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Hartz IV – Wo liegt der Handlungsbedarf?

Summary:
Statt allein auf die Schaffung von Arbeit zu setzen, sollte sich eine Reform von Hartz IV stärker am Nutzen der Arbeit für die Gesellschaft und die Beschäftigten, an der Garantie eines Einkommensminimums und am Ziel einer gleicheren Einkommensverteilung orientieren. Die aktuelle Debatte über Hartz-IV wurde vor allem ausgelöst durch den Versuch der SPD, das Image der Hartz IV-Partei loszuwerden. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht 14 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes nun die Frage entscheiden wird, ob die Hartz IV-Sanktionen und damit ein Kernelement des Systems mit dem Grundgesetz und der darin garantierten Menschenwürde überhaupt vereinbar sind. Dabei hat die niedrige Arbeitslosenquote in der Politik die Diskussion um die Senkung der Arbeitslosigkeit weitgehend

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Statt allein auf die Schaffung von Arbeit zu setzen, sollte sich eine Reform von Hartz IV stärker am Nutzen der Arbeit für die Gesellschaft und die Beschäftigten, an der Garantie eines Einkommensminimums und am Ziel einer gleicheren Einkommensverteilung orientieren.

Die aktuelle Debatte über Hartz-IV wurde vor allem ausgelöst durch den Versuch der SPD, das Image der Hartz IV-Partei loszuwerden. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht 14 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes nun die Frage entscheiden wird, ob die Hartz IV-Sanktionen und damit ein Kernelement des Systems mit dem Grundgesetz und der darin garantierten Menschenwürde überhaupt vereinbar sind. Dabei hat die niedrige Arbeitslosenquote in der Politik die Diskussion um die Senkung der Arbeitslosigkeit weitgehend verschwinden lassen.

Bislang werden vor allem zwei Ziele mit der Grundsicherung verbunden: Das erste ist die Sicherung des Existenzminimums für alle. Das zweite ist die Erhaltung von Leistungsanreizen auch bei Jobs mit niedriger Produktivität.

Bei der Einführung von Hartz IV sollte das zweite Ziel gegenüber dem ersten gestärkt werden. Mangelnde Arbeitsbereitschaft galt als Ursache der damals hohen Arbeitslosigkeit. Vollbeschäftigung sollte deshalb durch Steigerung der Arbeitsanreize erreicht werden. Arbeitslose sollten mehr dazu gedrängt werden, auch Jobs mit niedriger Produktivität, schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen anzunehmen. Dabei musste mit dem von Christian Breuer[ 1 ] zu Recht beschriebenen Problem umgegangen werden: Je weniger Hartz IV-Beziehenden von ihren Hinzuverdiensten aus einer Erwerbsarbeit behalten dürfen (je höher also die Transferentzugsrate ist), desto schwächer ist der finanzielle Anreiz für solche Hinzuverdienste. Ist die Transferentzugsrate niedriger, ist der finanzielle Anreiz stärker. Letzteres würde den Kreis der Personen mit ergänzenden Hartz IV-Leistungen bis weit in die unteren bis mittleren Lohngruppen ausweiten, also die Zahl enorm vergrößern. Im bestehenden System ist aber die Transferentzugsrate hoch und werden fehlende finanzielle Anreize durch behördlichen Druck und durch Drohung mit Sanktionen ersetzt.

Die Debatte über Transferentzugsraten im Niedrigeinkommensbereich und über Anreize zur Aufnahme kleiner und schlecht bezahlter Beschäftigungsverhältnisse folgt einer marginalistischen Herangehensweise, die daraufsetzt, dass Arbeitslose, motiviert durch finanzielle Anreize, sich von unten aus der Bedürftigkeit herausarbeiten – beginnend z.B. mit prekärer Teilzeitarbeit zu niedrigen Löhnen, um sich dann nach und nach in besser bezahlte und attraktivere Jobs hochzuarbeiten. Qualifizierung mit dem Ziel, direkt in gut bezahlte und attraktive Arbeit einzusteigen, wird dabei vernachlässigt.

Christian Breuer bleibt in seinem Text weitgehend in dieser Debatte. Er schlägt vor, finanzielle Anreize im Niedriglohnbereich zu steigern indem niedrige Löhne durch niedrigere Sozialabgaben unterstützt werden. Die Ausweitung der sogenannten Midi-Jobs, die am 1. Juli 2019 in Kraft tritt[ 2 ] , entspricht diesem Vorschlag. Das ist sinnvoll, damit auch kleine Hinzuverdienste sich mehr lohnen. Diese Schwerpunktsetzung bleibt aber wesentlich an dem Ziel orientiert, Hartz IV-Beziehenden Anreize für schlechte Arbeit zu setzen.

Schlechte Grundversicherung führt zu niedrigen Löhnen

Drei wichtige Aspekte fehlen dabei.

Erstens muss das erste oben genannte Ziel, also die Garantie eines nicht zu unterschreitenden Existenzminimums betont werden. Die eigenständige Bedeutung des Existenzminimums folgt aus der Verpflichtung des Staates durch das Grundgesetz auf die Menschenwürde und entspricht grundlegenden moralischen und humanen Prinzipien. Sie ist zugleich für die Wohlfahrt der Gesellschaft insgesamt wichtig. Denn das Schicksal der Ärmsten ist stets der Hintergrund, vor dem Menschen Arbeitsverträge abschließen, aktiv werden, Risiken eingehen oder nicht eingehen. Ein garantiertes Einkommensminimum, das dem gesellschaftlich definierten Existenzminimum mindestens entspricht, gibt allen Menschen mehr Sicherheit und Freiheit für Wagnisse.

Tatsächlich scheint der Regelsatz der Grundsicherung nicht als Existenzminimum berechnet, sondern politisch gesetzt zu sein. So hat die Bundesregierung bei der Ermittlung der Hartz IV-Sätze das dafür verwendete Statistikmodell umfangreich manipuliert, um den Regelsatz niedriger zu halten.[ 3 ]

Wer auf das Lohnabstandsgebot verweist, um die Höhe der Grundsicherung zu senken, übersieht einen kausalen Zusammenhang zwischen der Höhe der Grundsicherung und der Höhe der Löhne. Es spricht viel dafür, dass im Niedriglohnbereich Löhne nicht nur Ausdruck der Produktivität sind, sondern auch durch beträchtliche Marktmacht bestimmt werden. Eine niedrige Grundsicherung schwächt die Verhandlungsposition der Arbeitskräfte, kann damit Marktmacht der Arbeitgeber verstärken und drückt dadurch die Löhne auf den relevanten Arbeitsmärkten. Ein System der Grundsicherung, das höhere Leistungen und weniger Druck enthält, wirkt (ähnlich wie ein Mindestlohn) der Marktmacht von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern entgegen. Das Argument des Lohnabstandsgebotes übersieht also, dass die Löhne selbst von der Höhe der Grundsicherung beeinflusst werden.

Die Senkung der heute bereits knappen Grundsicherungsleistungen darf nicht als Mittel eingesetzt werden, um Arbeitsanreize zu setzen. Sanktionen, mit denen die Jobcenter Menschen bewusst unter das Existenzminimum drücken um den Druck zur Annahme schlechter Arbeit zu erhöhen, sind mit der Garantie des Existenzminimums nicht vereinbar.

Beschäftigungswachstum als Selbstzweck?

Zweitens ist die Schaffung von Erwerbsarbeit nur sinnvoll, wenn sie die Wohlfahrt steigert. Erfolge allein darin zu sehen, die Arbeitslosenquote zu senken ohne auf die Produktivität, die Inhalte und die Qualität der geschaffenen Arbeitsplätze zu schauen, ist unzureichend. Die niedrige Produktivität vieler der unter Hartz IV geschaffenen Jobs kommt in der niedrigen Bezahlung zum Ausdruck. Hinzu kommt, dass die Qualität vieler Arbeitsplätze für die Arbeitenden selbst ebenfalls niedrig ist. Weil die Arbeitsmarktreformen davon ausgingen, dass jede Arbeit besser sei als keine, wurde nichts für gute Arbeitsbedingungen getan. Im Gegenteil: Ziel der Reform war ja gerade, die Ansprüche der Menschen an gute Arbeit zu senken. Entsprechend hat sich ein Feld schlechter Arbeit ausgebreitet, die keine Selbstverwirklichung und keine gesellschaftliche Teilhabe bietet. In der Gig-Ökonomie über digitale Plattformen setzt sich dies zum Teil fort. Würde man dies berücksichtigen, würde sich möglicherweise zeigen, dass das gefeierte deutsche Beschäftigungswunder insgesamt gar keinen Wohlfahrtsgewinn gebracht hat.

Deshalb müssten in einer Reform andere als die von Breuer vorgeschlagenen Maßnahmen Priorität haben: Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Qualifizierung für Arbeitsplätze mit höherer Produktivität und mit großem externen Nutzen, Stärkung von Mitbestimmung und Tarifbindung und die Stärkung der Verhandlungsposition der Arbeitskräfte.

Drittens ist die Frage der gesamtgesellschaftlichen Einkommensverteilung für die Wohlfahrt wichtig. Sie beeinflusst stark Zusammenhalt, Stabilität und Vertrauen in der Gesellschaft als ganzer. In den Jahren 1999 bis 2005 wurde nach Befunden aus SOEP-Daten die Verteilung in Deutschland deutlich ungleicher. Die Armutsrisikoquote als Maß relativer Armut (und damit auch als Maß der Ungleichverteilung) stieg in dieser Zeit von etwa 12 auf etwa 14 Prozent. Seit 2005 ging die Arbeitslosigkeit zurück. Normalerweise ist bei einem Rückgang der Arbeitslosigkeit auch ein Rückgang der Ungleichheit zu erwarten, da Arbeitslose neue Erwerbseinkommen erzielen. Dieser fand aber nicht statt: Seit 2005 ist die Armutsrisikoquote nicht gesunken, sondern lag jahrelang bei etwa 14 bis 15 Prozent eher konstant und stieg zuletzt sogar weiter an. Zugleich ist in der Gruppe der Erwerbstätigen die Armutsrisikoquote deutlich gestiegen – von 6,4 Prozent im Jahr 2000 über 8,1 Prozent im Jahr 2005 auf 9,2 Prozent im Jahr 2014.[ 4 ] Das Beschäftigungswunder schuf zwar für Menschen am unteren Rand der Einkommensverteilung vielfach neue Erwerbsarbeit (mit oft schlechten Arbeitsbedingungen), aber keinen Vorteil in der Einkommenspyramide. Dies lag auch daran, dass das Hartz IV-System bewusst der Schaffung von Arbeit Vorrang vor der Verbesserung der Einkommensverteilung gab. Dieser Nachteil müsste bei einer Reform des Systems korrigiert werden.

Es besteht also tatschlich Reformbedarf bei Hartz IV. Reformen sollten aber anders als bei der Einführung des SGB 2 nicht mehr allein auf die Schaffung von Arbeit setzen, sondern sich stärker am Nutzen der Arbeit für die Gesellschaft und die Beschäftigten, an der Garantie eines Einkommensminimums für alle und am Ziel einer gleicheren Einkommensverteilung orientieren.


©KOF ETH Zürich, 21. Mai. 2019

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