 13 Milliarden Stunden geschrumpft. Begründet wird das mit dem „Trend, Hausarbeit zu substituieren“ etwa „durch den Einsatz vorgefertigter Nahrungsmittel oder durch die Inanspruchnahme externer Dienstleistungen“. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen ist dadurch von 56 und 69 Prozent gestiegen. Im Gegenzug ist die Zahl der Kinder unter 12 Jahren von 10,6 auf 8,3 Millionen gesunken. Ein weiterer Grund liegt im Anstieg des Exportüberschusses um rund 6 Prozent des BIP. Deutschland hat somit die bezahlte Arbeit stabilisiert indem es dem Ausland und der Bedarfswirtschaft Arbeit weggenommen hat.
Seither dürfte sich die Erosion der Bedarfswirtschaft weltweit weiter beschleunigt haben. Die einseitige Einkommensverteilung ermöglich es den reichen Haushalten, ihre Haus- und Erziehungsarbeit an eine Unterschicht von schlecht bezahlten Dienstbot-Innen auszulagern. Meist handelt es sich dabei um junge Frauen und Männer aus Schwellen- und Entwicklungsländern, deren eigene familiäre und nachbarschaftliche Strukturen dadurch zerstört werden. Und die „zwangsmobilisierte“ einheimische Mittelschicht kann immer weniger auf die Unterstützung von Nachbarn und Verwandten zählen und ist deshalb auf Fertigmahlzeiten, Kuriere, Kitas etc. angewiesen. Kommt dazu, dass die der Bedarfswirtschaft abgerungen Jobs wenig zur sozialen Einbindung beitragen. Kuriere sind Einzelkämpfer, Lagerarbeiterinnen bei Zalando haben statt Kumpels nur Konkurrenten und die rumänischen Pflegerinnen unserer Senioren leben im Stubenarrest.
Es braucht gute Wirtschaftspolitik gegen die Mängel des Marktes
Wir können den Markt nicht verbieten. Aber wir können eine Wirtschaftspolitik betreiben, die seine Schwächen erträglicher macht. Statt wenige Jobs mühsam über Exporte zu erobern, können wir durch die Befriedigung lokaler Bedürfnisse ein viel grösseres Beschäftigungspotential nutzen. Beispielsweise mit lokalen Währungen. Statt Lohnzuschüsse mit Staatsschulden zu finanzieren und damit die Kapitalmärkte weiter aufzublähen, könnten wir die Gewerkschaften stärken oder der Staat kann sich über höhere Gewinn- und Einkommenssteuern schad- und schuldenlos halten. Statt Arbeitssuchende zu langen Arbeitswegen zu zwingen, könnte man lokale Initiativen fördern, denn da, wo Arbeitslose leben, ist auch der Bedarf hoch und dringlich.
Nächstes Jahr wird Destatis neue Zahlen zur „Zeitverwendung“ erheben. Dieses Mal werden die AutorInnen des entsprechenden Berichts vielleicht sogar begreifen und erwähnen, dass sie damit den Zerfall der Bedarfswirtschaft dokumentieren. Das wiederum könnte die längst fällige Diskussion über die Stärken und Schwächen der Marktwirtschaft anstossen. Die Evolution hat uns den Markt beschert. Vielleicht schenkt sie uns auch noch die Weisheit, mit diesem Geschenk vernünftig umzugehen.
Dieser Text beruht auf dem Buch „Eine Ökonomie der kurzen Wege- von der Marktwirtschaft zur Bedarfswirtschaft[ c ]“ von Fred Frohofer und Werner Vontobel.
©KOF ETH Zürich, 4. Aug. 2021