Die aktuelle Coronakrise offenbart, wie groß unsere Abhängigkeit von Importen in einigen lebenswichtigen Bereichen ist. Diese Erfahrung könnte dazu führen, dass die Gesellschaft die Herstellung besonders wichtiger Produkte wieder ins eigene Land holen möchte. Die praktische Umsetzung dieses Wunsches ist jedoch keinesfalls trivial. Coronakrise und globale Wertschöpfungsketten Das Coronavirus hat nicht allein medizinisch gesehen ein beträchtliches Ansteckungspotenzial. Auch globale Wertschöpfungsketten werden immer weiter infiziert. Wochenlang standen viele Fabriken in China still und laufen erst langsam wieder an. Die durchschnittliche Transportzeit von Gütern aus China in die EU dauert auf dem Seeweg etwa sechs Wochen, auf dem Landweg über die neue Seidenstraße[ a ] etwa drei(.
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Die aktuelle Coronakrise offenbart, wie groß unsere Abhängigkeit von Importen in einigen lebenswichtigen Bereichen ist. Diese Erfahrung könnte dazu führen, dass die Gesellschaft die Herstellung besonders wichtiger Produkte wieder ins eigene Land holen möchte. Die praktische Umsetzung dieses Wunsches ist jedoch keinesfalls trivial.
Coronakrise und globale Wertschöpfungsketten
Das Coronavirus hat nicht allein medizinisch gesehen ein beträchtliches Ansteckungspotenzial. Auch globale Wertschöpfungsketten werden immer weiter infiziert. Wochenlang standen viele Fabriken in China still und laufen erst langsam wieder an. Die durchschnittliche Transportzeit von Gütern aus China in die EU dauert auf dem Seeweg etwa sechs Wochen, auf dem Landweg über die neue Seidenstraße[ a ] etwa drei(. Mit dieser Verzögerung wurden die Auswirkungen der Produktionsausfälle auch hierzulande spürbar. Nahezu alle Autohersteller haben ihre europäischen Fabriken geschlossen, 80.000 Beschäftigte sind alleine bei Volkswagen in Kurzarbeit. Ein gewichtiger Grund dafür ist – neben dem Schutz der eigenen Mitarbeitenden vor Ansteckung – die immer schwierigere Versorgung der Werke mit Bauteilen. Grenzschließungen und Ausgangssperren zeigen die Zerbrechlichkeit internationaler Lieferketten.
China war im Jahr 2018 die Volkswirtschaft mit der weltweit größten Warenexporten und auch für die EU und Deutschland das wichtigste Lieferland[ b ]. In manchen Branchen ist die Abhängigkeit besonders groß. So stammt nach Angaben von Eurostat in der Luft- und Raumfahrt-, in der Elektro- und Telekommunikations- sowie in der Pharmaindustrie jeweils etwa ein Drittel aller Bauteile aus China[ c ].
Auch nationale Lieferketten stehen unter Druck, wie in den Supermärkten offensichtlich wird. Haltbare Lebensmittel und Hygieneartikel sind Mangelware. Die Logistik kommt der Nachfrage nicht nach. Sind manche Ausfälle noch zu verschmerzen und rare Nudeln durch reichlich vorhandene Kartoffeln substituierbar, sieht es im Medizinsektor dramatisch anders aus. Hier fehlen Schutzkleidung, Atemschutzmasken und Beatmungsgeräte. Viele Regierungen sehen sich daher gezwungen, Exportstopps für derartige Medizinprodukte zu verhängen, um die Versorgung der nationalen Gesundheitssysteme zumindest halbwegs sicherzustellen.
Coronakrise und zukünftige internationale Arbeitsteilung
Im Nachgang der Coronakrise wird vieles in einem neuen Licht betrachtet werden: Wie kann die Versorgung mit essenziellen Gütern sichergestellt werden? Wie können globale Wertschöpfungsketten krisenfester gemacht werden? Oder muss gar über eine Deglobalisierung des Handels nachgedacht werden?
Grundsätzlich bringt die internationale Arbeitsteilung eine Reihe von Vorteilen mit sich. Die Spezialisierung auf Güter, bei deren Produktion ein Land Kostenvorteile hat, fördert das Wirtschaftswachstum und steigert die Einkommen der BürgerInnen. Die grenzüberschreitende Mobilität von Produktionsfaktoren sorgt für eine optimale Faktorallokation und bewirkt somit Produktivitäts- und Wachstumssteigerungen. Der internationale Wettbewerb fördert Innovationen und Produktivität. Schließlich erlaubt die Produktion für einen größeren Markt die Ausnutzung von Größenvorteilen mit entsprechenden Reduzierungen der Stückkosten und damit auch der Marktpreise.
Doch genau diese Spezialisierung führt auch zu Abhängigkeiten, die in Krisenzeiten die gesamte Lieferkette zum Erliegen bringen können. Insofern müssen die Vorteile der Spezialisierung gegen diese Abhängigkeiten aufgewogen werden. Ein Teil der Abwägung kann über den Markt erfolgen, ein anderer Teil ist gesellschaftlich zu beantworten.
In einer Marktwirtschaft versuchen Unternehmen – schon immer und allein aus betriebswirtschaftlichem Kalkül –, die Abhängigkeiten nicht zu groß werden zu lassen. So können sie Engpässe bei bestimmten zuliefernden Unternehmen durch andere Beschaffungsquellen kompensieren und in Preisverhandlungen ihre Verhandlungsmacht erhöhen.
Einen Schub kann die Krise der Digitalisierung verleihen. Homeoffice und digitaler Unterricht wurden mehr oder weniger von heute auf morgen aus dem Boden gestampft. Und genau diese Digitalisierung kann einen Teil des Abhängigkeitsproblems lösen, wenn etwa bestimmte Bauteile per 3D-Druck selbst produziert werden können[ d ]. Die Folge kann eine höhere vertikale Integration von Wertschöpfungsketten sein.
Auch der Klimawandel, höhere CO2-Preise und ein größeres Bewusstsein für Nachhaltigkeit können dazu führen, dass Lieferketten wieder verkürzt werden, um Transportkosten zu sparen. Mögliche Grenzschließungen für Waren- und Wirtschaftsverkehr würden Unternehmen dann weniger verwundbar machen.
Die Rolle von Markt und Staat
In einigen Bereichen beobachten wir bereits heute eine Reaktion des Marktes auf Angebotsknappheiten. Textilherstellende Unternehmen stellen ihre Produktion um und produzieren Schutzausrüstungen, Chemieunternehmen und Spirituosenhersteller verwenden hochprozentigen Alkohol zur Herstellung von Desinfektionsmitteln. Ein Großteil dessen lässt sich durch eine intrinsische Motivation der Unternehmen zur Bewältigung der Krise erklären. Doch können hier durchaus auch Marktkräfte am Werk sein, wenn Unternehmen einen Teil ihrer frei werden Ressourcen entsprechend des sich ändernden Bedarfs einsetzen.
Allerdings ist eine solch rasche Anpassung der Produktion nur in wenigen Fällen zu erwarten. Der Schritt von den Spirituosen zum Desinfektionsmittel scheint kurz. In vielen anderen Bereichen dürfte die Umstellung deutlich zeitintensiver sein. Und Zeit ist in Krisenzeiten der limitierende Faktor. Know-how über Produktionsabläufe muss erlangt, ArbeitnehmerInnen müssen für neue Tätigkeiten geschult sowie neue Maschinen und Werkzeuge beschafft werden. Angesichts der Unsicherheit hinsichtlich die Länge einer Krise und der Nachfrage werden Unternehmen diesen Aufwand scheuen, wenn Kosten und Nutzen der Produktionsumstellung nur schwer abzuschätzen sind.
Daher wird es der Markt allein an vielen Stellen nicht richten können. In manchen Bereichen wird der Staat eine (Mindest-)Bereitstellung von Gütern organisieren müssen. Wie genau, bleibt noch zu diskutieren. Auch im Hinblick auf die Güter, die auf eine entsprechende Liste gehören, werden unterschiedliche Vorstellungen herrschen. Dann besteht die Gefahr, dass Lobbygruppen gerade ihre Güter auf der Liste sehen möchten, für die eine staatliche Organisation gewährleistet wird. Letztlich ist gesellschaftlich zu diskutieren, welche Vor- und Endprodukte essenziell sind.
Wie lässt sich die Abhängigkeit von Importen verringern?
Vermutlich wird ein großer gesellschaftlicher Konsens bei Medizinprodukten und lebenswichtigen Medikamenten zu erzielen sein. Ist das der Fall, muss in einem weiteren Schritt beantwortet werden, mit welchen Instrumenten der Staat steuernd eingreift. In der Coronakrise war eine Ad-hoc-Reaktion vieler Staaten ein Exportbann z. B. von Atemschutzmasken zur Versorgung des heimischen Gesundheitssystems. Doch das kann lang anhaltende Konsequenzen haben und Vertrauen in den Handelsbeziehungen beschädigen. Befürchten ausländische Importunternehmen ein solches Verhalten auch in Zukunft, werden sie selbst ebenso nach Alternativen suchen, sodass – auch ohne Krisenzeiten – weniger Bestellungen aus dem Ausland erfolgen. Die Exportnachfrage sinkt und infolge auch die heimische Produktion. Dadurch werden u. U. Skalenvorteile der Produktion schlechter ausgenutzt, sodass in Summe die Preise für diese Güter auch im Inland steigen. Zudem wird Vertrauen auch in Handelsbeziehungen mit anderen Gütern verspielt, und es kann zu Gegenreaktionen der Handelspartner kommen.
Weiterhin ist offen, warum Unternehmen auch in normalen Zeiten Güter herstellen sollten, die aufgrund von Kostennachteilen am Markt nicht wettbewerbsfähig sind. Der Markt wird es hier vermutlich alleine nicht richten können. Dann ist eine Reihe von staatlichen Maßnahmen denkbar. Der Staat kann selbst in die Produktion einsteigen und die Produkte an den Markt bringen. Oder er kann den Unternehmen eine Subvention zahlen, die dem preislichen Wettbewerbsvorteil der ausländischen Anbieter entspricht. Auf der anderen Seite kann er – bzw. die EU – die betroffenen Produkte mit höheren Importzöllen belegen, um so die einheimischen Anbieter vor günstigen Importen zu schützen.
Doch all das führt zu weiteren Fragen, die sehr schnell in der bereits intensiv geführten Debatte über Industriepolitik[ e ] münden. Zudem sind wettbewerbs- und handelsrechtliche Fragen zu klären, wenn man dem internationalen Wettbewerb Teile der Wertschöpfung entzieht: Sind solche Subventionen an heimische Unternehmen beihilfekonform im Sinne des EU-Rechts? Dürfen die bisherigen Exportländer Gegenzölle auf EU-Waren verhängen?
Aus unserer Sicht könnte ein Instrument sein, dass der Staat garantiert, in Krisenzeiten die besten und innovativsten Produkte am Markt zu einem attraktiven Preis aufzukaufen. Das würde Anreize für Unternehmen schaffen, auch in unsichere Bereiche zu investieren, die allerdings gesellschaftlich einen hohen Stellenwert besitzen. Hier könnte eine Versorgungssicherheit gewährleistet werden, ohne die Vorteile des Wettbewerbs zu sehr aufzugeben.
Fazit und Ausblick
Die Coronakrise wird die internationale Arbeitsteilung verändern. Ein Teil der Wertschöpfung wird wieder in die EU und nach Deutschland zurückkehren. Das kann die Versorgungssicherheit in manchen lebenswichtigen Bereichen – wie dem Medizinsektor – erhöhen. Doch auf der anderen Seite gibt man Vorteile der internationalen Arbeitsteilung auf, was am Ende höhere Preise zur Folge hat. Damit stellt sich eine Reihe von Fragen, z. B.: Wie werden diese höheren Kosten auf die Gesellschaft verteilt? Wie organisiert man eine Produktion, die in normalen Zeiten nicht wettbewerbsfähig ist?
Hier bedarf es flankierender staatlicher Maßnahmen, die die Vorteile des internationalen Wettbewerbs mit denen der Versorgungssicherheit ausbalancieren. Ein Mittel kann es sein, Anreize für Unternehmen zu schaffen, auch in unsichere, aber essenziell notwendige Bereiche zu investieren, und gleichzeitig zu garantieren, dass der Staat diese Güter zu einem attraktiven Preis abnehmen wird. Hierfür bedarf es eines transparenten Verfahrens. Ebenso müssen diese Maßnahmen mit den Handelspartnern besprochen werden, um die Vorteile des Handels nicht generell infrage zu stellen.
Dieser Beitrag ist eine Weiterentwicklung der Überlegungen des Beitrags „Optimale internationale Arbeitsteilung“, der in der April-Ausgabe[ f ] des Wirtschaftsdienstes erschien.
©KOF ETH Zürich, 16. Apr. 2020