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Die Rationalität des qualifizierten Losverfahrens

Summary:
Eine qualifizierte Losauswahl ist keineswegs irrational, sondern kann zu einer Rationalität auf einer übergeordneten, institutionellen Ebene führen. Sie erhöht die Wahrscheinlichkeit, ausgezeichnete Kandidierende für wichtige Positionen in Justiz und Politik zu finden und erhöht die demokratische Legitimation. Im November 2021 wird die Schweizer Stimmbevölkerung über die sogenannte Justizinitiative abstimmen. Darin ist ein qualifiziertes (oder fokussiertes) Losverfahren der obersten Richterschaft der Schweiz vorgesehen. „Qualifiziert“ bedeutet, dass die in Frage kommenden Personen zuvor sorgfältig ausgewählt werden und danach aus dieser „shortlist“ das Los gezogen wird. Dieses Verfahren stößt vielfach auf Unverständnis, weil ungewohnt. Aber es hat eine reiche Geschichte, welche

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Bruno S. Frey, Margit Osterloh, Katja Rost considers the following as important:

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Eine qualifizierte Losauswahl ist keineswegs irrational, sondern kann zu einer Rationalität auf einer übergeordneten, institutionellen Ebene führen. Sie erhöht die Wahrscheinlichkeit, ausgezeichnete Kandidierende für wichtige Positionen in Justiz und Politik zu finden und erhöht die demokratische Legitimation.

Im November 2021 wird die Schweizer Stimmbevölkerung über die sogenannte Justizinitiative abstimmen. Darin ist ein qualifiziertes (oder fokussiertes) Losverfahren der obersten Richterschaft der Schweiz vorgesehen. „Qualifiziert“ bedeutet, dass die in Frage kommenden Personen zuvor sorgfältig ausgewählt werden und danach aus dieser „shortlist“ das Los gezogen wird. Dieses Verfahren stößt vielfach auf Unverständnis, weil ungewohnt. Aber es hat eine reiche Geschichte, welche leider in Vergessenheit geraten ist. Wir wollen einen kurzen Überblick über die Anwendung dieses Verfahrens in der Vergangenheit geben und zeigen, dass es nach heutigen Erkenntnissen zu einer Rationalität auf übergeordneter, institutioneller Ebene beiträgt.

Ein Blick in die Geschichte des Auslosens von Positionen

Bis zur französischen Revolution war das Auslosen von wichtigen politischen Positionen weit verbreitet (Buchstein 2009, van Reybrouck 2016). Die Gründe waren vielfältig. Im antiken Athen stand die Demokratie im Vordergrund. Im Mittelalter wurde ein anderer Grund wichtig: Man wollte Korruption und den verlustreichen Streit zwischen den einflussreichen Familien um die wichtigsten Ämter vermeiden. Deshalb wurde der Doge von Venedig in einem mehrstufigen Verfahren mittels Zufallsauswahl der Wahlgremien gewählt. Das hat der Serenissima für mehr als fünfhundert Jahre außerordentlichen Wohlstand und Stabilität gebracht. Auch in zahlreichen anderen oberitalienischen Stadtstaaten – zum Beispiel Florenz, Parma, Bologna, Siena, Lucca – wurde das Losverfahren erfolgreich angewandt, ebenso in Spanien und in Deutschland, etwa in Münster und Frankfurt. Allerdings waren nicht nur Frauen, sondern große Teile der Bevölkerung ausgeschlossen. Das System sorgte jedoch für eine relativ breite Bürgerbeteiligung und gab Minderheiten eine Chance (Osterloh & Frey 2020).

Gründe für das qualifizierten Losverfahren heute

Zu den genannten Gründen – insbesondere der Bekämpfung der Korruption und der Vetternwirtschaft – kommen heute weitere hinzu.

Grössere Chancen auf bestmögliche Besetzung der Position

Bei der Ankündigung qualifizierter Losverfahren bewerben sich mehr leistungsstarke Aussenseiterinnen und Aussenseiter als bei herkömmlichen Prozeduren. In einem Laborexperiment haben sich dreimal so viele leistungsstarke Frauen beworben wie im herkömmlichen kompetitiven Verfahren (Berger, Osterloh & Rost, 2020). Bei einem qualifizierten Losverfahren sind Außenseiterinnen und Aussenseiter mutiger und rechnen sich mehr Erfolgschancen aus. Bei kompetitiven Verfahren fehlt ihnen häufig die Selbstsicherheit derer, die immer schon „dazu gehörten“. Damit kann man erklären, dass in deutschen Großunternehmen etwa 80 Prozent der CEOs aus dem Großbürgertum kommen (Hartmann, 2000). Ehrgeizige, erfolgreiche Frauen oder Mitglieder ethnischer Minderheiten gelten oft als unsympathisch, wenn sie mit ihrem Verhalten von den Identitätsnormen ihrer Herkunftsgruppe abweichen. Diese „Identitätskosten“ (Akerlof & Kranton 2010) werden durch das Los abgeschwächt: Wer das Glück hat, per Zufall ausgewählt zu werden, verstößt weniger gegen die Normen der Herkunfts- wie der Zielgruppe. Die Verliererinnen und Verlierer der Zielgruppe – die bisherigen Eliten – verlieren nicht ihr Gesicht, wenn ein „Emporkömmling“ gewinnt. Umgekehrt fallen weniger Identitätskosten bei den Aufsteigerinnen und Aufsteigern an. Auf diese Weise wird der Pool an hochqualifizierten Personen, die sich für ein Amt bewerben, um ein Vielfaches vergrößert und damit auch die Chance, ein Amt bestmöglich zu besetzen.

Darüber hinaus geben durch das Los Gewählte freiwillig mehr Macht ab und sind bescheidener im Vergleich zu denen, die in einem Wettbewerb gesiegt haben. Hybris wird reduziert (Berger, Osterloh, Rost & Ehrmann, 2020). Durch qualifizierte Zufallsverfahren wird das Verhalten der Amtsinhaber oder der Amtsinhaberin also auch nach der Wahl positiv beeinflusst.

Oft wird eingewendet, durch das Los kämen nicht „die Besten“ zum Zuge. Die absolut Besten lassen sich ohnehin nicht bestimmen. Selbst die klügsten Menschen treffen auf ein und derselben Faktengrundlage höchst unterschiedliche Entscheidungen (Kahneman, Sibony und Sunstein 2021). Hinzu kommt: Es gibt keine klaren Kriterien für den oder die Besten (Liu 2019): Wie gewichten wir die fachliche Leistung im Verhältnis zum Sozialverhalten? Welche Eigenschaften bräuchte es, um zukünftige, heute unbekannte Probleme zu bewältigen? Deshalb ist es vorteilhaft, wenn nicht alle Kandidierenden in allen Dimensionen gleich oder gleich gut sind. Homogenität sollte geradezu vermieden werden. Bei der Losauswahl werden nicht nur sichtbare Merkmale berücksichtigt oder solche, die gerade auf der politischen Agenda stehen, etwa Geschlecht oder Partei. Dafür aber steigt die Chance, dass vorab nicht berücksichtige oder gar nicht bewusste Merkmale wie soziale Herkunft, Migrationshintergrund, sexuelle Orientierung oder körperliche Behinderung angemessen vertreten sind. Deren Talente werden heute kaum genutzt und ihre Interessen oft übersehen.

Erhöhung der demokratischen Legitimation

Mit qualifizierten Losverfahren können verschiedene Formen der demokratischen Repräsentation einbezogen werden. Wahlen ergeben kein statistisch repräsentatives Bild der Bevölkerung (z.B. Milic 2020).  Beispielsweise gehen die unteren sozioökonomischen Schichten deutlich weniger oft zur Wahl als die oberen Schichten. Sie haben demzufolge im politischen Prozess ein geringeres Gewicht. Es handelt sich hier um das Spannungsfeld zwischen statistischer und politischer Repräsentation (Pitkin, 1967; Baron 2014). Repräsentantinnen und Repräsentanten im statistischen Sinne stellen ein Spiegelbild der Bevölkerung dar, welches am leichtesten durch das Los erstellt wird. Solchermaßen bestimmte Personen vertreten nur sich selber und sind keinem Wähler und keiner Wählerin rechenschaftspflichtig (Selbstbeauftragung). Repräsentantinnen und Repräsentanten im politischen Sinne hingegen werden durch demokratische Wahlen bestimmt. Sie sollen die Interessen ihrer Wählerschaft vertreten (Fremdbeauftragung). Die qualifizierte Zufallsauswahl ist zwischen beiden Formen angesiedelt und ermöglicht deshalb einen Ausgleich. Allerdings ist sie mit einem Machtverlust der politischen Repräsentantinnen und Repräsentanten verbunden, was die fast einhellige Ablehnung von Losverfahren durch Politikerinnen und Politiker mit erklären dürfte.

Warum sind Losverfahren in Vergessenheit geraten?

Wenn qualifizierte Losverfahren so viele Vorteile und eine so reiche Vergangenheit haben, warum wurden sie dann ab dem 19. Jahrhundert nur noch selten angewendet?

Eine wichtige Rolle hat sicher die Französische Revolution gespielt. In dieser wurde zwar die erbliche Aristokratie in Frage gestellt, nicht aber die gewählte Aristokratie. Die „Tyrannei der Meritokratie“ (Sandel 2020, Young 1958) hielt Einzug. Der Machtverlust macht den jeweils herrschenden politischen Eliten damals wie heute das Losverfahren suspekt.

Die Legitimation von Eliten, welche nun nicht mehr die Geburt, sondern die Leistung für ihre Macht geltend machten, wurde auch durch die Aufklärung gestärkt. Zufall galt nun als irrational. Stattdessen glaubte man – oder machte das Volk glauben – mittels der Vernunft der meritokratischen Eliten die besten Lösungen für das Gemeinwohl finden zu können. Heute hat die empirische Entscheidungsforschung die systematischen Grenzen der Rationalität aufgezeigt (Kahneman 2012; Kahneman, Sibony & Sunstein 2021), zugleich aber  auch Möglichkeiten, damit besser umzugehen. Qualifizierte Losverfahren gehören dazu. So eingesetzt ist Zufall keineswegs irrational, sondern führt zu einer höheren Form der Rationalität. Die Schweizer Justizinitiative könnte hier eine Pionierrolle einnehmen.

Akerlof, George & Kranton, Rachel E. (2011). Identity Economics. München: Hanser.

Berger, J., Osterloh, M., Rost, K. (2020). Focal random selection closes the gender gap in competitiveness. Science Advances, Vol 6, Issue 47, DOI: 10.1126/sciadv.abb2142[ a ].

Berger, J., Osterloh, M., Rost, K., Ehrmann, T. (2020). How to prevent leadership hubris. Comparing competitive selections, lotteries, and their combination. The Leadership Quarterly, 31(5). 

Buchstein, Hubertus (2009). Demokratie und Lotterie. Frankfurt am Main: Campus.

Hartmann, Michael (2000) Class-specific habitus and the social reproduction of the business elite in Germany and France. Sociological Review 48(2): 241-261.

Kahneman, Daniel (2012) Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler.

Kahneman, Daniel, Sibony, Olivier & Sunstein, Cass R. (2021). Noise. Wie unsere Entscheidungen verzerrt und wie wir sie verbessern können. München: Siedler.

Liu, Chengwei (2019). Glückliche Umstände. Wie der Zufall im Management für brillante Ergebnisse sorgt. Zeitschrift Führung und Organisation (3): 157-161.

Markovits, Daniel (2019). The Meritocracy Trap: Penguin.

Osterloh, Margit & Frey, Bruno S. (2019). Dealing with randomness. Management Revue, 30(4), 331–345.

Pitkin, Hannah F. (1967) The Concept of Representation. Berkeley:  University of California Press.

Sandel. Michael J. (2020). The Tyranny of Merit. What´s Become of the Common Good? New York: Farrar, Straus and Giroux.

Van Reybrouck, David (2016). Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Göttingen: Wallstein Verlag. 

Young, Michael (1958). The Rise of the Meritocracy, 1870-2033: An Essay on Education and Inequality. London: Thames & Hudson.

©KOF ETH Zürich, 1. Nov. 2021

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