Die Wirtschaftskraft der "neuen" Bundesländer ist auch 28 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung deutlich schwächer als jene des alten Westens Deutschlands. Dies trifft insbesondere auf die ländlichen Gebiete zu. Dieser Beitrag verweist auf die verschiedenen Formen und die Verbreitung von Wissen, die hierfür eine Erklärung bieten. Warum ist die Wirtschaftskraft der "neuen" Bundesländer auch 28 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch immer deutlich niedriger als die Wirtschaftskraft des alten Westens Deutschlands (BMWi 2018[ a ])? Und warum zeigt sich die Beschäftigungsentwicklung gerade im Vergleich der ländlichen Regionen im Osten besonders schwach (Margarian 2018[ b ])? Diese Fragen habe ich in einer Untersuchung der Auswirkungen des "Strukturwandels in der
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Die Wirtschaftskraft der "neuen" Bundesländer ist auch 28 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung deutlich schwächer als jene des alten Westens Deutschlands. Dies trifft insbesondere auf die ländlichen Gebiete zu. Dieser Beitrag verweist auf die verschiedenen Formen und die Verbreitung von Wissen, die hierfür eine Erklärung bieten.
Warum ist die Wirtschaftskraft der "neuen" Bundesländer auch 28 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch immer deutlich niedriger als die Wirtschaftskraft des alten Westens Deutschlands (BMWi 2018[ a ])? Und warum zeigt sich die Beschäftigungsentwicklung gerade im Vergleich der ländlichen Regionen im Osten besonders schwach (Margarian 2018[ b ])? Diese Fragen habe ich in einer Untersuchung der Auswirkungen des "Strukturwandels in der Wissensökonomie" für die Jahre 2007 bis 2016 ausgehend von drei Grundannahmen untersucht:
- Wettbewerbs- und Produktivitätsvorteile lassen sich im Sinne der sogenannten ressourcenbasierten Perspektive vor allem durch die Existenz von nicht ohne weiteres nachahmbaren, spezifischen produktionsrelevanten Ressourcen erklären (Barney 1991).
- Für die Erklärung persistenter Unterschiede in Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftlicher Entwicklung unter vergleichbaren institutionellen Rahmenbedingungen ist die Verfügbarkeit von Wissensressourcen und spezifischen Fähigkeiten besonders relevant.
- Unterschiedliche Wissensformen verteilen sich unterschiedlich im Raum und sind in unterschiedlichem Ausmaß für die Entwicklung verschiedener Tätigkeiten und Branchen relevant.
Dabei kann man formales, kodifiziertes Wissen von Erfahrungswissen unterscheiden. Kodifiziertes Wissen kann zumindest teilweise in formalen Bildungs- und Ausbildungsprozessen erworben und von seinen Trägern "mitgenommen" und auf verschiedene Situationen übertragen werden. Erfahrungswissen hingegen entsteht im Zuge der wiederholten und ständig verbesserten aktiven, häufig auch gestaltenden Beteiligung an (Produktions-) Prozessen. Dadurch, dass es in spezifischen Unternehmens- und Marktkontexten entsteht, ist seine Validität oft auch auf genau diese Kontexte beschränkt: Die entsprechenden Fähigkeiten komplementieren die vorhandenen Produktionsanlagen und verlieren oft ihren Wert, wenn ihre Träger ihren Arbeitsort wechseln.
Räumliche Verteilung des Wissens
Formales, übertragbares Wissen ist vor allem dann wettbewerbsrelevant, wenn es ein Niveau erreicht, das, zum Beispiel aufgrund begrenzter Bildungsressourcen oder der Selbstselektion entsprechender Wissensträger, nicht überall realisiert werden kann. Wegen der grundsätzlichen Mobilität dieses Wissens und seiner Träger konzentriert es sich dort, wo auch wissensintensive Tätigkeiten und Branchen konzentriert sind. Andersherum siedeln sich auch wissensintensive Unternehmen und Unternehmensteile vor allem dort an, wo der Anteil der Akademikerinnen und Akademiker am Arbeitsmarkt besonders hoch ist: In den dynamischen urbanen Zentren der globalisierten Welt. Insbesondere die Anbieter wissensintensiver Unternehmensdienstleistungen konzentrieren sich dort. Die Mobilität dieser Wissensform, ihrer Träger und der wissensintensiven Unternehmen kann helfen zu erklären, warum Städte der neuen Länder wie Leipzig, die es schaffen, für Hochqualifizierte attraktiv zu werden, im Beobachtungszeitraum eine ähnlich positive Beschäftigungsentwicklung aufweisen wie viele Regionen im Westen (Margarian 2018).
Im Vergleich zum akademischen Wissen ist das Erfahrungswissen der Beschäftigten weniger gut von einem Arbeitsplatz auf einen anderen übertragbar. Viele mittelständische produzierende Unternehmen und ihre Beschäftigten haben sich in oft jahrzehntelanger Entwicklung wertvolles Spezialwissen zu einem bestimmten Marktsegment und seinen Strukturen und Technologien erarbeitet. Markt und Unternehmen sind dabei oft gemeinsamen in einem reflexiven Prozess der gegenseitigen Beeinflussung gewachsen. Ihr Spezialwissen ermöglicht den Unternehmen auch eine flexible Anpassung an nicht disruptive Veränderungen ihres Umfelds. Weil diese Unternehmen nicht die gleichen hohen Einkommen realisieren wie die wissensintensiven Unternehmen in den urbanen Zentren, haben sie ihren Standort oft in der näheren oder weiteren Umgebung der großen Städte, wo die Standort- und Wohnkosten für Betriebe und Beschäftigte gering sind. Die Bedeutung der "Hidden Champions" und ihrer kleineren Verwandten für die „Provinz“ ist in den vergangenen Jahren oft beschrieben worden.[ 1 ]
Immobilität von Erfahrungswissen
So oft ich die Leiter erfolgreicher kleinerer produzierender Unternehmen in ländlichen Lagen die Frage gestellt habe, ob und unter welchen Umständen sie sich eine Standortverlagerung vorstellen könnten, habe ich die Antwort erhalten, das sei nicht denkbar, weil die Beschäftigten die wichtigste Unternehmensressource seien. Andersherum gilt auch für ihre Beschäftigten, dass sie die Entwertung eines Teils ihres Wissens in Kauf nehmen, wenn sie den Arbeitsplatz wechseln. Diese Entwertung erfolgt mit höherer Wahrscheinlichkeit, je größer die Distanz in Marktausrichtung, Managementkultur und Technologie zwischen abgebendem und aufnehmendem Betrieb ist. Diese Distanz wächst oft mit der geographischen Entfernung.
Die resultierende Immobilität des für die ländliche Wirtschaft so zentralen Wissenstyps kann möglicherweise dazu beitragen, die nur sehr langsame ökonomische Annäherung gerade zwischen den ländlichen Regionen in Ost und West zu erklären. In meiner Analyse zeige ich, dass die Branchenstruktur an sich nur einen geringen Anteil an der Erklärung der unterschiedlichen Beschäftigungsentwicklung in verschiedenen Regionen hat (Margarian 2018). Von viel größerer Bedeutung ist die relative Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen einer Branche einer Region im Vergleich zu anderen Unternehmen der Branche. Eine hohe relative Wettbewerbsfähigkeit beruht auf spezifischen (Wissens-) Ressourcen in langfristig gewachsenen Unternehmen und Arbeitsmärkten. Weil produzierende Unternehmen und Beschäftigte der neuen Länder zwar Standardtechnologien, aber kaum das in Jahrzehnten aufgebaute Erfahrungswissen ihrer westlichen Wettbewerber zu den bestehenden technologischen Regimen übernehmen können, greifen sie oft vor allem auf die Strategie der (Lohn-) Kostenminimierung zurück.
Der geringe Entwicklungsbeitrag "einfacher" Dienstleistungen
Meine Analysen bestätigen, dass die wirtschaftliche Entwicklung ländlicher Räume noch immer in hohem Ausmaß von der produzierenden Wirtschaft getragen wird, obwohl die produzierende Wirtschaft selbst insgesamt sinkende Beschäftigungsanteile aufweist. Im Osten Deutschlands liegt der Anteil der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Siedlungsstrukturen aber um über sieben Prozent unter dem entsprechenden Anteil im Westen (Margarian 2018). Wissensintensive Dienstleistungen sind in den urbanen Zentren konzentriert. Die Produktionsprozesse der Anbieter "einfacher" nicht wissensintensiver Dienstleistungen sind nicht an eine hohe Humankapitalausstattung oder spezifische kapitalintensive Produktionsanlagen gebunden und mögliche Neuerungen werden wegen der guten Beobachtbarkeit der Erstellung von Dienstleistungen schnell kopiert. Potentielle Innovationsrenten werden dann durch den Konkurrenzmechanismus eliminiert. Ein hoher Anteil nicht wissensintensiver "einfacher" Dienstleistungen an der Beschäftigung ist gerade für strukturschwache Regionen, in denen keine selbsttragende Dynamik aus Produktion und Nachfrage entsteht, nachteilig.
Digitalisierung als Risiko und Chance
Es gibt angesichts der Diagnose der Pfadabhängigkeit des Aufbaus wachstumsrelevanter Ressourcen kein Patentrezept dafür, wie eine Konvergenz der Wirtschaftsleistung ländlicher Regionen in Ost und West beschleunigt werden könnte. Möglicherweise bietet die digitale Transformation als disruptives Ereignis im Strukturwandel Unternehmen außerhalb eingespielter Produktionsregime besondere Chancen. Dabei ist noch völlig offen, inwiefern die produzierenden Unternehmen selbst gestaltend an der Digitalisierung mitwirken werden. Welchen Teil der Digitalisierungsrenten sie sich werden aneignen können, hängt unter anderem davon ab, in welchem Umfang Prozesse, die heute noch viel Erfahrungswissen voraussetzen, durch konsequente Zerlegung in replizierbare Wissensbausteine codiert und digitalisiert werden können. Übertragen die produzierenden Unternehmen ihr lokal spezifisches Wissen in Programmcodes, deren weitere Entwicklung sie an digitale Dienstleister auslagern, so könnten sie, und mit ihnen viele ländliche Regionen, möglicherweise Wettbewerbsfähigkeit einbüßen. Würden die produzierenden Unternehmen andersherum selbst zu aktiven Gestaltern der Digitalisierung, so stünden sie vor der Herausforderung, sich selber neu zu erfinden. Das würde auch bedeuten, dass die Karten im Kampf um Marktanteile im Zuge der digitalen Transformation teilweise neu gemischt werden. In diesem Fall könnten sich manche neuere Unternehmen an strukturschwachen Standorten mit etwas Glück und viel Geschick unverhofft auf einem guten Startplatz auf der Rennstrecke in die Zukunft wiederfinden. Darin könnte dann auch eine Chance für ökonomische Peripherien in Ost und West liegen.
Barney JB (1991) Firm Resources and Sustained Competitive Advantage. Journal of Management 17(1): 99–120.
BMWi, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2018) Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2018. BMWi Öffentlichkeitsarbeit, Berlin.
Margarian A (2018) Strukturwandel in der Wissensökonomie: Eine Analyse von Branchen-, Lage- und Regionseffekten in Deutschland[ b ]. Thünen Report 60. Johann Heinrich von Thünen-Institut, Braunschweig.
©KOF ETH Zürich, 5. Okt. 2018