Dieser Beitrag stellt die Frage, ob die EZB mit ihrem Anleihekaufprogramm die Schulden der Eurozone zu einem beträchtlichen Teil zum Verschwinden bringen wird. Mit Beschluss vom 18. Juli 2017 hat das Bundesverfassungsgericht die bei ihm anhängigen Verfahren zur Frage der Vereinbarkeit des Staatsanleihekaufprogramms (sog. "Public Sector Purchase Programme" – PSPP) der Europäischen Zentralbank mit dem Grundgesetz ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob sich dieses auch als "Quantitative Lockerung" bezeichnete Vorgehen mit dem Unionsrecht vereinbaren lässt (BVerfG, 2 BvR 859/15[ a ]). Die Vorlage lässt klar erkennen, dass zumindest die Mehrheit des Zweiten Senats des BVerfG die Vereinbarkeit des Programms mit dem Unionsrecht bezweifelt. Dennoch lässt sich
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Dieser Beitrag stellt die Frage, ob die EZB mit ihrem Anleihekaufprogramm die Schulden der Eurozone zu einem beträchtlichen Teil zum Verschwinden bringen wird.
Mit Beschluss vom 18. Juli 2017 hat das Bundesverfassungsgericht die bei ihm anhängigen Verfahren zur Frage der Vereinbarkeit des Staatsanleihekaufprogramms (sog. "Public Sector Purchase Programme" – PSPP) der Europäischen Zentralbank mit dem Grundgesetz ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob sich dieses auch als "Quantitative Lockerung" bezeichnete Vorgehen mit dem Unionsrecht vereinbaren lässt (BVerfG, 2 BvR 859/15[ a ]).
Die Vorlage lässt klar erkennen, dass zumindest die Mehrheit des Zweiten Senats des BVerfG die Vereinbarkeit des Programms mit dem Unionsrecht bezweifelt. Dennoch lässt sich angesichts der wenig stringenten Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, der mindestens offenen unionsrechtlichen Bewertungslage, der bisherigen Rechtsprechung des EuGH und wegen der faktischen und rechtlichen Grenzen richterlicher Macht kaum erwarten, dass der Gerichtshof substanzielle Einwände gegen das Ankaufprogramm formulieren wird.
Dementsprechend soll es im Folgenden auch nicht um die ohnehin viel diskutierten Fragen nach der Unions- oder Verfassungsrechtskonformität des Anleihekaufprogramms gehen.
Vielmehr sei dem nur juristisch vorgebildeten Laien die Frage erlaubt, ob mit dem Anleihekaufprogramm der EZB nicht die Schulden der Staaten der Eurozone zu einem beträchtlichen Teil verschwinden. Hat die EZB (und haben andere Zentralbanken wie die Federal Reserve der USA, die Japanische Zentralbank oder die Bank of England) das Zaubermittel gefunden, um dem lange als unlösbar geltenden Problem der ausufernden staatlichen Verschuldung Einhalt zu gebieten?
Zum faktischen Hintergrund: Die Staaten der Eurozone haben derzeit knapp 10 Billionen (10.000 Milliarden) Euro Staatsschulden angehäuft. Auf Deutschland entfallen davon etwa 2 Billionen Euro. Davon umfasst ist grob gesagt die Staatsverschuldung des öffentlichen Gesamthaushalts einschließlich der Schulden, die seitens der Mitgliedstaaten und ihrer Untergliederungen sowie ihren Extrahaushalten aufgenommen worden sind (in Deutschland: Bund, Ländern, Kommunen und gesetzliche Sozialversicherung in ihren Kernhaushalten sowie ihren Extrahaushalten). Eine kaum vorstellbare Summe hinter der sich strukturelle Probleme verbergen, die vielen als unlösbar gelten und deren Risiken überwältigend erscheinen.
Verschwinden diese Schulden derzeit aber nicht gerade in ebenso wenig vorstellbarem Maße und mit wachsender Geschwindigkeit? Lösen sie sich vielleicht auf wie der Schnee in der warmen Frühlingssonne? Oder besser: verschwinden sie wie das Kaninchen im Zylinder Mario Draghis und der von ihm geleiteten Europäischen Zentralbank? Und ist dies ein Phänomen allein der Eurozone oder läuft nicht längst ein weltweiter Wettbewerb um die schnellstmögliche und unauffälligste Anwendung dieses Zaubertricks der Zentralbanken?
Nach den Feststellungen des BVerfG wird das Ankaufprogramm des Europäischen Systems der Zentralbanken Ende 2017 eine Höhe von etwa 2280 Milliarden Euro erreichen. Von dieser Summe werden etwa 1900 Milliarden Euro auf Anleihen der Mitgliedstaaten der Eurozone entfallen. Der Erwerb der Staatsanleihen erfolgt dabei nach einem Aufteilungsschlüssel, der sich nach dem Anteil der Euroländer am Kapital der EZB richtet. Dementsprechend entfällt das größte Ankaufvolumen auf deutsche Staatsanleihen. Bis Ende 2017 werden über das Anleihekaufprogramm deutsche Schuldtitel in Höhe von etwa 450 Milliarden Euro erworben sein. Die Binnennationalisierung des Ankaufprogramms wird auch dadurch gesichert, das die jeweiligen "nationalen" Notenbanken sich auf den Kauf der Anleihen "ihres" Staates beschränken. Der Ankauf der deutschen Staatsanleihen erfolgt also durch die Deutsche Bundesbank. Nach derzeitigen, aber wandelbaren EZB-Richtlinien sind der Ankauf auf 33% der jeweiligen einzelnen Anleihenemission (ISIN-Limit) und der Gesamtankauf auf 33% der jeweiligen staatlichen Gesamtverschuldung begrenzt.
Ende 2017 werden die EZB und die ihr nachgeordneten Zentralbanken also ein knappes Fünftel der Gesamtverschuldung der Staaten der Eurozone besitzen. Für Deutschland nähert sich die Quote bereits einem Viertel. Für andere Staaten wie die USA, Japan oder Großbritannien ließen sich ähnliche Berechnungen anstellen. Die mit weitem Abstand größten Einzelgläubiger all dieser Staaten sind demnach (über-)staatliche Einrichtungen.
Was bedeutet das für die Staatsverschuldung? Lässt sich erwarten, dass die EZB und die ihr nachgeordneten Zentralbanken die von ihnen erworbenen Schuldtitel wieder veräußern und die Staatsschulden damit wieder privatisieren werden? Jedenfalls in größerem Umfang dürfte das nicht geschehen. Erklärtes Ziel des Ankaufprogramms ist schließlich die Zurverfügungstellung von Kapital und die Bekämpfung deflationärer Tendenzen. Mit der Veräußerung der einmal erworbenen Schuldtitel würde dem Markt aber das zur Verfügung gestellte Zentralbankgeld wieder entzogen und der angestrebte moderate Inflationspfad verlassen. Gleiches gilt für ein Szenario, in dem die Zentralbanken die Wertpapiere bis zu ihrem Laufzeitende halten und die dann fälligen Einnahmen nicht an die Staaten ausschütten, sondern einfach aus ihren Bilanzen strichen. Viel wahrscheinlicher erscheint es deshalb, dass die Zentralbanken ihrerseits auf die Bedienung der Schuldtitel verzichten oder die aus ihnen resultierenden Einnahmen an die Staaten ausschütten. Nur damit ließe sich die mit dem Programm der quantitativen Lockerung einhergehende Erhöhung der Geldmenge verstetigen. Im Übrigen gilt dies erst recht, wenn man den allerdings eher undeutlichen Beteuerungen der EZB Glauben schenkt, nach denen die Geldmengenerhöhung durch das Ankaufprogramm in der Vergangenheit durch gegenläufige Maßnahmen jedenfalls teilweise "sterilisiert" worden sei. Wenn und soweit eine solche "Sterilisierung" tatsächlich stattgefunden hat, dürfte noch weniger Anlass und Anreiz bestehen, die über das Ankaufprogramm zur Verfügung gestellten Geldmengen wieder rückzuführen.
Wird also ein Fünftel der Staatsverschuldung der Mitgliedstaaten der Eurozone, wird ein knappes Viertel der deutschen Staatsverschuldung einfach verschwinden? Müsste dies nicht zu einer oft befürchteten großen und potentiell unkontrollierbaren Inflation führen?
Die Antwort darauf könnte lauten: die Inflation hat bereits stattgefunden und wird weiter stattfinden. Sie findet aber vor allem auf ökonomischen Teilmärkten statt, namentlich auf dem Immobilien- und dem Aktienmarkt. Während sich die Preise für den alltäglichen Bedarf und für den privaten Konsum von Waren und Dienstleistungen eher moderat entwickelt haben, hat sich der Preis der auf den Immobilien- und Aktienmärkten gehandelten Sachwerte in den letzten Jahren unter dem Einfluss der weltweiten Ankaufprogramme der großen Zentralbanken vervielfacht. Diese Inflation kennt aber viele Gewinner. Den auf den entsprechenden Märkten nicht oder zu spät investierten Verlierern scheint die Entwicklung dagegen eher schicksalhaft. Sie wird vergleichsweise ruhig hingenommen. Ähnliches gilt für die mit den Ankaufprogrammen und der parallelen Niedrigzinspolitik erfolgende schleichende Entwertung von Sparguthaben.
Die Zeche für das zauberhafte Verschwinden eines guten Teils der Staatsschulden dürfte so der sog. einfache Mensch zahlen. Darin läge jedenfalls insoweit eine erhebliche soziale Ungerechtigkeit, als Bessergestellte von dem gleichen Vorgang finanziell erheblich profitieren konnten und können. Dies zu korrigieren, müsste dann Aufgabe künftiger staatlicher Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik sein.
©KOF ETH Zürich, 9. Okt. 2017