Der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi schlägt einmal mehr wegen der Renten Alarm. Doch steigende Beiträge und Steuerzuschüsse sind kein Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit. Angesichts wachsender Produktivität vermindern sie lediglich das „Erbe“, das der jungen Generation durch den technischen Fortschritt und den wachsenden Kapitalstock zufällt. Rentendebatten haben Tradition. Als 1889 durch die Bismarck’schen Sozialgesetze die Invaliditäts- und Rentenversicherung eingeführt wurde – mit einem Leistungsumfang von 18 Prozent des Lohns, einem Renteneintrittsalter von 70 Jahren und fern jeglichen Geburtenmangels – wurde behauptet, mehr sei mit Blick auf den internationalen Wettbewerb der Wirtschaft nicht vertretbar.[ 1 ] Und bereits im Wirtschaftswunder-Deutschland der 1960er
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Der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi schlägt einmal mehr wegen der Renten Alarm. Doch steigende Beiträge und Steuerzuschüsse sind kein Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit. Angesichts wachsender Produktivität vermindern sie lediglich das „Erbe“, das der jungen Generation durch den technischen Fortschritt und den wachsenden Kapitalstock zufällt.
Rentendebatten haben Tradition. Als 1889 durch die Bismarck’schen Sozialgesetze die Invaliditäts- und Rentenversicherung eingeführt wurde – mit einem Leistungsumfang von 18 Prozent des Lohns, einem Renteneintrittsalter von 70 Jahren und fern jeglichen Geburtenmangels – wurde behauptet, mehr sei mit Blick auf den internationalen Wettbewerb der Wirtschaft nicht vertretbar.[ 1 ] Und bereits im Wirtschaftswunder-Deutschland der 1960er Jahre wurde der unwürdige Begriff des „Rentnerbergs“ kreiert. Ein neues Glied in der Kette der Rentenexpertisen bilden nun die „Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung“ des Wissenschaftlichen Beirats beim deutschen Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.[ 2 ] Sie haben, wie schon viele zuvor, ein starkes und andauerndes Medienecho erzeugt. Die „Bild“-Zeitung erschien mit dem Aufmacher „Schrecklicher Rentenruin“, die FAZ sprach von einem „Blick in den Abgrund“ und die „Welt“ verkündete: „Deutschlands Renten-Debakel beschert den Ärmsten ein bitteres Schicksal“.[ 3 ]
Die Resonanz kann man als vom Beirat intendiert ansehen. In seiner Presseerklärung[ 4 ] spricht er von „schockartig“ steigenden Finanzierungsproblemen, rentenpolitischen Maßnahmen, die in eine „Sackgasse“ geführt und eine „illusionäre Erwartung geweckt“ haben, und einem bösen Erwachen. Wenn der Beitragssatz unter 22 Prozent und das Sicherungsniveau über 48 Prozent gehalten werden solle, werde das „den Bundeshaushalt sprengen“ und wäre auch mit massiven Steuererhöhungen nicht finanzierbar.
In den kaum noch überschaubaren Gutachten zur Rentenfinanzierung – von der Rürup-[ 5 ] und der Herzog-Kommission[ 6 ] 2003 bis zur aktuellen Stellungnahme des Beirats – wird regelmäßig anerkannt, dass das Produktivitätswachstum ausreicht, um die demographisch bedingte Verschlechterung der Relation zwischen Erwerbstätigen und Rentenempfängerinnen und -empfänger mehr als auszugleichen. Es wird eingeräumt, dass sowohl die Arbeitseinkommen als auch die Renten maßvoll weiter steigen werden, letztere selbst bei einer Absenkung des Sicherungsniveaus.[ 7 ] Mit Blick auf das Produktivitätswachstum, das der Beirat mit 1,2 Prozent p.a. ansetzt,[ 8 ] wäre es demnach möglich, auf Abstriche bei den Renten zu verzichten. Der Anstieg der übrigen Einkommen fiele dann freilich geringer aus. Nimmt man dagegen Rentenkürzungen vor – zu denen auch Verlängerungen der Lebensarbeitszeit gehören – steigen die Einkommen aus Arbeit und Kapital umso deutlicher.[ 9 ] Ein „Rentendebakel“, könnte man meinen, sieht anders aus.
Allerdings würde die Beibehaltung des Niveaus der Alterssicherung steigende Transfers erfordern: in Form höherer Beiträge und/oder höherer staatlicher Zuschüsse. Es geht also nicht um eine womöglich unzulängliche Verteilungsmasse, sondern darum, ob unser Wirtschafts-, Steuer- und Abgabensystem höhere Transfers verkraftet.
Gegen wachsende Transfers wird öffentlichkeitswirksam der Begriff der Generationengerechtigkeit in Stellung gebracht. Trotz jahrzehntelanger Debatten ist er freilich schillernd und umstritten. Es gibt verschiedene Deutungsangebote. Im Einklang mit früheren politischen Festlegungen betrachtet der Beirat ungefähr hälftig zwischen den Aktiven und den Menschen im Ruhestand geteilte finanzielle Nachteile aus dem demographischen Wandel als Ausfluss von Generationengerechtigkeit.[ 10 ] Alternativ bringt er konstant gehaltene Rentenbeiträge als generationengerecht ins Spiel.[ 11 ] Andere fordern, die Rendite auf Einzahlungen in die Rentenversicherung dürfe für die nachwachsende Generation nicht schlechter ausfallen als für die vorangegangene.[ 12 ]
Näher betrachtet stehen diese Vorstellungen auf tönernen Füßen, und es drängt sich die Frage auf, ob sie als Generationengerechtigkeit nicht unter falscher Flagge segeln. Betrachtet man die Entwicklung anhand der Zahlen, die sich aus einem durchschnittlich 1-prozentigen oder etwas höheren jährlichen Anstieg der Produktivität ergeben, und blendet Individuelles genauso aus wie mögliche kollektive Katastrophen, sehen sich die Jüngeren zwar bei der Rente mit einem schlechteren Verhältnis von Einzahlungen und Auszahlungen konfrontiert, beschreiten aber dennoch einen finanziell besser gestellten Lebensweg als die ihnen Vorgegangen. Sowohl in ihrer aktiven Zeit als auch im Ruhestand beziehen sie die höheren Einkommen. Die wachsende Produktivität, die dies ermöglicht, fällt jedoch nicht vom Himmel, und sie rührt auch nicht daraus, dass wir immer fleißiger werden. Der Anstieg beruht einerseits auf der Akkumulation von Wissen und Können, dass sich in Erfindungen ebenso niederschlägt wie in Prozessoptimierungen und Rationalisierungen. Jede Innovation fußt auf vorangegangenen und trägt den Keim weiterer in sich. Zum anderen folgt die steigende Produktivität aus dem wachsenden Kapitalstock. Beide Faktoren sind aber zu großen Teilen ein Erbe der Älteren. Dass der Lebensweg der jüngeren Kohorten von mehr Wohlstand begleitet ist, beruht auf der Tatsache, dass sie auf dem Wissen und Kapital aufbauen können, das ihre Vorgängerinnen und Vorgänger erst erarbeiten mussten.
Natürlich würde die Bilanz der späteren Kohorten noch besser ausgefallen und sie könnten von dem – von Jahr zu Jahr betrachtet kleinen, insgesamt aber erheblichen – Produktivitätswachstum noch mehr profitieren, wenn es das demographische Problem nicht gäbe. Dabei handelt es sich aber nur um Abstriche im Rahmen einer Verbesserung. Man kann folgern, dass die demographische Entwicklung die nachfolgende Generation nicht um etwas bringt, was ihr zusteht, sondern nur das Erbe schmälert, dass ihr zufällt. Ist es „gerecht“, dass eine spätere Generation auf einen Bestand an Wissen und Kapital zurückgreifen kann, den die vorangegangene erst schaffen musste? Eher ist es der Lauf der Welt. Einen Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit darin zu sehen, dass der Gewinn aus dem Wissenszuwachs und den Arbeitsergebnissen der vorangegangenen Generation durch demographische Veränderungen geschmälert wird – eigentlich ist das kein naheliegender Gedanke.
Diese Überlegungen richten sich nicht gegen die Berechtigung der Frage nach Generationengerechtigkeit. Der folgenden Generation ein gestörtes Klima oder geplünderte Rohstoffvorkommen zu hinterlassen oder ihr nicht die bestmögliche Ausbildung zu geben, ist nicht fair. Ein Rentensystem aber, das bei abnehmender Bevölkerung ein schlechteres Verhältnis von Einzahlungen zu Auszahlungen erzeugt, braucht das Verdikt mangelnder Generationengerechtigkeit nicht zu fürchten.
Die „Schmälerung des Erbes“ betrifft im Übrigen nur den Rentenaspekt. Denn eine kleinere nachfolgende Generation führt auch zu einer Vergrößerung der Erbschaften, die im Einzelfall anfallen. Die Position der Menschen, die Rente beziehen, verschlechtert sich, während sich jene der Vermögen Erbenden verbessert. Insofern bedeutet die demographische Entwicklung eine Umverteilung innerhalb der nachfolgenden Generation.
Wie der Beirat erklärt, ist sein aktueller Vorstoß nicht zuletzt durch die Sorge motiviert, dass Veränderungen, die die Jüngeren seiner Ansicht nach begünstigen und die Älteren schlechter stellen, um so mehr an Durchsetzbarkeit verlieren, je mehr sich die Zahlenverhältnisse in der Wählerschaft zugunsten der Älteren verändern. Der Beirat macht sich Gedanken, „warum es so schwer ist, in der breiten Öffentlichkeit Akzeptanz für die Notwendigkeit von Reformen des Rentensystems zu finden“[ 13 ] und wie Rückschnitte bei der Rente besser kommuniziert werden könnten. Es ist jedoch fraglich, ob er wenigstens unter den Jungen eine Mehrheit zu überzeugen vermag. Verschlechterungen bei der gesetzlichen Rente bedeuten, dass die Jungen privat mehr vorsorgen und mehr Geld in eine private Alterssicherung stecken müssen, die angesichts der Verhältnisse auf dem Kapitalmarkt für die Betroffenen schwierige Fragen aufwirft. Bei den Unternehmen dagegen, die entlastet werden, gibt es entsprechende Gegenpositionen nicht. Wenn jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich für Einschnitte bei der Rente erwärmen sollen, müssten sie folglich davon ausgehen, dass eine bessere Ertragslage der Unternehmen ihnen in einem Maße zugutekommt, welches die ihnen entgehenden Arbeitgeberbeiträge zur Rente kompensiert. Das Vertrauen in der Bevölkerung, dass steigende Unternehmensgewinne notwendig zu steigender Beschäftigung und höheren Löhnen führen und „die Flut alle Boote hebt“, ist in den letzten Jahrzehnten aber nicht gerade gewachsen.
Was bleibt ist die Frage, in welchem Maße Gesellschaft und Wirtschaft steigende Transferleistungen verkraften können, und damit die Frage nach der viel beschworenen internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Hinsichtlich höherer Transfers aus Steuermitteln ist der Beirat pessimistisch. So verweist er u.a. auf eine Untersuchung aus dem Jahr 2011, in der die Steigerungsfähigkeit der Einnahmen aus einer Besteuerung von Kapitaleinkünften für Deutschland mit nicht mehr als 2 Prozent angenommen wird.[ 14 ] Welche Steuern und Abgaben realisierbar sind, hängt freilich immer vom Kontext und der Attraktivität der Alternativen ab, die den Zahlungspflichtigen offenstehen.
Die Diskussion um die internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft ist so facettenreich, dass sie hier nicht aufgegriffen werden kann. Immerhin trifft das demographische Problem alle reifen Industriegesellschaften. Und gälte das Argument der internationalen Wettbewerbsfähigkeit uneingeschränkt, würde es immer gelten und nicht nur im Falle demographischer Veränderungen. Dann würde stets die Volkswirtschaft im Vorteil sein, die ihre Alten am knappsten hält. Diese weiterführenden Fragen werden in Klein, „Demokratien im internationalen Standortwettbewerb. Politik für die unteren 90 Prozent[ a ]“ ökonomisch, rechtlich und politisch vertieft. Das Denken in Standortwettbewerben wird hier nicht zuletzt am Beispiel der Alterssicherung exemplifiziert.
©KOF ETH Zürich, 12. Aug. 2021