Heute geht es in der Wirtschaftspolitik um die Rückkehr zu einer umwelttauglichen und "artgerechten" Menschenhaltung. Das ist keine Frage der Finanz- oder Geldpolitik, sondern der Raumplanung und des Städtebaus, wie dieser Beitrag argumentiert. Die heutige Ökonomik ist zu einer Zeit gross geworden, als es vor allem darum ging, die Marktwirtschaft durch die konjunkturellen Turbulenzen zu lotsen. Die Frage war: Was können Politik und Gesellschaft für den Markt tun? Seither haben wir sehr viel dafür getan: Wir haben die Arbeitsmärkte flexibilisiert, wir haben die ganze Gesellschaft dem Diktat des Marktes unterworfen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hätte gar gerne eine "marktkonforme Demokratie[ a ]", und die Ökonomen haben vor lauter Ehrfurcht vergessen, dass der Markt
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Heute geht es in der Wirtschaftspolitik um die Rückkehr zu einer umwelttauglichen und "artgerechten" Menschenhaltung. Das ist keine Frage der Finanz- oder Geldpolitik, sondern der Raumplanung und des Städtebaus, wie dieser Beitrag argumentiert.
Die heutige Ökonomik ist zu einer Zeit gross geworden, als es vor allem darum ging, die Marktwirtschaft durch die konjunkturellen Turbulenzen zu lotsen. Die Frage war: Was können Politik und Gesellschaft für den Markt tun? Seither haben wir sehr viel dafür getan: Wir haben die Arbeitsmärkte flexibilisiert, wir haben die ganze Gesellschaft dem Diktat des Marktes unterworfen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hätte gar gerne eine "marktkonforme Demokratie[ a ]", und die Ökonomen haben vor lauter Ehrfurcht vergessen, dass der Markt nur ein kleiner Teil unserer arterhaltenden Bemühungen ist.
Inzwischen schlägt das Pendel zurück. Angesichts der wachsenden Ungleichheit, von zunehmendem Stress, Arbeitslosigkeit, Vereinsamung und Umweltschäden, fragen wir uns nicht mehr, was wir für den Markt tun können, sondern, was der Markt uns angetan hat. Das Problem ist, dass wir eine Alternative zur Marktgesellschaft so lange nicht sehen können, als wir in den Denkmustern der Markt-Ökonomik verhaftet bleiben. Wir brauchen eine anderen archimedischen Punkt.
Zu diesem Zweck müssen wir den Markt auf den Prüfstand der Evolution stellen. Aus dieser Optik wird relativ schnell klar, wohin die Reise gehen muss. Wir müssen uns auf unsere im wahrsten Wortsinn ange-"stammten" evolutionären Trümpfe zurück besinnen und möglichst viele unserer (re-)produktiven Tätigkeiten zurück in die geldlose, aber modernisierte Subsistenzwirtschaft verlagern. Die Wirtschaft muss wieder von den lokalen Bedürfnissen her aufgebaut worden. Der Export, der heute im Zentrum steht, ist dann nur noch das Sahnehäubchen obendrauf.
Wer jetzt Steinzeit schreit, hat nichts begriffen. Erstens sind einige neue Technologien, wie etwa 3-Drucker, Solarenergie, Sharing-Ökonomie usw. für die Subsistenzwirtschaft wie geschaffen. Zweitens kann ein System, das sich an der monetären Nachfrage statt an den Bedürfnissen orientiert, nach evolutionären Kriterien sehr teuer sein. Denken wir nur an Werbung, Transportkosten, Finanzsystem usw.
Doch als grösste Schwachstelle hat sich der Arbeitsmarkt entpuppt. In der Subsistenzwirtschaft wird die Arbeit durch die Bedürfnisse gesteuert. Die Produktions- ist zu gleich Konsumgemeinschaft. Im Markt-Modus kann man, bzw. ist man schon fast gezwungen, auf Vorrat zu arbeiten und damit den anderen die bezahlte Arbeit wegzunehmen. Dieses Problem ist umso akuter, je effizienter die Marktwirtschaft wird. Inzwischen ist die bezahlte Arbeit vom Produktionsfaktor zum knappen Konsumgut geworden, und der Kampf um die Arbeit ist zu einem globalen Unterbietungs- und Standortwettbewerb ausgeartet. Wer Arbeit schafft, ist am Drücker. Wer dringend Arbeit braucht, wird erdrückt.
Schauen wir also, welche Massstäbe die Evolution setzt: 99% aller Menschengenrationen kannten nur die geldlose Subsistenzwirtschaft. Unser grösster evolutionärer Trumpf ist die Fähigkeit in grossen Gruppen von rund 500 zusammen zu leben. Dies verdanken wir unserem Gehirn, wovon etwa zwei Drittel der Bewältigung unserer komplexen sozialen Beziehungen dienen. Wir kennen vier typische Beziehungsmuster[ b ]. Drei davon teilen wir mit anderen Primaten: Gemeinschaft, Hierarchie und Gegenseitigkeit (Auge um Auge, Zahn um Zahn). Zur Modalität der Gegenseitigkeit gehört auch die Neigung, Profiteure selbst dann zu bestrafen, wenn wir nicht selbst geschädigt sind. Experimentelle Ökonomen nennen das "starke Reziprozität". Diese ist nötig, um das Vertrauen innerhalb der Gruppe aufrecht zu erhalten.
Vertrauen wird aber vor allem durch wiederholte soziale Kontakte hergestellt. Diese werden vom Belohnungszentrum unsers Gehirns mit der Ausschüttung von Glückhormonen belohnt. Deshalb werden in der Subsistenzwirtschaft die produktiven und arterhaltenden Tätigkeiten so organisiert, dass sie Spass machen und Vertrauen schaffen. Es gibt keinen Unterschied zwischen der Organisation der Wirtschaft und der Gesellschaft. Aus evolutionärer Sicht war dieses Arrangement sehr erfolgreich. Es erlaubt viel Spezialisierung zwischen Mann und Frau, Jung und Alt und die Herstellung von Vertrauen kostet nicht viel. Ein missbilligender Blick und eine Prise soziale Ächtung genügt.
Die Verselbstständigung der Ökonomie
Vor etwa 10'000 Jahren hat die Evolution eine neue Ära eingeleitet. Sie hat uns befähigt, im Markt-Modus zu denken und mit Geld umzugehen. Das hat die Bildung und Finanzierung von Staaten mit ihren Armeen, Verwaltungsapparaten und Infrastrukturbauten erlaubt. Der grosse Quantensprung geschah aber erst vor rund 200 Jahren als auch die Produktionsfaktoren Arbeit und Boden vermarktet wurden. Der ungarisch-österreichische Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi[ c ] bezeichnet das als "Verselbständigung der Ökonomie".
Dieses evolutionäre Erbe wirkt nach. Heute finden unsere arterhaltenden Bemühungen in drei Sphären statt: In der angestammten Sphäre der primären Solidarität und Gegenseitigkeit oder Subsistenzwirtschaft. In der Sphäre des Marktes und des Geldes und in der Sphäre des Staates bzw. der erweiterten Gegenseitigkeit. Staatliche Leistungen werden typischerweise am Markt eingekauft und nach Bedarf, bzw. auf Gegenseitigkeit konsumiert. Staatliche Institutionen haben zudem die Aufgabe, Trittbrettfahrer zu bestrafen und so das Vertrauen aufrecht zu erhalten.
Gemessen am Zeitbudget, dominiert noch immer die Subsistenzwirtschaft. Heute verbringt der durchschnittliche Deutsche[ d ] ab 10 Jahren pro Tag 3 Stunden und 7 Minuten mit Hausarbeiten inkl. Kinderbetreuung. Dazu kommen etwa 14 Stunden restaurative, die unterhaltende und die geselligen Tätigkeiten, die ebenfalls überwiegend in Haushalt, Familie und Nachbarschaft stattfinden. Auf die bezahlte Arbeit entfallen 2 Stunden und 20 Minuten, wovon gut ein Drittel für kollektiv finanzierte öffentliche und halb-öffentliche Güter geleistet wird. Bleiben also etwa 1,5 Stunden für den reinen Markt.
Ganz anders sieht es aus, wenn man danach fragt, wer den Takt angibt und die Ressourcen beansprucht: Die bezahlte Arbeit, der Arbeitsweg, die Stellensuche dominieren unser Leben. Das gilt insbesondere für den für das Familienleben entscheidenden Lebensabschnitt von 20 bis Ende 40. In der Schweiz sind Eltern mit zwei jungen Kindern heute pro Kopf und Woche 81 Stunden beschäftigt, davon entfallen 26 Stunden auf bezahlte Arbeit, 44.5 Stunden auf Hausarbeit und der Rest auf Mobilitä[ e ]t. Das ist Stress pur. Wenn da noch einer krank wird...
Mobilität über allem
Bezahlte Arbeit geht vor, koste es, was es wolle. Bezahlte Jobs in das Eintrittsticket in die Gesellschaft. Damit nicht allzu viele aussen vor bleiben, gilt es, Menschen "in Arbeit zu bringen", wie auch immer, wo auch immer. Eine der Arbeiten, in die man in dieser Gesellschaft gebracht wird, ist die eines Paketzustellers, der für 5 Euro pro Stunde[ f ] billige Klamotten zustellt, von den 50% wieder retourniert werden. Billige Mobilität ist das Schmieröl dieser Gesellschaft. Deutsche Arbeitnehmer verbringen pro Arbeitstag fast anderthalb Stunden auf dem Weg zur Arbeit. 2,5 Stunden bzw. 180 Kilometer sind nach Gesetz ebenso zumutbar, wie eine vorübergehende getrennte Haushaltsführung: Nach vier Monaten Arbeitslosigkeit ist auch ein Umzug zumutbar. Rechnet man die finanziellen Kosten mit, brauchen gerade die schlecht bezahlten Arbeitnehmer oft 30% oder mehr ihrer Bruttoarbeitszeit allein für die Mobilität. Und mit der beruflichen nimmt auch die private Mobilität zu: Um Freunde und Verwandte zu treffen, muss man erst ins Auto steigen. Die Grosseltern wohnen auch nicht mehr nebenan. Nur noch jeder neunte deutsche Rentner hütet heute Enkel oder hilft bei der jüngeren Generation mit. Die leere Zeit schlagen die Senioren gerne mit ausgedehnten Reisen tot.
Diese Menschenhaltung ist nicht artgerecht. Es ist zu viel Stress im Stall. Das zeigen die tiefe Geburtenraten, der hohe Krankenstand, die zunehmende Vereinsamung und der Zustand der Umwelt. Der durchschnittliche Schweizer verbraucht etwa zehnmal so viele Ressourcen, wie ihm global zustehen. Gut 40% davon werden durch die Mobilität, 30% durch das Wohnen und fast 20% durch die Nahrung beansprucht. Doch was ökologisch nicht geht, ist finanziell ein Klacks. Die Mobilität kostet nur etwa 8% unseres Budgets. Die viel gelobten "Knappheitssignale des Marktes" führen uns auf einen Kollisionskurs mit der Natur. 99,9% aller Spezien sind bereits ausgestorben.
Was tun?
Wie kommen wir zurück zu einer artgerechneten Menschenhandlung? Sicher nicht mit einem Dreh an der Zinsschraube und schon gar nicht mit noch mehr Flexibilisierung, sondern mit Raumpolitik und Städtebau. Ein zumindest ansatzweise schon erprobtes Modell geht so: Man baut Nachbarschaften, in denen rund 500 Menschen wohnen und arbeiten. Jede Nachbarschaft hat eine Landbasis, die etwa 70% der Lebensmittel selbst herstellt. 30 Nachbarschaften bilden ein Quartier, 30 Quartiere eine Stadt.
Vorläufige Berechnungen zeigen[ g ], dass man damit dies erreichen kann: Eine globale Reduktion der zeitlichen Belastung durch Arbeit und vor allem Mobilität um gut 10%. Eine bessere Verteilung der Arbeit auf jung und alt. Senioren werden wieder zu Grosseltern. Es müssen ja nicht die leiblichen Enkel sein. Die Belastungsspitzen können dabei um rund 2 Stunden pro Tag gekappt werden. Die Umweltbelastung durch Mobilität, Wohnen und Ernährung kann ohne Komforteinbusse um mindestens einen Drittel gesenkt werden. Die Gesundheit verbessert sich erheblich. Weil man sich gesünder ernährt. Und vor allem weil sozialer Stress abgebaut wird. Dieser ist heute weit vor Rauchen und Übergewicht der wichtigste gesundheitliche Risikofaktor[ h ].
Zudem ist eine solche Nachbarschaftswirtschaft sehr viel resilienter: Die individuelle Abhängigkeit von einem Marktlohn geht etwa um einen Drittel zurück. 60% der nötigen Arbeit wird innerhalb der Nachbarschaft, 80% innerhalb der Stadt und nur etwa 5% der Arbeitszeit benötigen wir für die Finanzierung der Importe bzw. für die Herstellung der dafür notwendigen Exporte. Mit der Abhängigkeit von der globalen Konjunktur nimmt auch die Erpressbarkeit durch die globalen Finanzmärkte drastisch ab.
©KOF ETH Zürich, 27. Mär. 2018