Die Globalisierungen 1.0, 2.0 und 3.0 betrafen vor allem Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung von Gütern verdienten. Nun wird die Globalisierung erstmals den Dienstleistungssektor treffen. Spätestens seit dem letzten World Economic Forum in Davos macht der Begriff «Globalisierung 4.0» langsam die Runde. Nach der Erfindung der «Industrie 4.0» war das wohl nur eine Frage der Zeit. Der Begriff wirft zwei Fragen für internationale Ökonominnen und Ökonomen auf: Unterscheidet sich diese Globalisierung 4.0 wirklich von ihren Vorgängerinnen? Worin bestanden die ersten drei Globalisierungen? Gibt es wirklich einen Unterschied? Die kurze Antwort lautet: Ja. Die bevorstehende Globalisierung wird sich stark von den bisherigen Globalisierungsentwicklungen unterscheiden. Sie
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Die Globalisierungen 1.0, 2.0 und 3.0 betrafen vor allem Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung von Gütern verdienten. Nun wird die Globalisierung erstmals den Dienstleistungssektor treffen.
Spätestens seit dem letzten World Economic Forum in Davos macht der Begriff «Globalisierung 4.0» langsam die Runde. Nach der Erfindung der «Industrie 4.0» war das wohl nur eine Frage der Zeit. Der Begriff wirft zwei Fragen für internationale Ökonominnen und Ökonomen auf:
- Unterscheidet sich diese Globalisierung 4.0 wirklich von ihren Vorgängerinnen?
- Worin bestanden die ersten drei Globalisierungen?
Gibt es wirklich einen Unterschied?
Die kurze Antwort lautet: Ja.
Die bevorstehende Globalisierung wird sich stark von den bisherigen Globalisierungsentwicklungen unterscheiden. Sie passiert unglaublich schnell und auf eine Art und Weise, die kaum vorhersehbar war. Ich bin davon dermassen überzeugt, dass ich ein Buch[ a ] darüber geschrieben habe. Und ich bin davon dermassen überzeugt, dass ich einen TedX Talk[ b ] zum Thema gehalten habe, in dem ich darlege, dass die Globalisierung der Zukunft radikal anders sein wird.
Arbitrage durch Handel und zwischen Fertigungsstandorten
Meine Argumentation: Arbitrage treibt die Globalisierung. Wann immer sich die relativen
Preise zwischen Ländern unterscheiden, können Menschen mit «two-way,
buy-low-sell-high»-Arbitrage Geld verdienen. Geht es um Waren, nennen wir diese
Arbitrage «Handel». Über Jahrhunderte hinweg sorgten technologische Beschränkungen
dafür, dass die Arbitrage meist durch Handel realisiert wurde. Die
Globalisierung wurde durch grenzüberschreitende Warenströme geschaffen. Dies
war die erste Entflechtung – die geografische Trennung von Produktion und
Konsum.
Die Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) ermöglichte ab etwa 1990 eine neue Art der Arbitrage. Neu konnten Fabriken die Grenzen genauso gut überschreiten wie Waren. Die IKT ermöglichte es Unternehmen aus den G7, einzelne Produktionsstufen in nahegelegene Entwicklungsländer zu verlagern, ohne dass der gesamte Produktionsprozess an Ruhe oder Zuverlässigkeit eingebüsst hätte. Enorme Lohnunterschiede machten diese Arbitrage zwischen Fertigungsstandorten profitabel. Das war die zweite Entflechtung – die geografische Trennung von Produktionsstufen.
Diese Form der Globalisierung war besonders disruptiv für Länder mit hochentwickelten Volkswirtschaften, aber rückständigen Sozialhilfesystemen, insbesondere die USA. US-amerikanische Firmen schickten einen grossen Teil ihres unternehmensspezifischen Know-hows zusammen mit Fabrikarbeitsplätzen ins Ausland. Kurz gesagt: Fabrikarbeiter aus G7-Ländern verloren ihr Monopol auf das Beherrschen von G7-Fertigungstechnologien. Dies veränderte die Auswirkungen der Globalisierung. Eine neue Art von Fertigungswettbewerb entstand, in dem «high tech» auf «low wages» trifft. Diese neue Kombination sprengte das Leben und die Gemeinschaft zweier Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern: Von jenen in entwickelten Volkswirtschaften, die darum kämpften, mit «high wages» und «high tech» zu bestehen. Und von jenen in Entwicklungsländern – Ländern, die nicht von Technologietransfers profitierten –, die darum kämpften, mit «low wages» und «low tech» zu bestehen.
Arbitrage im Dienstleistungssektor
Arbeitnehmende im Güterproduktionssektor waren davon am stärksten betroffen, da die zweite Entflechtung hauptsächlich diese Sektoren betraf. Die zukünftige Globalisierung – die dritte Entflechtung – wird meiner Meinung nach viel mehr auf den Dienstleistungssektor ausgerichtet sein.
Die Löhne im Dienstleistungssektor bieten die grössten noch verbleibenden, globalen Arbitragemöglichkeiten. Der übliche Preis für ähnliche Aufgaben kann sich von Land zu Land um den Faktor 10 unterscheiden. Das ist eine verlockende Arbitragemöglichkeit. Aber bisher konnten nur wenige Unternehmen sie nutzen, weil sie technisch zu schwer umsetzbar und darum nicht lohnenswert war. In der Vergangenheit mussten wir uns persönlich treffen, um Services und Dienstleistungen anbieten zu können. Und bis vor Kurzem waren die Kosten für die Überwindung dieser Barriere zu hoch. Aber die digitale Technologie (Digitech) reisst die Barriere für die Lohnarbitrage im Dienstleistungssektor nun nieder.
Digitech erlaubt es Menschen, die in einem Land sitzen, in Büros in einem anderen Land mitzuarbeiten. In «The Globotics Upheaval: Globalisation, Robotics and the Future of Work»[ a ] nenne ich das Telemigration, aber im Grunde genommen ist es lediglich internationale Telearbeit. Einige Dienstleistungsbereiche, wie etwa die Webentwicklung, arbeiten bereits auf diese Weise. Internationale Freelancer-Plattformen wie Upwork.com, fortschrittliche Telekommunikation wie Telepresence und maschinelle Übersetzungen machen diese neue Form der Globalisierung – diese neue Lohnarbitrage – möglich.
Die langfristige Sicht auf die wirtschaftliche Globalisierung, die ich vor etwa einem Jahrzehnt zum ersten Mal beschrieben[ c ] habe, zeigt, dass Telemigration die dritte Entflechtung ist. Die erste Entflechtung betraf den Handel, der im 18. Jahrhundert explodierte, als die Kosten für den Warenumschlag stark sanken. Die zweite Entflechtung erfolgte, als die Technologie eine geografische Trennung in der Fertigung ermöglichte. Mit Digitech erfolgt nun eine weitere geografische Entflechtung, zwischen dem Dienstleister und seinen Dienstleistungen.
Das sind also drei Entflechtungen. Da wir uns aber in der Globalisierung 4.0
befinden, hat sich offenbar eine weitere Globalisierung eingeschlichen. Bloss:
Wo?
Globalisierung 1.0, 2.0 und 3.0 oder neue Welten der Fertigung
Ich behaupte, dass die den Warenhandel betreffende Globalisierung zwei verschiedene Phasen durchlief. 1999 schrieben Philippe Martin und ich einen Artikel mit dem Titel «Two Waves of Globalisation: Superficial Similarities, Fundamental Differences[ d ]». Diese Unterscheidung ist der Schlüssel zur Identifizierung der ersten drei Globalisierungen.
Die Globalisierung 1.0 fand vor dem ersten Weltkrieg statt. Dampf und andere Formen mechanischer Energie reduzierten die Transportkosten und machten es erstmals lohnenswert, weit entfernt hergestellte Güter zu konsumieren. Diese Globalisierung geschah ohne nennenswerte Unterstützung durch Regierungen, weil es keine globale Governance gab – es sei denn, man betrachtet die britische Marine als UNO, die Bank of England als IWF und die britische Freihandelspolitik als WTO. Ebenso wenig gab es eine Innenpolitik, die Gewinne und Verluste einer intensiveren internationalen Arbitrage von Gütern umverteilt hätte.
Die Globalisierung 1.0 hat die wettbewerbsfähigsten Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen einer Nation reich gemacht. Aber sie hat auch die am wenigsten wettbewerbsfähigen Menschen und Unternehmen verarmen lassen. Weil die Globalisierung 1.0 in einem ungeschützten Wirtschaftssystem stattfand (Laissez-faire-Kapitalismus, Imperialismus, verschiedene Formen der Autokratie), nahm sie ein unglückliches Ende. Zwei Weltkriege, die Grosse Depression und der Aufstieg von Kommunismus und Faschismus verursachten den Tod von Hunderten Millionen Menschen.
Das Gesicht des Kapitalismus wurde durch den New Deal in den USA und die Soziale Marktwirtschaft in anderen reichen Volkswirtschaften weichgezeichnet. Auch der Kommunismus wurde nach Stalin und Mao aufgeweicht. Diese Phase kann als Globalisierung 2.0 bezeichnet werden.
Sie begann nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Warenhandel nahm zu, aber diesmal wurden innenpolitische Massnahmen ergriffen, um die «pains and gains» der Globalisierung und Automatisierung zu verteilen. Der Markt war für die Effizienz zuständig, die Regierung für die Gerechtigkeit. Im Zuge der Globalisierung 2.0 wurde eine regelgesteuerte Governance geschaffen, die in internationalen Institutionen verankert war, etwa in der UNO und ihren Sonderorganisationen wie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation oder der Internationalen Arbeitsorganisation, sowie im IWF, der Weltbank und der Welthandelsorganisation.
Die Globalisierung 3.0 kann als zweite Entflechtung oder Neue Globalisierung bezeichnet werden. Arvind Subramanian sprach von der Hyperglobalisierung, Gary Gereffi nannte es die globale Revolution der Wertschöpfungskette und Alan Blinder sprach von Offshoring. Alle diese Beschreibungen haben eine Gemeinsamkeit: Fabriken überschritten die Grenzen und brachten das Know-how der G7-Unternehmen in die Schwellenländer. Das Monopol, das die G7-Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter auf fortschrittliche Fertigungstechnologien hatten, wurde durchbrochen. Es entstand eine neue Welt der Fertigung, in der «high tech» und «low wages» miteinander verschmolzen.
Einmal mehr sprengte die Globalisierung das Leben und die Gemeinschaften von Millionen Werktätigen. Sowohl «high tech»- und «high wages»-Arbeitskräfte als auch «low tech»- und «low wages»-Arbeitskräfte konkurrierten miteinander. Am stärksten betroffen waren die Arbeitnehmer in den güterproduzierenden Sektoren.
Globalisierung 4.0 und Automatisierung erreichen den Dienstleistungssektor
Und so ist die Globalisierung 4.0 meiner Meinung nach die dritte Entflechtung. Sie wird passieren, wenn Digitech die Arbitrage internationaler Lohnunterschiede zulässt, ohne dass Arbeitskräfte umziehen müssen. Die Globalisierungen 1.0, 2.0 und 3.0 betrafen vor allem Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung von Gütern verdienten. Nun wird die Globalisierung erstmals den Dienstleistungssektor treffen. Zum ersten Mal werden Hunderte Millionen Angestellte in den Industrieländern den Herausforderungen und Chancen der Globalisierung ausgesetzt sein.
Sie werden nicht nur durch «low wage»- und «high quality»-Dienstleistungen aus dem Ausland konkurriert. Auch die durch künstliche Intelligenz angetriebene Automatisierung wird viele Arbeitnehmende im Dienstleistungssektor verdrängen. Schliessen sich die durch die Globalisierung 3.0 beeinträchtigten Arbeiterinnen und Arbeiter mit den durch die Globalisierung 4.0 verdrängten Büroangestellten zusammen, könnte das zu einem «Globotics Upheaval» führen. Vielleicht hat diese Umwälzung schon mit der Bewegung der «Gilets jaunes» begonnen.
©KOF ETH Zürich, 16. Jul. 2019