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Warum die Produktivität nur langsam steigt

Summary:
Das angebliche Rätsel vom stagnierenden Produktivitätsfortschritt mitten in der "vierten industriellen Revolution" beruhe darauf, dass die Ökonomen die Begriffe nicht kennen, mit denen sie hantieren, argumentiert dieser Beitrag. Der Gegensatz ist schon auffällig: Einerseits stehen wir Mitten in einer neuen Welle der Digitalisierung und des industriellen Um- und Aufschwungs. Kassierer werden durch Scanner und Verkaufsautomaten, Juristen durch eine App ersetzt, virtueller Unterricht macht Lehrer zu Randfiguren und morgen werden die Taxifahrer und Chauffeure ihre Jobs an selbstfahrende Autos verlieren. Und alle paar Monate Schlagzeilen lesen müssen, wie diese hier: Droht mit der Digitalisierung jedem zweiten Job das Aus? (Welt vom 11. Jan. 2016) Und solche Geschichten und Prognosen

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Das angebliche Rätsel vom stagnierenden Produktivitätsfortschritt mitten in der "vierten industriellen Revolution" beruhe darauf, dass die Ökonomen die Begriffe nicht kennen, mit denen sie hantieren, argumentiert dieser Beitrag.

Der Gegensatz ist schon auffällig: Einerseits stehen wir Mitten in einer neuen Welle der Digitalisierung und des industriellen Um- und Aufschwungs. Kassierer werden durch Scanner und Verkaufsautomaten, Juristen durch eine App ersetzt, virtueller Unterricht macht Lehrer zu Randfiguren und morgen werden die Taxifahrer und Chauffeure ihre Jobs an selbstfahrende Autos verlieren. Und alle paar Monate Schlagzeilen lesen müssen, wie diese hier: Droht mit der Digitalisierung jedem zweiten Job das Aus? (Welt vom 11. Jan. 2016) Und solche Geschichten und Prognosen lesen und hören wir nun schon seit vielen vielen Jahren.

Seit fast ebenso vielen wundern sich die Ökonomen darüber, dass sich diese technologische Revolution partout nicht in einer entsprechenden Verbesserung der Produktivität niederschlägt. Im Gegenteil: Produktivitätsfortschritt verlangsamt sich immer mehr. In Deutschland etwa waren es in den vergangenen zehn Jahren noch 0,75%, im Jahrzehnt zuvor aber 1,8% pro Jahr, in den USA ist die Produktivität im selben Zeitraum sogar von rund 3 auf 1% und in der Schweiz von 1,6 auf 0,4% zurückgegangen. Bis zu Beginn der 1970er Jahre waren noch jährliche Steigerungsraten von 3 bis 5% an der Tagesordnung. Warum dieser Rückgang? Die einst gängige Erklärung, wonach sich der technologische Fortschritt nur langsam in der Praxis umsetzt, ist inzwischen dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen.

Doch eigentlich ist die Sache ein rein sprachliches Problem: Die Produktivität misst nicht das, was die Ökonomen glauben. Schauen wir genauer hin. Als Produktivität bezeichnen wir den Quotienten aus dem jährlichen BIP eines Landes geteilt durch die geleisteten Arbeitsstunden. Das BIP ist die Summe aller Produkte und Dienstleistungen, gewichtet mit deren Preis und dieser wiederum misst, wie viel der Kunde (der Markt) zu zahlen bereit ist. Das ist der Grund, warum Anlageberater von Milliardären und Schönheitschirurgen eine höhere Produktivität haben haben als Pensionskassenverwalter und Landärzte.

Das Problem ist grundsätzlich: Preise haben zwar den Vorzug, dass sie alle Güter und Dienstleistungen gleichnamig und addierbar machen. Doch damit ist auch ein Informationsverlust verbunden: Indem wir uns auf Geldwerte beschränken, betrachten wir gleichsam nur den rechtlichen Aspekt der Wirtschaft: Wer schuldet wem wie viel? Wir reden nicht über Waren und Dienstleistungen, sondern bloss über die rechtlichen Ansprüche, die auf diese erhoben werden. Für viele Fragestellungen ist der Unterschied unerheblich, aber eben nicht für alle. Deswegen tappen Ökonomen immer wieder in die Falle.

Produktivität = durchschnittliche Zahlungsbereitschaft

Die "Produktivität" misst also nicht so sehr die Umsetzung des technologischen Fortschritts als vielmehr die durchschnittliche Zahlungsbereitschaft der Wirtschaftssubjekte – und die nimmt mit zunehmender Sättigung – sprich mit zunehmender Produktivität ab.

Man braucht einfach nicht mehr so viel Zeug – ausser es ist wirklich sehr billig. Wenn nun – aus Gründen die mit der Güternachfrage nichts zu tun haben – das Arbeitsvolumen möglichst konstant gehalten werden soll, führt das dazu, dass immer mehr Leute Arbeiten nachgehen (müssen), die eigentlich niemand braucht und die entsprechend schlecht bezahlt werden. (bzw. eine tiefe Produktivität aufweisen) So arbeiten etwa in Deutschland 30% der Beschäftigten zu Löhnen von 14.46 Euro Brutto und weniger. Das drückt natürlich die durchschnittliche Produktivität, die zurzeit bei 53 Euro liegt.

Der technologische Fortschritt führt eben nicht nur dazu, dass 100 Arbeitsstunden von Kassiererinnen an der Migroskasse durch 20 Arbeitsstunden von Softwareentwicklern etc. ersetzt werden können. Er bewirkt auch, dass die freigesetzten Arbeitskräfte nicht selten noch weniger produktive Arbeit machen. Etwa als Lagerarbeiter bei Zalando oder als Kurier, der die Zalando-Pakete oft mehrfach zwischen den Kunden und dem Zentrallager hin- und herkarrt. Wäre die entsprechende Arbeit nicht spottbillig (sprich wenig produktiv), gingen wir – wie einst – selber einkaufen. Die Billigarbeiter wiederum können sich medizinische Betreuung nur noch leisten, weil die Krankenhäuser das Pflegepersonal zu Gotteslohn bei karitativen Schwesterschaften anheuern – um nur ein Beispiel zu nennen. Deren Arbeit kann dann zwar hochproduktiv – im Sinne von lebensrettend – sein. Statistisch gesehen fällt sie jedoch unter die Rubrik unproduktiv.

Im European Jobs Monitor von Juli 2017 wird dieser Effekt als Consumption Spillover thematisiert. Danach führt der technologische Fortschritt zu einer zunehmenden Ungleichheit der Einkommen und diese ermöglicht es den oberen Einkommensschichten, Dienstleistungen (Waschen, Bügeln, Restaurants) etc. gegen wenig Geld an die (schlecht bezahlte) Unterschicht zu delegieren. Die Ökonomen Mazzolari und Ragusa (2013) schätzen, dass ein Drittel der zusätzlichen niedrig qualifizierten Beschäftigung seit 1990 auf diesen Comsumption-Spillover-Effekt zurückzuführen ist.

Der technologische Fortschritt schlägt sich somit deshalb nicht in einer entsprechenden Zunahme der gemessenen Produktivität nieder, weil die wegrationalisierte Arbeit (teilweise) durch wenig produktive Arbeit ersetzt wird. Dieser Effekt ist in der Theorie nicht vorgesehen. Da optimiert das "Wirschaftssubjekt" seinen Nutzen dadurch, dass dank dem technologischen Fortschritt eingesparte Zeit teils als zusätzliche Freizeit, oder – falls sich die Gelegenheit ergibt – für Arbeiten nutzt, die einen höheren Nutzen generieren. Robinson und Freitag etwa haben nach der "Erfindung" des Fischernetzes ihre Hütte noch etwas komfortabler ausgebaut.

Doch eine Marktwirtschaft ist keine Robinsoninsel. In einer Marktwirtschaft hat man einen Job, oder man hat keinen. Da kann man seine Arbeitszeit nicht laufend der Produktivität anpassen, und man arbeitet man nicht für seine eigenen Bedürfnisse, sondern für die der andern, bzw. für deren monetäre Nachfrage. Deshalb sind Robinson und Freitag auch nicht Partner, sondern Konkurrenten. Um diese etwas komplexere Realität einzufangen, müsste man von einem erweiterten (menschengerechten) Begriff von Arbeit ausgehen, und den Gesamtzusammenhang ins Auge fassen. Der sieht in etwa so aus.

Der Mensch hat Bedürfnisse. Dafür arbeitet er. Er tut dies entweder – wie fast alle unserer Vorfahren – direkt für die eigenen Bedürfnisse (bzw. die der Familie oder Sippe) oder indirekt für andere, bzw. gegen Geld. Mit diesem kann man dann Arbeit oder Güter von anderen zur Deckung der eigenen Bedürfnisse einfordern. Beide Arbeiten, die direkte und die indirekte beanspruchen Zeit. Mehr als 24 Stunden stehen davon pro Tag nicht zur Verfügung. Die Ökonomie betrachtet nur die indirekte Arbeit, bzw. nur das, was gegen Geld getauscht wird. Damit schaltet sie mindestens die Hälfte unserer produktiven Tätigkeiten aus ihrem Blickfeld aus. (Er sieht nur die zusätzliche indirekte Arbeit, die durch den Spillover-Effekt entstanden ist, die Auswirkungen auf die direkte Arbeit blendet er aus.) Dabei ist gerade die Konkurrenz zwischen der direkten und der indirekten Arbeit ein wesentlicher Faktor, wenn es darum geht, die Auswirkungen von zeitsparenden Technologien einzuschätzen. Mit einem Denkmodell, das nur auf Geldgrössen beruht, kommen wir nicht weiter.

Identitätsstifter Arbeit

Der zweite blinde Fleck unseres ökonomischen Denkmodells ist vielleicht noch gravierender: Die real existierenden "Wirtschaftssubjekte" arbeiten nicht nur, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, sondern auch aus Spass an der Freude und am gemeinsamen tun, und vor allem auch, um ihre Stellung in der Gesellschaft zu festigen. Heute aber ist ein Fulltime-Job oder zumindest irgendein Job, das Eintrittsbillet in die Gesellschaft. Arbeitslosigkeit ist die soziale Höchststrafe. Man braucht den Job nicht (nur) wegen des Geldes, sondern um den sozialen Ausschluss abzuwenden.

Das erklärt, warum Arbeit inzwischen längst nicht mehr – wie in der Theorie vorgesehen – ein knapper Produktionsfaktor ist, sondern wie ein knappes Konsumgut gehandelt wird. Wenn irgendwo eine Schuhfabrik gebaut wird, freut man sich nicht darüber, dass es jetzt endlich wieder Schuhe gibt, sondern man dankt dem Investor für die Jobs, die er geschaffen hat. Und die Multis lassen sich ihre Entscheide für oder gegen einen Standort teuer bezahlen. Sie verkaufen ihre Arbeit dem meistbietenden. Das erklärt, warum inzwischen auch im reichen Deutschland 30% der Beschäftigten für Löhne arbeitet, mit denen man den Lebensunterhalt spätestens nach der Pensionierung nicht bestreiten kann. Der Staat übernimmt (in den meisten Ländern auf Pump) die Differenz zum Existenzminimum und kompensiert damit zumindest teilweise den Nachfrageausfall, den die Unternehmen mit ihren Dumping-Löhnen verursacht haben.

Doch was ist die Alternative? Soll die Politik die steigende Arbeitslosigkeit einfach hinnehmen? Sicher nicht. Aber der bisherige Lösungsansatz: Man zwinge die Arbeitslosen, auch miese Jobs anzunehmen und stocke die Löhne mit Staatsgeld auf das Existenzminimum auf, ist bestenfalls suboptimal. Niedriglöhner sind oft fast so sehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen wie Arbeitslose. Und auch Staaten können sich nicht ewig verschulden oder können es heute schon nur noch, weil Mario Draghi bzw. die EZB für ihre Schulden gerade steht. Das Preis-Nutzen-Verhältnis dieser Politik stimmt längst nicht mehr.

Doch bessere Lösungen findet man nur, wenn man die Analyse erweitert und den Arbeitsmarkt in den sozialen Gesamtzusammenhang stellt. Zu welchen Lösungen das führen wird, ist noch offen. Zumindest die allgemeine Stoßrichtung ist jedoch vorgeben: Wir müssen aufhören, die durch den technologischen Fortschritt eingesparte indirekte (Erwerbs-)Arbeit durch andere Erwerbsarbeit zu ersetzen, die dann notgedrungen schlecht bezahlte Arbeit ist. Stattdessen müssen wir die Gesellschaft so organisieren, dass die Nachfrage nach Freizeit und direkter Arbeit wieder zunimmt. Das wiederum ist unter anderem eine Frage der Sozialsysteme und der Städteplanung. Städte muss so gebaut werden, dass möglichst viele direkte Arbeit möglich wird.

Damit könnte dann auch die (gemessene) Produktivität der indirekten Arbeit endlich wieder so schnell steigen, wie es der technologische Fortschritt zulässt.

Eurofound (2017), Occupational change and wage inequality: European Jobs Monitor 2017, Publications Office of the European Union, Luxembourg.

Mazzolari, F. and Ragusa, G. (2013), ‘Spillovers from high-skill consumption to low-skill labor markets’, Review of Economics and Statistics, Vol. 95, No. 1, pp. 74–86.

©KOF ETH Zürich, 6. Jul. 2017

Werner Vontobel
Ökonom und Wirtschaftsjournalist

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